9punkt - Die Debattenrundschau

Freifahrtscheine ins Nirgendwo

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.04.2023. Wer sein Selbstbild als Pazifist dadurch pflegen möchte, dass er Zehntausende vor der eigenen Haustür dahinmorden lässt, der diskreditiert damit den ganzen Begriff, sagt der Autor Olaf Kühl in der Welt. Christoph Hein erklärt in der Berliner Zeitung, warum er den Dritten Weltkrieg fürchtet. Der Falter fragt, wohin die SPÖ verschwand, als Wolodomir Selenski im Parlament sprach. Und "Berlin bleibt Berlin", hat die neue Koalition in Berlin laut SZ gedroht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.04.2023 finden Sie hier

Europa

Gewiss, "die Ukraine führt einen gerechten, einen überaus gerechten Krieg", konzediert Christoph Hein in einer Rede, die in der Berliner Zeitung abgedruckt ist. "Doch die immense Unterstützung, die die Nato der Ukraine zukommen lässt, ängstigt viele, denn in den letzten Monaten ging die Nato sukzessive immer weiter auf die ukrainischen Forderungen nach Kriegsgerät und Munition ein. Auch meine Sorge ist, dass dieser von der Nato unterstützte Verteidigungskrieg den Dritten Weltkrieg auslöst. Verschiedene ukrainische Politiker sprechen so, als hätten sie eine Carte blanche der Nato in der Tasche, wenn sie etwa eine Flugverbotszone über ihrem Land einfordern, was ein direkter Eingriff des westlichen Militärbündnisses wäre."

Im Interview mit der Welt spricht der Slawist, Autor und Übersetzer Olaf Kühl, dessen Buch "Z. Kurze Geschichte Russlands, von seinem Ende her gesehen" gerade erschienen ist, über die "russische Seele", den Krieg gegen die Ukraine und Deutschlands Haltung dazu: Wir neigen "zu einem anmaßend bequemen Appeasement, das über kleinere Nationen bestimmen will und nicht bereit ist, sich mit der Dynamik in Russland auseinanderzusetzen", meint Kühl. "Deutschland fehlt der Mut, sich Veränderung vorzustellen. Was als Wunsch nach Stabilität und Sicherheit daherkommt, ist am Ende vielleicht doch das alte deutsche Kuschen vor einem Über-Ich, der Wunsch nach einem starken Führer. 'Sieg' bedeutet in diesem Zusammenhang die Hoffnung, dass sich in dem angeblich ewig unerschütterlichen Land doch etwas bewegen könnte. Genauso wie der Sieg über Deutschland am Ende eine Änderung auch gegen den Wunsch und Willen der Deutschen ermöglicht hat. Deutschland hat sich nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und zwangsweisen 'Ent-Täuschung' vom eigenen Nazi-Wahn in der Rolle des brav Geläuterten eingerichtet, der stets nur der friedvolle Gute sein will. Wer jedoch sein Selbstbild als 'Pazifist' dadurch pflegen möchte, dass er Zehntausende vor der eigenen Haustür dahinmorden lässt, der diskreditiert damit den ganzen Begriff."

Inspiration für den Umgang mit Russland findet ebenfalls in der Welt der Helmut-Schmidt-Biograf Thomas Karlauf in Schmidts Buch "Verteidigung oder Vergeltung" aus dem Jahr 1961. Man müsse wie Schmidt "weiterhin auf Rationalität setzen und auch die Kriegsursachen analysieren, will man für eine souveräne Ukraine einen einigermaßen stabilen Zustand erreichen. Als der Westen Ende der 1990er-Jahre begann, Staaten aus dem ehemaligen Machtbereich der Sowjetunion in seine Organisationen und Bündnisse aufzunehmen, konnte von einem globalen strategischen Gleichgewicht bereits nicht mehr die Rede sein, die Amerikaner hatten die Russen fast totgerüstet. 2002 kündigten die USA den ABM-Vertrag, 2019 stiegen sie aus dem INF-Vertrag aus. Helmut Schmidt hat diesen Prozess von Anfang an mit großer Skepsis begleitet und davor gewarnt, Russlands Sorgen nicht ernst zu nehmen. Aber so wenig die Genossen seinerzeit beim Doppelbeschluss dem 'Raketenkanzler' folgen wollten, so wenig behagen ihnen heute die Ansichten eines 'Russland-Verstehers'."

In der FR resümiert Michael Hesse die Rede, die der Historiker Timothy Snyder vor knapp drei Wochen in der UN hielt. Er antwortete dabei auch auf Putins Vorwurf, er sei "russophob": "Sein Fazit: Russophob sei nicht der Westen, der ja nur auf die russischen Kriegsverbrechen eine Reaktion zeige. Russophob sei vor allem der Kreml, der das eigene Land in den Abgrund reiße, so Snyder. Dieser Kreml ist nicht allein aus Sicht von Snyder eine Gruppe von Kleptokraten, die das russische Volk berauben. Obwohl Putin einen Genozid an dem ukrainischen Volk plane, versuche er, sich und Russland als Opfer hinzustellen. Er erinnerte daran, dass die kreativsten und produktivsten Russen zur Auswanderung gezwungen würden, schon 750.000 Menschen hätten das Land nach Kriegsausbruch verlassen. 'Dies ist ein nicht wiedergutzumachender Schaden für die russische Kultur, und es ist das Ergebnis der russischen Politik', so Snyder."

Außerdem: Zeit online dokumentiert den letzten Artikel des amerikanischen Reporters Evan Gershkovich vom Wall Street Journal, der in Russland wegen angeblicher Spionage verhaftet wurde (mehr dazu hier): Er beschreibt die Auswirkungen der Sanktionen gegen Russland.

Die Inseratenaffäre in Österreich weitet sich aus, berichtet Stephan Löwenstein auf der Medienseite der FAZ. Besonders das Finanzministerium unter Sebastian Kurz erwies sich als großzügig bei wohlgesonnenen Zeitungen: "2015 gab das Finanzministerium demnach rund 135.000 Euro aus, 2016 schon 1,8 Millionen (das Dreizehnfache!), 2018 7,2 Millionen, 2020 8,9 Millionen Euro." Die Zeitungen gaben dann auch schon mal vorteilhafte Umfragen in Auftrag, so Löwenstein. Die SPÖ ist besonders in Wien aber auch kein Waisenknabe: "Die 'rote' Stadt Wien gibt für Inserate et cetera mehr aus als alle anderen Bundesländer zusammen und auch mehr als die Bundesministerien."

Überhaupt Österreich! Letzte Woche hielt Wolodimir Selenski eine Rede im österreichischen Parlament. Und "zahlreiche Abgeordnete verließen entweder ostentativ den Saal oder kamen erst gar nicht", notiert Florian Klenk im Falter: "Dass die FPÖ die Veranstaltung, die unmittelbar vor der Plenarsitzung stattfand, boykottieren würde, war vor vorne herein klar. Die Freiheitlichen und Wladimir Putin: will man noch mehr wissen? Aber dass mehr als die Hälfte der SPÖ-Abgeordneten fehlen würden, habe ich als schamlos, stillos und skandalös empfunden."

Hans Hütt arbeitet sich für die SZ-Leser durch die grauenvolle Prosa des Koalitionsvertrages von Berliner SPD und CDU. Soviel aufgeblasene Rhetorik für nichts war selten: "Abgrundtiefen Zweifel weckt natürlich das Versprechen: 'Unser Ziel ist dabei klar: Berlin bleibt Berlin.' In solcher Prosa wird ein bedrückender Sachverhalt zum Ziel verklärt. Kaum je wurde Beharrungsvermögen prosaischer gewürdigt. 'Aber wir wollen Dinge zum Besseren verändern': Dinge? Was für Dinge? Jeden Tag solle Berlin ein Stück besser funktionieren. Wie wiegen sie das Stück? Wie messen sie es? Was sind die Vergleichsmaßstäbe? In allen Politikbereichen (eine Ortsangabe ohne Zustelladresse) seien 'massive Anstrengungen' erforderlich, um Berlin frühestmöglich in ein klimaneutrales Zeitalter zu führen. Die Zeitangabe des 'frühestmöglich' verweigert sich entschlossen der Prüfbarkeit. Weder wird klar, was früh, noch was sich nicht als möglich herausstellen könnte. So druckt man Freifahrtscheine ins Nirgendwo." Respekt ringt Peter Richter nur Franziska Giffey ab, wenn sie tatsächlich das Bauressort übernimmt.

Welt-Autor Thomas Schmid denkt nochmal übe die von der Ampel beschlossene Wahlrechtsreform nach, die bekanntlich durch den Wegfall der "Grundmandatsklausel" zwei Opfer hat: die Linkspartei und die CSU, die von den bisherigen Verhältnissen bevorzugt wurden. Darüber wurde aber fast die wichtigste Veränderung übersehen, so Schmid: Es ist praktisch unmöglich geworden, über ein Direktmandat ins Parlament einzuziehen: "Immerhin gab es bislang zumindest die Chance, dass ein Kandidat in den Bundestag gelangt, allein weil er ein markantes Profil hat, weil er in seiner Region als Person und Stimme zählt. So blieb wenigstens ein Rest der Idee am Leben, Politik komme von unten und es zähle nicht nur die nationale Ebene, sondern ebenso die Region, meinetwegen auch die Heimat. Man kann jetzt von einer schleichenden Entwurzelung der Demokratie sprechen." Noch mehr als zuvor, fürchtet Schmid, wird Politik somit eine Sache der Apparatschiks.
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Geschichte

Die Revolution von 1848 wurde niedergeschlagen. "Zum Dank errichteten die Untertanen ausgerechnet ihnen, den Niederknüpplern der Revolution, Denkmal um Denkmal", schreibt Jochen Bittner in der Zeit. Es folgten Wilhelminismus, Erster Weltkrieg und Hitler. "Das Stadtschloss, von dem aus am 18. März 1848 der preußische König - er wollte zwischen sich und Gott kein Blatt Verfassung kommen lassen - ein Gemetzel an den Berliner Barrikadenkämpfern befahl, es ist mit großem Aufwand wiederhergestellt. Ein Mahnmal an die 270 Opfer, die diese Erhebung gegen die Despotie das Leben kostete, sucht man in seinem Hof vergebens."
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Stichwörter: 1848

Politik

Aus dem Kongo kommen eindringlich warnende Stimmen, ein neuer Völkermord gegen Tutsi droht. Vor knapp dreißig Jahren wurden in Ruanda in hundert Tagen rund eine Million Tutsi abgeschlachtet. Nun droht eine Entfesselung der Gewalt in jenen Grenzgebieten, in denen sowohl Tutsi als auch geflüchtete ehemalige Völkmörder leben, berichtet Simone Schlindwein in der taz, die versucht, die sehr komplizierte Lage im Kongo zu erhellen. "Aus Sicht des belgischen Menschenrechtsanwalts Bernard Maingain, der Tutsi-Gewaltopfer vertritt, sind radikale Akteure in Kongos Staatsorganen direkt verantwortlich. Er nennt Beispiele von Polizeikommissaren, die öffentlich zu Massentötungen an Tutsi aufriefen und anschließend befördert wurden. Gegen diese hat er Klage eingereicht. 'Bis heute gibt es keine offizielle Stellungnahme der Regierung dazu', sagt er und warnt: 'Das Risiko nicht nur eines langfristigen Genozids, sondern einer sehr kurzfristigen Explosion von Gewalt ist sehr, sehr hoch.' Wenn Kongos Justiz seine Klagen nicht aufnehme, werde er sich an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wenden." Die gesamte Bevölkerung im Osten Kongos ist seit dem Völkermord von 1994 "in einem Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, Unsicherheit und Angst gefangen", warnt Dominic Johnson in einem Kommentar.

Wie wird sich die Deutsch-Israelische Gesellschaft, die in Deutschland für das demokratische Israel wirbt, gegenüber der neuen Koalition in Israel verhalten, fragt Joshua Schultheis in der Jüdischen Allgemeinen den Präsidenten der Gesellschaft, Volker Beck. Seine Antwort: "Wir mischen uns ja grundsätzlich nicht in israelische Innenpolitik ein, sondern erklären sie. Wir treten auch jetzt nicht als Schlaumeier auf. Aber die große Mehrheit in der DIG ist der Auffassung: Wenn der jüdische und demokratische Staat in Gefahr ist, auch durch Gefahren aus dem Inneren, dann müssen wir klar seine Existenz verteidigen."
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