9punkt - Die Debattenrundschau

Wichtig für gesellschaftliche Klärungen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.05.2014. Timothy Snyder erläutert in der FAZ die merkwürdige Dynamik des Faschismusvorwurfs gegen die Ukraine. Die New York Review of Books informiert über die Todesfälle verhafteter Menschenrechtsaktivisten in China. Meedia beobachtet bang den Schulterschluss von SPD und FAZ. Die OSZE macht sich nach dem Google-Urteil des EuGH Sorgen um die Universalität des Internets. Und der New Yorker sieht mit der Netzneutralität den Amerikanischen Traum begraben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.05.2014 finden Sie hier

Politik

Schwere Vorwürfe erheben Renee Xia and Perry Link im Blog der New York Review of Books gegen die chinesische Regierung, die nicht nur Menschenrechtsaktivisten willkürlich inhaftiert, sondern ihnen auch medizinische Behandlung vorenthält und sie in Haft wissentlich sterben lässt. Der Fall der Aktivistin Cao Shunli, die festgenommen worden war, weil sie in Genf vor den UN hatte reden wollen, und in Haft an einer Leberkankheit starb, ist einer der jüngsten - aber keineswegs der einzige: "Am 19. März dieses Jahres, vier Tage nach Cao Shunlis Tod, starb der tibetanische politische Gefangene Goshul Lobsang im Alter von 43 Jahren in seinem Haus in der Region Gansu an den Folgen von Misshandlungen in der Haft. Er war wegen der angeblichen Organisierung von Protesten im Jahr 2008 zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Es folgten Folter und Entzug medizinischer Behandlung, bis ihn die Behörden aus gesundheitlichen Gründen entließen. Er starb einige Monate später. Zuvor war er nicht mehr fähig zu sprechen, zu essen, zu gehen oder zu trinken." Bitte machen Sie Helmut Schmidt Mitteilung.

Narendra Modi
wird neuer indischer Premier. Das verheißt nichts Gutes, wenn man den Artikel des Doyens der Indien-Berichterstattung, William Dalrymple, im New Statesman von vor drei Tagen liest. Narendra Modi war zur Zeit der bestialischen Ausschreitungen gegen Muslime im Jahr 2002 Ministerpräsident der Region Gujarat. Seitdem spielt er die Ereignisse aufs Zynischste runter. "Modi hat mehrere formelle Ermittlungen der Gerichte ohne Vorladung überstanden, und er hat sich niemals für das Versagen der Regierung beim Schutz der Minderheit entschuldigt oder das leiseste Bedauern gezeigt. Er beantwortet keine Fragen zu den Ausschreitungen. In einem seiner seltenen Kommentare aus dem letzte Jahr sagte er, er bedaure das Leiden der Muslime wie das 'einer Puppe, die von einem Bus überfahren wird'."

Chimamanda Ngozi Adichie prangert in ihrem Roman "Americanah" (hier unsere Leseprobe) den Rassismus in Amerika an. Über die Ereignisse in Nigeria äußert sich im Welt-Interview mit Jan Schapira dagegen erstaunlich ausdruckslos ("Ich bin nicht daran interessiert, darüber zu sprechen. Wir haben schon so viel darüber geredet"). Immerhin begrüßt sie die internationale Aufmerksamkeit, wenn auch mit Einschränkungen: "Oft werden die Ereignisse falsch und ohne ihren Kontext dargestellt: Nigeria erscheint als Taliban-Land, das es nicht ist. Aber die internationale Aufmerksamkeit zwingt die Regierung jetzt zu handeln."
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Europa

In Kiew treffen sich an diesem Wochenende europäische Intellektuelle, um sich mit Euromajdan zu solidarisieren. Carl-Henrik Frederiksson erinnert sich in Eurozine aus diesem Anlass an eine ähnliche Konferenz am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien im Jahr 1990. Der Philosoph Ernest Gellner "warnte damals davor, die Sowjetunion zu provozieren und plädierte für ein Vorgehen, das jede Demütigung der Sowjetunion vermied. Nicht einmal zwei Jahre später wollte das IWM eine Zeitschrift an Juri Afanassjew schicken, der zur Zeit der Konferenz Mitglied des Obersten Sowjet war. Der Brief kam zurück mit dem Vermerk: 'L'institution n'existe pas!'"

"Faschismus beschreibt in der Propaganda Russlands den Feind. Andere Inhalte hat er nicht", beschreibt Timothy Snyder im Gespräch mit Ann-Dorit Boy in der FAZ die eigentümliche Dynamik des Faschismusvorwurfs in der russischen Propaganda: "Die ukrainische Unabhängigkeit wird nun als Faschismus beschrieben, sowohl von Russland als auch von dessen Unterstützern. So ergibt sich die absurde Situation, dass Marine Le Pen die Ukrainer als Faschisten verdammt."
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Internet

Gunnar Vrang, der Beauftrage für Informationsfreiheit der OSZE, kritisiert in einem Kommuniqué das Urteil des EuGH gegen Internetsuchmaschinen: "Diese Entscheidung könnte negative Auswirkungen auf den Zugang zu Information haben und unterschiedliche Codes des Zugangs je nach Weltregion schaffen. Damit würde das Internet fragmentiert und seine Universalität in Frage gestellt."

Zwischen das FAZ-Feuilleton und SPD-Politiker wie Martin Schulz und Sigmar Gabriel passt kein Blatt Papier. Angesichts dieses Schulterschlusses ruft Christian Meier in Meedia dazu auf, "berechtigte Interessen der Gesellschaft gegenüber den Treibern und Innovatoren der digitalen Wirtschaft von Interessen zu unterscheiden, die wiederum andere Unternehmen haben. Beispielsweise Medienunternehmen." Sigmar Gabriels jetzt online stehender Knicks vor Frank Schirrmachers Kampagne gegen Google ("Sternstunde des politisch relevanten Feuilletons") wurde übrigens von Schirrmacher schon bei Horizont (unser Resümee) gönnerhaft retourniert: "Wir sehen, wie wichtig Politik für gesellschaftliche Klärungen sein kann - etwas, was wir ja fast schon vergessen haben."

Die Internetaufsicht des Kreml will Twitter sperren, meldet Benjamin Bidder auf Spon. "Eine "Blockade dieses Dienstes auf dem Territorium unseres Landes wird praktisch unausweichlich", sagte Maxim Ksenow, Chef der Aufsichtsbehörde Roskomnadsor in einem Interview. Twitter zeige zu wenig Willen zur Zusammenarbeit mit den russischen Behörden, etwa bei der Sperrung von Inhalten, die gegen russische Gesetze verstoßen, sagte Ksenow. Neben mangelndem Kooperationswillen ließ er allerdings auch politische Gründe für den Unmut der russischen Behörden durchblicken. Zwischen den Zeilen beschuldigte der Roskomnadsor-Chef Twitter, im Interesse der US-Regierung zu handeln."

Die Entscheidung der amerikanischen Aufsichtsbehörde FCC zur Aufhebung der Netzneutralität (mehr hier) stößt weiter auf erbitterte Kritik. Netzneutralität bedeute gleiche Möglichkeiten für alle, argumentiert beispielsweise Tim Wu im New Yorker und verknüpft sie auf diese Weise eng mit dem amerikanischen Gründungsmythos der Frontier: "The Web"s famous openness to anyone with vision, persistence, and minimal cash recalls the geographic frontiers of earlier America and the technological frontiers of the twentieth century, as in industries like radio and early computing. As such, the mythology of the Internet is not dissimilar to that of America, or any open country-as a place where anyone with passion or foolish optimism might speak his or her piece or open a business and see what happens. No success is guaranteed, but anyone gets to take a shot. That"s what free speech and a free market look like in practice rather than in theory."
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Kulturpolitik

Interessant ist die Todesanzeige für Cornelius Gurlitt in der SZ wegen des Zitats, das die Angehörigen gewählt haben:


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Geschichte

Thomas Schmid liest für die Literarische Welt Ulrich Herberts monumentale "Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert": "Erhellend ist Ulrich Herberts Darstellung nicht zuletzt, weil es dem Autor gelingt, so vorsichtig wie entschieden das periodische Wiederauftauchen der gleichen Fragen und Probleme herauszuarbeiten. Diese deutsche Geschichte ist voll von Korrespondenzen, von Antworten, die um Jahrzehnte verzögert ankommen."
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