9punkt - Die Debattenrundschau

Fortschreitende Polarisierung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2023. Putin könnte Belarus in seinen Krieg mit einbeziehen, allerdings darf er da nicht mit der Sympathie der Bevölkerung rechnen, sagt der ehemalige belarussische Diplomat Andrei Sannikow in der NZZ.  In Benin wird jetzt mit staatlicher Förderung die Voodoo-Religion wiederbelebt, berichtet die taz. Die Kirche braucht Hilfe vom Staat, um ihre Opfer zu entschädigen, sagt Gutachter Ulrich Wastl in der SZ. In der Berliner Zeitung antwortet Ahmad Mansour mit Engelsgeduld auf Behzad Karim Khani. In der Zeit erklärt Natan Sznaider, wie er nach der Mbembe-Moses-Documenta-Debatte aus der Illusion erwachte, es gebe hier für Antisemitismus keinen Raum.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.01.2023 finden Sie hier

Europa

Im NZZ-Gespräch mit Andreas Schreiner warnt der ehemalige belarussische Diplomat Andrei Sannikow, der 2010 als Präsidentschaftskandidat gegen Lukaschenko antrat und in der Folge inhaftiert und gefoltert wurde, vor einer "nächsten Phase des Kriegs". Russland und das Lukaschenko-Regime bereiten seit langem einen Angriff auf Europa vor, vorerst diene Putin "das weißrussisches Territorium zur Ausbildung der Kriminellen, die aus russischen Gefängnissen entlassen und dann Soldaten genannt werden." Aber: "Die überwältigende Mehrheit der Menschen ist gegen Lukaschenkos Regime. Es gibt, anders als in Russland, bei der Bevölkerung keinerlei Unterstützung für den Krieg. Lukaschenko traut auch der Armee nicht. Die Armeeführung, sie schaut zum Kreml. Sie weiß: Der 'master' sitzt dort. Und Lukaschenko muss fürchten, dass die Waffen, die er den Leuten gibt, gegen ihn gerichtet werden."

Verhandle mit einem solchen Partner. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärt, dass Amerika mit Hilfe von EU-Ländern durch seinen Stellvertreter Ukraine die "Endlösung der Russlandfrage" betreibe.

Leicht ramponiert begeht die deutsch-französische Freundschaft den sechzigsten Jahrestag ihres Vertrags. FAZ-Korrepondentin Michaela Wiegel nimmt das gerade einsetzende neuerliche französische Streikritual wegen der Rentenreform mit Sorge zur Kenntnis: "Das Ausmaß der öffentlichen Empörung steht in keinem Verhältnis zu dem jetzt vorgelegten, vorsichtigen Reformentwurf, der eine schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre bis 2030 vorsieht. Die Streiks und Protestdemonstrationen an diesem Donnerstag sind Ausdruck einer verstörenden französischen Realitätsflucht."

Außerdem: Die taz übersetzt Cinzia Sciutos Micromega-Artikel über Sizilien nach der Festnahme des Mafiabosses Matteo Messina Denaro (unser Resümee). In der FAZ antwortet nun auch noch der Völkerrechtler Matthias Goldmann ablehnend auf die Forderung Reinhard Merkels, die Ukraine möge sich aus moralischen Erwägungen dem Aggressor fügen.
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Kulturmarkt

Hans-Georg Maaßen hat seine Mitarbeit beim Verlag C. H.Beck gekündigt und kam somit einer Kündigung durch den Verlag zuvor (Unsere Resümees), meldet die NZZ mit ela. "In der Mitteilung des Verlags heißt es, man habe den Verlagsvertrag mit Maaßen beenden wollen. Daraufhin habe Maaßen am Dienstag diesen selbst gekündigt. Weiter schreibt der Verlag, er wolle sich nicht in die Auseinandersetzungen der Tagespolitik verstricken lassen, dies gebiete die Neutralität. Zwar sei die Kommentierung von Maaßen zum Grundgesetz fachlich nicht zu beanstanden. Doch habe Maaßen durch seine öffentlichen Äußerungen zu einer fortschreitenden Polarisierung beigetragen."
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Politik

Bolsonaro und seine Patrioten gingen geschickter vor als Trump und seine Anhänger, betont der amerikanische Historiker James N. Green in der Welt. Zum einen hatten sie die Sympathie der Sicherheitskräfte, zum anderen verließ Bolsonaro früh genug das Land. "Der brasilianischen Bewegung gelang der Aufbau einer Armee radikalisierter Gefolgsleute, die überzeugt sind, dass sie eine von ihren Anführern als existenzielle Bedrohung dargestellte Situation nur mit Gewalt bekämpfen können." Bolsonaro erwies sich nicht nur als "gelehrsamer Schüler" Trumps, sondern auch als Anhänger "faschistischer und nazistischer Ideologien", sekundieren die Rechtswissenschaftlerin Paula Macedo Weiß und der Musikologe Jean Goldenbaum in einer sehr ähnlichen Analyse in der FR: "Das historische Ereignis beweist nun endgültig, dass Bolsonaro die Wahlen verloren hat, doch der bolsonaristische Nazifaschismus lebt weiter."
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Religion

Korrigiert um 9.44 Uhr. Im Staat Benin (ehemals Dahomey und nicht zu verwechseln mit dem ehemaligen Königreich von Benin, siehe Kommentar unten) wird die Voodoo-Religion von der Politik bewusst gefördert, auch um Touristen anzuziehen, berichtet Katrin Gänsler in der taz: "Christian Houetchenou, der Bürgermeister der Stadt, von der aus einst Sklav*innen nach Amerika verschifft wurden, lobt, dass die Regierung von Patrice Talon Ouidah zum Zentrum der indigenen Religion machen will. Jean-Michel Ambimbola, der Minister für Tourismus, Kultur und Kunst, setzt noch eins drauf: Benin müsse wie Mekka zum Pilgerziel werden, nur eben für Anhänger*innen und Neugierige der Voodooreligion. Das Interesse daran sei schon jetzt bei Filmemacher*innen, Kunstschaffenden wie Wissenschaftler*innen immens. Um noch mehr Interessierte anzulocken, lässt die Regierung ein Museum bauen und plant ein großes Voodoofestival." Im Gespräch beteuert der Muslim Radji Saïbou, der sich für den "Interreligiösen Dialog" einsetzt, das der Respekt der Religionen füreinander groß sei.

"So zerlegt sich die Kirche selbst", sagt Ulrich Wastl von der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), die das Gutachten zu Kindesmissbrauch für die Erzdiözese München und Freising verantwortet (Unser Resümee), im großen SZ-Gespräch mit Bernd Kastner und Annette Zoch. Die Stellungnahme von Benedikt XVI. sei ein "Beratungsdesaster" gewesen, Erzbischof Georg Gänswein habe Druck auf die Auftraggeberin des Gutachtens ausgeübt, sagt er und fordert: "Die Kirche braucht die Hilfe vom Staat". "Was wäre gewesen, wenn die Kirche 2010 gesagt hätte, wir lassen den Staat eine Stiftung gründen, die wir mit ausreichend Geld ausstatten. Diese Stiftung hat die Aufgabe, Opfer zu entschädigen und den Missbrauch unabhängig aufzuarbeiten. Honorige Persönlichkeiten engagieren sich darin und garantieren, dass das umgesetzt wird. Hätte die Kirche das 2010 gemacht, stünde sie als der moralische Leuchtturm da."
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Kulturpolitik

Deutsche Institutionen sollten unbedingt menschliche Überbleibsel zurückgeben, die sie im Rahmen von Forschungen und Raubzügen nach Deutschland gebracht haben, schreibt Navid Kermani nach der Rückkehr von einer Reise durch Ostafrika in der Zeit. Vieles wäre noch zu klären, etwa, "die Kosten und auch die Umstände des Transports...: Fliegen Skelette beziehungsweise Skelettteile als Leichen oder als Gegenstände mit? Während die Stiftung Preußischer Kulturbesitz immerhin begonnen hat, Provenienzforschung zu betreiben, ignoriert die Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, gegründet 1869 von dem berühmten Arzt und 'Rassenkundler' Rudolf Virchow, bis heute sämtliche Anfragen der Nachfahren und ihrer deutschen Unterstützer."
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Gesellschaft

Ahmad Mansour wurde von dem Autor Behzad Karim Khani vor einigen Tagen in der Berliner Zeitung als "Onkel Tom" beschimpft (unser Resümee). Mit Engelsgeduld antwortete Mansour ebendort schon gestern auf den Artikel Khanis, der unter anderem indirekt Israel für die Silvesterkrawalle in Berlin verantwortlich machte: "Ich bin selbst Muslim, Araber, Migrant. Ich habe jahrelang in Neukölln gewohnt und gearbeitet, habe als Psychologe in zahlreichen Projekten tagtäglich mit Angehörigen eben der hier betrachteten Gruppe in Schulen, Berufsschulen, Asylbewerberunterkünften und Haftanstalten gearbeitet. Das mache ich beruflich bis heute. Ich konnte anderthalb Jahrzehnte lang Erfahrungen sammeln und Zusammenhänge immer besser erkennen. Ich erlebe junge Männer, die sich für wichtiger halten als ihre Schwestern; Gruppen, die glauben, dass ihre internen Gesetze wichtiger sind als die des Staates; Väter und Mütter, die denken, dass Kinder nicht ohne Körperstrafen aufwachsen sollten. Ich weiß, dass es solche Konstellationen auch in anderen Milieus gibt, etwa in evangelikalen Familien. Der Fokus meiner Arbeit liegt auf den Milieus, von denen ich am meisten verstehe, bei den Gruppen, die aus der Türkei, dem Nahen Osten oder ähnlich geprägten, in der Regel muslimischen Gesellschaften kommen."

In der Zeit streiten sich die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum vom Zentrum für Antisemitismusforschung und der Soziologe Natan Sznaider, der in dem von  Alexander Cammann und Christian Staas moderierten Gespräch seine "Verletzung und Enttäuschung" bekennt, dass das Institut "Dinge macht, die für die Repräsentanten der Juden in Deutschland ein Unding sind: etwa, Fragen des Rassismus, der Islamophobie und der Kritik an Israel in seine Forschungsarbeit einzubeziehen... Zumal, wenn man mit verantwortlich ist für den scharfen Ton, etwa durch besagte Konferenz 'Hijacking Memory', über die ich mich auch echauffiert habe. Stefanie, habe ich damals gedacht, wie konntest du Teil von so einer Horrorveranstaltung werden?" Diese antwortet darauf: "Natan, diese Diskussion führen wir noch mal unter uns." Die im Stakkato aufeinanderfolgenden Mbembe-, Moses- und Documenta-Debatten, sagt Sznaider, waren für ihn "das Erwachen aus einer Illusion. Von wegen, es gibt hier für Antisemitismus keinen Raum! Es hat sich gezeigt, dass es einen 'progressiven' linken Antisemitismus gibt, der in Teilen an den reaktionären rechten andockt."

Die Corona-Pandemie scheint vorüber zu sein, aber von Aufarbeitung will man in Deutschland nichts hören, schreibt Georg Mascolo in der SZ. "Fragt man in der Bundesregierung nach den Gründen, begegnet man vor allem zwei Argumenten: Man habe jetzt wirklich andere Probleme - und das Gesprächsklima sei schwierig in der Sache, jeder habe seinen Blick auf das Thema, teils sei die Stimmung regelrecht vergiftet." Dabei wäre eine Untersuchung auch für künftige Pandemien wichtig: "Ist das heutige Infektionsschutzgesetz für die nächste Gesundheitskatastrophe gut genug? Ist gewährleistet, dass vor Ort entschieden wird, aber nach einem für das ganze Land vereinheitlichen Maßstab? Werden Freiheitsbeschränkungen so getroffen, dass sich das mit der Demokratie verträgt? Also nicht in vertraulichen Runden der Exekutive, sondern durchgängig im Parlament, in freier Rede und Gegenrede, nachvollziehbar für alle. Wie lässt sich einer sich weiter verbreitenden Impfskepsis begegnen - und woher kommt sie?"

Etwas belustigt betrachtet FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube Treiben und Reden der Klimaktivisten von Lützerath, die sich empört zeigten, nachdem die Polizei eine provisorische Hütte abriss, an der ein Architekturmuseum interessiert war: "Zerstörung kulturellen Erbes! (Am Donnerstag gebaut, am Sonntag schon vererbt). Kein Respekt vor Zeitgeschichte. Kulturgüter, hieß es, darf man nicht kaputt schlagen. Nur mit Erbsensuppe übergießen, müsste ergänzt werden, darf man sie schon. Einerseits sind die Aktivisten also mit der Abwendung der ökologischen Apokalypse und der Rettung des globalen Südens beschäftigt, andererseits sehen sie sich schon als Erblasser von Kulturgut." Ebenfalls in der FAZ prangert die Polarforscherin Antje Boetius das Verhalten von Ölkonzernen wie Exxon an, die schon in den Sechzigern von der Gefahr der Klimaerwärmung wussten.

In der SZ erinnert Annette Ramelsberger an den jetzt im Alter von 97 Jahren gestorbenen Anwalt Heinrich Hannover, in dessen Leben sich die deutsche Geschichte widerspiegelte: Das Mandat für Ulrike Meinhof legte er nieder, "sonst hat er alle vertreten: Den jungen, noch wilden Otto Schily wegen Beleidigung der Polizei. Den Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit, als der eine Polizeiabsperrung übersprang. Den Enthüllungsreporter Günter Wallraff, als der bei seinen Undercover-Recherchen falsche Ausweise vorgelegt hatte. Den vorletzten Regierungschef der DDR Hans Modrow gegen den Vorwurf der Wahlfälschung. Und auch den Mann, der Hitlers Generäle, die später zum Teil wieder in der Bundeswehr dienten, als 'Massenmörder' bezeichnete. Der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß hatte Lorenz Knorr angezeigt."
Archiv: Gesellschaft