9punkt - Die Debattenrundschau

Im Stadion standen Stalin-Doubles

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.04.2023. Es ist unrealistisch, einen Zaun um Europa ziehen zu wollen, sagt der Journalist Howard W. French, Autor des Buchs "Afrika und die Entstehung der modernen Welt", im Gespräch mit der NZZ. Correctiv berichtet, wie es sich die "German-Russian Young Leaders" richtig gut gehen ließen und dabei Förderung von Porsche und McKinsey bekamen, nur damit Gazprom noch besser in Deutschland dasteht. In der FAZ erklärt der Social-Media-Experte Marcus Bösch, warum Tiktok noch viel besser für Desinformation geeignet ist als Twitter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.04.2023 finden Sie hier

Politik

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Europa

Eine Reportergruppe von correctiv.org recherchiert zu den "German-Russian Young Leaders" einem Netzwerk junger Manager und Wirtschaftsleute, das Kontakte zwischen dem deutschen und dem russischen Wirtschaftsnachwuchs herstellen sollte und das von Firmen von Porsche bis Gazprom üppigst gesponsort wurde. Unter anderem liest man, dass McKinsey Dutzende Mitarbeiter einsetzte und 50 Millionen Euro bekam, "um Events, Gespräche und Publikationen für Gazprom zu organisieren, um russisches Gas 'für die deutsche Industrie unverzichtbar' zu machen". Eine junge Managerin erinnert sich an die lustigen Feste, die das Netzwerk feierte: "Die Juristin wird die Ereignisse in Sotschi ihr Leben lang nicht vergessen. Im Olympiapark seien weiße Kaninchen herumgehoppelt. An ihrem opulenten Kaffeetisch seien Magier vorbeigekommen. Franziska trug, wie alle an diesem Tag eine bayerische Tracht, so wie es in der Einladung stand. Im Stadion selbst, erinnert sie sich, standen Stalin-Doubles, um sich mit den Teilnehmenden in Lederhosen und Dirndl fotografieren zu lassen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich entschlossen, seiner ehemaligen Chefin Angela Merkel das "Großkreuz in besonderer Ausfertigung" zu verleihen. Eine unangemessene Ehrung, findet Thomas Schmid in der Welt: "Skandalös wird das Ganze, wenn wir uns dem Bereich nähern, in dem der Ordensverleiher und die Ordensempfängerin bis zum Ende an einem Strang zogen: der russlandpolitischen Diplomatie. Beide waren sich in der Überzeugung passgenau einig, es sei von geradezu sakralem Wert, den 'Gesprächsfaden' zu Putin nicht abreißen zu lassen."
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Geschichte

Konnte der Westen nur durch die Ausbeutung Afrikas und den Sklavenhandel reich werden? Samuel Misteli unterhält sich für die NZZ mit dem New-York-Times-Journalisten Howard W. French, der in seinem Buch "Afrika und die Entstehung der modernen Welt" genau diese These vertritt. Heute könne Afrika jedoch nicht mehr ignoriert werden, warnt er. "Mitte dieses Jahrhunderts werden rund 40 Prozent der unter 21-Jährigen weltweit in Afrika leben - also fast die Hälfte der globalen Jugend. Ich glaube deshalb nicht, dass der Kontinent so leicht übersehen werden kann. Viele Europäer haben Angst, überflutet zu werden wegen demografischer Entwicklungen im Rest der Welt, besonders in Afrika. Ich glaube, diese Angst ist unbegründet. Afrikaner sind Menschen wie alle anderen - dies zu sagen, ist historisch gesehen ungewohnt. Wenn Afrikaner dieselben Chancen erhalten wie Europäer, werden sie sich genauso positiv entwickeln. Es ist unrealistisch, einen Zaun um Europa ziehen zu wollen. Kurzfristig besteht das Risiko extremistischer Reaktionen. Aber längerfristig werden Europäer begreifen, dass sie diese Ängste überwinden müssen, weil sie wegen des Geburtenrückgangs zu wenige Arbeitskräfte haben."

Ebenfalls in der NZZ porträtiert Ulrich M. Schmid den amerikanischen Historiker Timothy Snyder, dessen Engagement für die Ukraine er bewundert, dessen historische Analogien (der Putinismus ist er der neue Faschismus oder Putin plant wie Hitler einen Völkermord in der Ukraine) er aber nicht plausibel findet: "Putin wiederholt mit seinem Krieg nicht Stalins und Hitlers Verbrechen in der Ukraine. Er spielt vielmehr mit Versatzstücken aus der Geschichte und setzt sie zu einer monströsen Ideologie zusammen, die sich in absurden Widersprüchen verstrickt: Wir wollen unbedingt Frieden, darum führen wir Krieg. Wir kämpfen gegen den Westen und bombardieren deshalb ukrainische Städte. Die Ukrainer sind unsere Brüder, darum töten wir sie. Diese Wahnsinnslogik trägt die exklusiven Erkennungszeichen der Diktatur Putins."
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Medien

Im Bundeswirtschaftsministerium liegt zwar eine Studie vor, die eine Zustellförderung für darbende Zeitungen befürwortet. Aber die kommt noch aus der vorigen Legislaturperiode, und heute erklärt sich das Ministerium als nicht zuständig, muss Helmut Hartung in der FAZ konstatierten: "Damit liegt der Ball anscheinend bei Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien. Doch auch aus ihrem Haus gibt es keine Aktivitäten, die Presse zu unterstützen."

Unerwartete Hilfestellung könnten die bedrängten deutschen Zeitungsverleger von amerikanischen Gründervätern bekommen. Steven Waldman erzählt bei Politico, dass James Madison und Thomas Jefferson  für eine portofreie Zustellung von Zeitungen waren - zugegeben, damals war es noch etwas schwieriger, an Informationen zu kommen. Aber "es ist bemerkenswert, dass selbst die Stimmen, die sich gegen Madison und Jefferson wandten (und sich letztlich durchsetzten), eine massive Subventionierung forderten. In der Tat spielte die Postbeihilfe eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung unserer freien Presse. In Anbetracht des plötzlichen Interesses an einer öffentlichen Politik zur Unterstützung von Gemeindemedien - Gesetzesentwürfe zur Förderung lokaler Nachrichten tauchen sowohl im Kongress als auch in den bundesstaatlichen Gesetzgebungen des ganzen Landes auf - lohnt es sich, die bedeutenden staatlichen Eingriffe in Zeitungen, die in der Gründerzeit begannen und bis Mitte des 20. Jahrhunderts dauerten." Dann wäre nur noch die Frage, ob deutsche Zeitungen ihre Förderung mit lokalen Blogs teilen würden.
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Internet

Marcus Bösch forscht über soziale Netzwerke. Im Gespräch mit Anna Vollmer von der FAZ erklärt er, warum Tiktok für Desinformationskampagnen noch besser geeignet ist als etwa Twitter: Bei Twitter muss man sich noch aktiv mit Gleichgesinnten vernetzen. Bei Tiktok werden Videos per Zufallsprinzip ausgespielt und gehen viral, sofern es genug Interaktion gibt. "Den Mechanismus kann man sich wie folgt vorstellen: Mein erstes Video wird an zehn mir komplett fremde Nutzer ausgespielt. Anhand deren Reaktion wird entschieden. Oh, niemand hat sich das Video angeguckt. Oder: Oh, zehn Leute sind begeistert, kommentieren, teilen das Video oder laden es sogar herunter. Dann wird es direkt an rund hundert Leute ausgespielt, dann an tausend, an zehntausend. Das heißt, mit meinem ersten Video kann ich viral gehen. Für eine Desinformationskampagne lassen sich nun ad hoc eine ganze Reihe von Accounts anlegen, von denen dann vielleicht einer viral geht. Das ist natürlich weniger aufwendig, als mit Bot-Accounts ein Netzwerk aufzubauen."
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Kulturpolitik

Andreas Kilb schreibt für die FAZ ein kleines Porträt des kommenden Berliner Kultursenators Joe Chialo, der einst bei den Grünen austrat, weil sie sich über den Kosovo-Einsatz zerstritten hatten, und nun für die CDU im Rennen ist. Seine Meriten im Feld der Kultur hat er als Labelmanager in der Musikindustrie erworben: "Vielleicht liegt das Besondere an Chialos Berufung nicht darin, dass er der erste schwarze Berliner Kultursenator ist, sondern in der Tatsache, dass er als erster zuvor mit Kultur sein Geld verdient hat. Hinter der 'freien Szene', die der Berliner Senat jedes Jahr mit vielen Millionen Euro subventioniert, steht ja die ganz freie, die auf eigenes Risiko arbeitet. Die Frage ist, wie sich diese Freiheitserfahrung in politisches Handeln umsetzen lässt." (Chialo ist nicht der erste Berliner Kultursenator, der mit Kultur sein Geld verdient hat, das tat auch Tim Renner, der 2014-16 Staatssekretär für Kultur war.)
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