Efeu - Die Kulturrundschau

Unterboden der Spaßgesellschaft

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05.04.2023. Die SZ feiert Tarik Salehs Thriller "Die Kairo-Verschwörung" über den Tod eines Großimams, während der Regisseur ebenda betont: Sein Film sei keine Kritik am Islam, er wolle auf keinen Fall ein zweiter Salman Rushdie werden. Noch nie wurde der Holocaust so für Textzwecke missbraucht wie bei Max Czollek, ärgert sich der ukrainisch-jüdische Lyriker Yevgeniy Breyger in der lyrikkritik. In der FAZ erzählt Konstantin Akinsha, wie die russische Zensur jeden Funken postkolonialer Kritik aus einer Ausstellung in St. Petersburg tilgt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.04.2023 finden Sie hier

Film

Von Umberto Eco bis le Carré: "Die Kairo-Verschwörung"

In "Die Kairo-Verschwörung" des schwedischen Regisseurs Tarik Saleh wächst sich der Tod eines Großimams zu einem Thriller im Stil von John le Carré aus. SZ-Kritikerin Sonja Zekri sieht in dem Film auch "eine Feier der Schönheit des Islams", trotz vieler ästhetische Zugeständnisse ans westliche Unterhaltungskino. "Marktgängig" wirkt der Film dennoch nicht auf sie, denn es gibt "ein paar Spezifika, die den Film auf angenehme Weise absetzen" als da sind die großzügig verteilten al-Sisi-Bilder in den Büros oder der spitze Humor, der sich in den "frommen Floskeln" äußere, "die in der islamischen Welt noch jede Schweinerei kaschieren sollen. ... Eine Freude für Kenner ist zudem der heitere Zynismus, mit dem Saleh das komplizierte Verhältnis der Azhar-Universität zum Staat durchspielt." Im SZ-Gespräch spricht der Regisseur teils auch über seine Skrupel, diesen Stoff anzufassen, bei dem man flugs zum "nächsten Salman Rushdie" werden könne. Deshalb ist es ihm auch "wichtig zu sagen, dass mein Film keine Kritik am Islam übt, sondern einfach ein spannender Thriller ist, für den Religion den Hintergrund bildet, nach dem Vorbild von Umberto Ecos 'Der Name der Rose'."

Außerdem: "Til Schweiger schraubt am Unterboden der Spaßgesellschaft", stöhnt ein genervter Andreas Scheiner in der NZZ über den neuen Manta-Film des 59-Jährigen und stellt außerdem fest: Wenn eine deutsche Komödie zum Hit werden soll, dann braucht es darin Angebote fürs Publikum, um andere hämisch auslachen zu können. Für die Welt spricht Elmar Krekler mit Iris Berben über das Sterben - aus Anlass ihres neuen Films, Till Endemanns Verfilmung von Susann Pasztors Sterbe-Roman "Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster".

Besprochen werden Ben Afflecks "Air - der große Wurf" über den Siegeszug des Nike-Klassikers Air Jordan in den Achtzigern (Tsp, Standard), Sophie Linnenbaums "The Ordinaries" (Welt), die bei der Berlinale ausgezeichnte und jetzt auf Disney+ gezeigte Miniserie "The Good Mothers" über den Terror der 'Ndrangheta (Tsp) und die BluRay-Ausgabe von André Farwagis "Leidenschaftliche Blümchen" aus dem Jahr 1978 mit Nastassja Kinski (critic.de).
Archiv: Film

Kunst

Der ukrainisch-amerikanische Kunsthistoriker Konstantin Akinsha erzählt in der FAZ, wie in der Ausstellung "Bilder des militärischen Lebens in der nationalen Kunst des 16. bis 20. Jahrhunderts" im Staatlichen Russischen Museum in Sankt Petersburg jeder Ansatz postkolonialer Kritik durch die russische Zensur getilgt wird: "Alle Kolonialkriege des Russischen Reiches werden von den Schlachtenmalern selbstgefällig in die Liste der Siege aufgenommen. Dem endlosen Kaukasuskrieg (1817-1864) und der langen Eroberung Zentralasiens (1853-1895) wurden besondere Ausstellungsabschnitte gewidmet. Die Gemälde werden als bloße Episoden in der Geschichte eines 'großen Landes' dargestellt und sind nicht mit Beschriftungen oder Wandtexten versehen, die die dargestellten Ereignisse aus kritischer Sicht erläutern würden. Die Kuratoren der Ausstellung erfüllten damit die Anforderungen der zeitgenössischen russischen Zensur - die Geschichte dürfe nicht umgeschrieben (oder gar interpretiert) werden. Aufgrund eines solchen Ansatzes werden der Krieg mit den Tscherkessen und die Eroberung von Samarkand mit dem sowjetischen Sieg über Nazideutschland gleichgesetzt."

Fünfzig Ausstellungen sind europaweit zu Picassos 50. Todestag zu sehen, alle feiern den Meister, dabei ist er doch irgendwie "aus der Zeit gefallen", meint Hanno Rauterberg in der Zeit - auch moralisch: "Er wollte nicht zwischen Werk und Leben trennen; alle, die ihm nun Misogynie vorwerfen, wollen es ebenso wenig. Und sie wollen ihm ebenso wenig seine Begeisterung für Masken aus Afrika durchgehen lassen ... diese Art von Universalismus, von essenzialistischem Denken, will heute kaum noch jemandem gefallen." Aber seine Lust auf Zukunft könnte auch heute noch begeistern, hofft Rauterberg.

Außerdem: Im Tagesspiegel porträtiert Aleksandra Lebedowicz die Berliner Wandmalerin Inka Gierden, deren Arbeiten aktuell in der Ausstellung "Vier Elemente. Handwerk & Design aus Paris und Berlin" im Berliner Kunstgewerbemuseum zu sehen sind. Was bedeutet KI für das Wesen der "echten Fotografie", fragt Robert Mueller-Stahl in der Berliner Zeitung. "Begrüßenswert", aber zu "halbherzig" findet Hubertus Butin in der FAZ die neue Strategie der Sammlung Bührle, (Unsere Resümees) die Provenienz von Raubkunst und "Fluchtgut" zu klären: "Die Stiftung hat mittlerweile zugegeben, dass sich in der Sammlung noch fünf Gemälde von Courbet, Monet, Gauguin, van Gogh und Toulouse-Lautrec befinden, die als Fluchtgut klassifiziert worden sind. Trotzdem hält die Stiftung die Bilder für unproblematisch und lehnt Rückgaben ab."
 
Besprochen werdend die die Ausstellung "Verdammte Lust - Kirche. Körper. Kunst" im Diözesanmuseum Freising (Originell, meint Manuel Brug in der Welt, auch wenn er die 73 Millionen Euro, die die Katholische Kirche hier für christliche Kunst aus 1700 Jahren ausgegeben hat, eher denn Missbrauchsopfern gegönnt hätte), die Lap-See-Lam-Ausstellung "Tales of the Altersea" im Frankfurter Portikus (taz), die privat initiierte Ausstellung "Franz West privat. Gebrauchsanleitung im Aktionismusgeschmack" in der Wiener Galerie Mauroner (Standard) und die Ausstellung "Mehr Licht. Die Befreiung der Natur" im Museum Kunstpalast Düsseldorf (NZZ).
Archiv: Kunst

Architektur

Quelle: MVRDV

Als "Willkommenszeichen in der weltweiten Migrationskrise" will das vom Rotterdamer Architekturbüro MVRDV geplante Projekt "H-O-M-E" verstanden werden: Kleine Hochhäuser auf ehemaligen Kasernenflächen im Osten Mannheims, die die vier Buchstaben nachstellen, berichtet Gerhard Matzig in der SZ. Dumm nur, dass es Probleme mit dem M-Grundstück gibt, so könnte aus HOME schnell HOE werden, so Matzig, der das ganze Projekt ziemlich unsinnig findet: "Die Baustelle in Mannheim ist ein denkwürdiger Beitrag zur 'Architecture parlante'. Gemeint ist eine sprechende Architektur, wie sie die französische Revolutionsbautheorie einst im 18. Jahrhundert forderte: in Form von Architekturen, die etwas (nicht unbedingt buchstäblich) zu erzählen haben. Vor allem durch ihre 'bildmächtige Erscheinung'. In Mannheim soll eine derartige Bildmacht erzielt werden mit Hilfe von den auch noch signalhaft farbigen Buchstaben. Das blaue 'O' sieht beispielsweise aus, als hätte sich der Feng-Shui-Berater durchgesetzt."

In Heilbronn plant das Büro MVRDV derweil den "Innovation Park Artificial Intelligence", der zu einem "zu einem globalen Wahrzeichen für die Entwicklung 'ethisch verantwortungsbewusster' künstlicher Intelligenz werden soll, schreibt Lizzie Crook, die sich auf Dezeen die Entwürfe angeschaut hat: "Der Vorschlag von MVRDV zeichnet sich durch seinen kreisförmigen Plan aus, der leicht erkennbar sein soll und eine Mischung aus Arbeitsplätzen, Laboren und einem Zentrum für Start-ups beinhalten wird. (…) Die meisten Gebäude im Quartier werden rechteckige Formen, modulare Strukturen und eine Höhe von 27 Metern haben, um eine schnelle Fertigstellung zu gewährleisten."
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Literatur

Gregor Dotzauer kratzt sich im Tagesspiegel verwundert am Kopf darüber, wie Max Czollek im Onlineportal Faust vor kurzem unter dem Schlagwort "verschlossenes Land" den Lyrikbetrieb zerlegte, dessen Jurys sich der Diversifizierung und migrantischer Minderheitenpositionen versperren würden. Dieser Groll hat aber womöglich auch damit zu tun, schreibt Dotzauer, dass Czollek kürzlich beim literarischen März keinen Preis gewonnen hatte. Auf Social Media hagelte es entsprechende Reaktionen: "Es dauerte ein paar Tage, bis ein gesundes Selbstbewusstsein zurückkehrte, und Czolleks Polemik in ihrer maßlosen Selbstgerechtigkeit, poetologischen Blässe und historischen Ahnungslosigkeit erkannt wurde." Etwa von Ulrike Draesner, "eine der attackierten Jurorinnen, mit einer kühlen Auflistung ihrer Grundsätze: 'Wokeness doesn't trump aesthetics.' Und Hendrik Jackson, der Betreiber von lyrikkritik.de, beklagte ergänzend die 'Verengung auf inhaltliche Aspekte' und eine Minderheiten-Idolatrie, hinter der 'die Vorstellung vom edlen Wilden' mitschwinge."

Auf lyrikkritik.de äußerte sich auch der ukrainisch-jüdische Lyriker Yevgeniy Breyger, der Czolleks Kritik zwar in manchen Punkten teilen kann, sich aber als Dichter und Jude von dessen Gedichten beim literarischen März "beleidigt" fühlte. Sie "handelten von Golem und Jericho und vermittelten vom Wissensgehalt den Eindruck, der Autor hätte einmal eine kostenlose Kneiptentour in Prag zu Rabbi Löw mitgemacht und dort dies und das aufgeschnappt. Selbst diese Informationen waren (was der Jury nicht negativ auffiel) fehlerhaft. Wie die Jury aber bemerkte, strotzten die Gedichte vor Rechtschreibfehlern. Sicherlich, eine deutsche Hochkulturhaltung, könnte man sagen - wenn ich allerdings Gedichte zum Holocaust schriebe, würde ich verdammt noch mal den Respekt davor haben, nachzusehen, wie die Wörter richtig geschrieben sind und die nötige Feinheit und Aufmerksamkeit gegenüber dem Gesagten aufbringen. (...) Noch nie in meinem Leben habe ich den Holocaust als dermaßen für Textzwecke missbraucht empfunden wie hier."

Außerdem: Ulrich Seidler blickt für die Berliner Zeitung auf Benjamin von Stuckrad-Barres so kryptische, wie Aufsehen erregende Instagram-Kampagne im Vorfeld seines neuen, mutmaßlich im Springer-Milieu spielenden Romans "Noch wach?". Besprochen werden unter anderem A. L. Kennedys "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" (taz, Standard), Karl Alfred Loesers "Requiem" (NZZ), François Rivières und Philippe Wurms Comicbiografie über den Comiczeichner Edgar P. Jacobs (Tsp), Noemi Schneiders und Golden Cosmos' Bilderbuch "Ludwig und das Nashorn" (FR), neue Hörbücher (SZ), Sabrina Janeschs "Sibir" (SZ) und Sarah Winmans "Lichte Tage" (FAZ).
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Musik

FAZ-Kritiker Clemens Haustein erlebte mit Vladimir Jurowski und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin "eine denkwürdige Aufführung" von Haydns "Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze", die flankiert wurden von Auftragsarbeiten von Komponisten aus Russland, der Ukraine und Iran, die mit dem eigentlichen Stück korrespondieren sollten. "Wie Exkursionen schließen sich die neuen Werke unmittelbar an die 'sieben Sonaten mit einer Einleitung und am Schluss ein Erdbeben' an - so der Untertitel zu Haydns Werk. Oleksandr Shchetynsky aus der Ukraine schrieb mit seinem 'Agnus Dei' (das wie Haydns Stücke wortlos bleibt) ein Werk, das Verwirrung und hoffnungsvolle Helligkeit miteinander verbindet. Wie auf verzweifelten Irrwegen wandern die Orchesterstimmen scheinbar orientierungslos umher und werden im Klang doch heller und heller, je stärker die Holzbläser in den Vordergrund treten - bis hin zu einem Kirchenfensterleuchten, wie man es aus der Musik Olivier Messiaens kennt. Und doch schlägt bald die Pauke ein, hart und brutal, als sei es Gewehrfeuer."

Außerdem: Michael Hanfeld liefert auf FAZ.net Zahlen dazu, wie es dazu kommt, dass die GEMA in diesem Jahr erstmals über eine Milliarde Euro ausschütten wird. Besprochen werden das neue Kreisky-Album "Was ist das für eine Welt" (Jungle World) und Daddy Long Legs' Album "Street Sermons" (FR).
Archiv: Musik