9punkt - Die Debattenrundschau

Audi A8 (435 PS)

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.08.2022. Man kann Putins Krieg gegen die Ukraine sehr wohl als genozidal bezeichnen, sagt der Gewaltforscher Wolfgang Sofsky in der NZZ. Wer auf einen Abnutzungskrieg setzt, gefährdet nicht nur die Ukraine, sondern Europa insgesamt, schreibt Richard Herzinger. Felwine Sarr rät Europa zu schweigen. Würde er das auch im Blick auf China und Rusland raten, fragt Harry Nutt in der FR. Nach einem Vorstoß für einen Israelboykott der Mélenchonisten in der Assemblée nationale erzählt Bernard-Henri Lévy in La Règle du Jeu die Geschichte des linken Antisemitismus in Frankreich.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.08.2022 finden Sie hier

Europa

Der polnische Präsident Andrzej Duda gesteht im FAZ-Gespräch mit Gerhard Gnauck seine bis heute anhaltende Bestürzung über die deutsche Russland-Politik: "Wir bekamen immer nur zu hören, Nord Stream sei ein rein wirtschaftliches Projekt, auf das man schlecht Einfluss nehmen könne. Ein Argument, das ich Merkel nie abgenommen habe. Dann kam 2021 die Einigung zwischen Präsident Biden und Merkel, mit der Washington seinen Widerstand gegen Nord Stream 2 aufgab, und am selben Abend rief Merkel Putin an. Ich war fassungslos. Das musste man als Akt nicht nur der Gleichgültigkeit, sondern geradezu als feindlichen Akt gegenüber unserem Teil Europas verstehen."

Der Kreml sucht Vorherrschaft in Europa. Durch einen "Kompromiss" wird er sich kaum befrieden lassen, fürchtet Richard Herzinger in seinem Blog. Auch auf einen langen Abnutzungskrieg zu setzen, wäre ein Fehler, denn Russland erweise sich bereits jetzt als lernfähig: "Lässt man die Gelegenheit verstreichen, der russischen Invasionsarmee in ihrem Zustand relativ großer Verwundbarkeit entscheidende Schläge zu versetzen, könnte Moskaus Militärmaschine daraus sogar erheblich gestärkt hervorgehen - und sich in der Ukraine fit machen für den anvisierten großen Krieg gegen die NATO."

Cornelius Wüllenkemper resümiert in der FAZ eine Diskussion in der Berliner Robert-Havemann-Gesellschaft über das "Ukrainische Kulturerbe in Russlands Angriffskrieg". Es ist ein bewusster Krieg gegen kulturelle Symbole, lernt er. Ein Beispiel: "Aus Melitopol in der Südukraine wird die Plünderung des Museums für Lokalgeschichte gemeldet, darunter auch der 198 Stücke umfassende Goldschatz der Skythen. Die Kuratorin Galina Andriivna Kucher, die beim Verhör durch die Russen die Herausgabe des Schatzes verweigerte, gilt bis heute als verschollen. Der neue, von den Russen eingesetzte Direktor bescheinigte dem Gold-Schatz derweil 'einen großen kulturellen Wert für die gesamte ehemalige Sowjetunion'."

Im NZZ-Gespräch mit Alexander Kissler wirft der Gewaltforscher Wolfgang Sofsky Deutschland "unterlassene Hilfeleistung" vor - man wolle es sich mit Russland nicht ganz verderben, meint er. Und er spricht von "genozidalem Vernichtungskrieg": Russland will "vermutlich nicht alle Einwohner töten, aber sie wollen alle Ukrainer als Ukrainer liquidieren, und zwar nur deshalb, weil sie Ukrainer sind und sich als solche verstehen. Das Volk und sein Nationalstaat sollen von der Landkarte verschwinden. (…) Man muss sich von der Vorstellung frei machen, dass ein Völkermord nur dann vorliegt, wenn ein Vernichtungslager mit Krematorium eingerichtet wurde."

"Wenn der Westen sich mehr vor allem von Polen und Balten sagen ließe, dann könnte die Lage nicht nur auf dem ukrainischen Kriegsfeld, sondern auch im Westen eine andere sein", meint Thomas Kafka, tschechischer Botschafter in Berlin, in der Welt. "Der deutsche Politologe Kai Olaf Lang stellte in diesem Zusammenhang fest, dass der Hauptunterschied zwischen Deutschland und Polen darin bestünde, dass Polen sich vor Russland und sonst vor gar nichts fürchte, wogegen Deutschland sich vor allem, aber nicht vor Russland fürchte." In der NZZ geht der Osteuropahistoriker Oliver Jens Schmitt einen ganzen Schritt weiter und wirft den Pazifisten im Westen vor, zu "willigen Helfern Putins" zu werden. "Die Erfahrungen der Jahre 1938 bis 1941 wirken bis heute nach: Die Widerständigkeit Finnlands und Polens ist dort verankert, ebenso der Wille der Balten, sich nie mehr kampflos zu ergeben."

Der Twitter-Nutzer Peter Frank hat ein bisschen gestöbert und ist auf einen offenen Brief osteuropäischer Intellektueller und Politiker an Barack Obama aus dem Jahr 2009 gestoßen, wo nach Obamas "Reset" der Beziehungen mit Russland alle Probleme mit Russland bereits benannt waren: "Auf globaler Ebene ist Russland in den meisten Fragen zu einer Status-quo-Macht geworden. Doch auf regionaler Ebene und gegenüber unseren Nationen tritt es zunehmend als eine revisionistische Macht auf. Es stellt unsere Sicht auf unsere eigenen historischen Erfahrungen in Frage. Es beansprucht eine privilegierte Position bei der Festlegung unserer Sicherheitsentscheidungen. Es bedient sich offener und verdeckter Mittel der wirtschaftlichen Kriegsführung, die von Energieblockaden und politisch motivierten Investitionen bis hin zu Bestechung und Medienmanipulation reichen, um seine Interessen durchzusetzen und die transatlantische Ausrichtung Mittel- und Osteuropas in Frage zu stellen." Unterzeichnet war der Brief von unter anderem von Vaclav Havel, Ivan Krastev, Vaira Vike-Freiberga, Lech Walesa, Karel Schwarzenberg.
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Kulturpolitik

Die regionalen indischen Sprachen machen zwar gegenüber dem Englischen Boden wett, berichtet Martin Kämpchen in der FAZ, etwa auch, was die Anerkennung von Literaten angeht: "Doch gleichzeitig soll nach dem Willen jeder Regierung der letzten Jahrzehnte eine einzige Sprache, das Hindi, zur uniformen Verbindungssprache (link language) des gesamten Landes werden, wogegen sich die südlichen Provinzen heftig sträuben, weil ihre Sprachen keine gemeinsamen Wurzeln mit Hindi teilen."

Im kürzlich geführten FAZ-Gespräch empfahl der Sozialwissenschaftler Felwine Sarr Europa, Afrika gegenüber zu schweigen und seine "Machtgesten über Bord zu werfen" (Unser Resümee) In der FR möchte Harry Nutt von Sarr da schon "gern wissen, wie er sich das Überbordwerfen von Machtgesten in Bezug auf China und Russland vorstellt, die sich zahlreichen afrikanischen Staaten als Partner andienen, im Grunde aber ganz ungeniert ihren imperialen Einfluss ausweiten. Es gibt viele Formen des Neokolonialismus, die von den Kritikern postkolonialer Verhältnisse nur schwach oder gar nicht erfasst werden."
Archiv: Kulturpolitik

Medien

Barbara Oertel berichtet in der taz von einem Treffen zwischen ukrainischen und deutschen Journalisten, das komplett schiefgegangen zu sein scheint. Beim Wort "Dialog" hätten die Ukrainer protestiert: "Ein Dialog mit Russ*innen, ja allein der Umstand, ihnen ein Forum zu bieten, sei inakzeptabel und komme einer Zumutung gleich. Schließlich sei ein/e jede/r von ihnen schuld an diesem Krieg." Oertel versteht die Empörung angesichts der offiziellen deutschen  Politik und der eher indifferenten Öffentlichkeit. Aber "es gibt auch russische und belarussische Journalist*innen, die unter hohem persönlichem Risiko ihren Machthabern die Stirn bieten und mit der Ukraine solidarisch sind. In der taz kommen sie regelmäßig in Tagebüchern zu Wort."

Ebenfalls in der taz resümiert eine Reportergruppe die Vorwürfe gegen RBB-Intendantin Patricia Schlesinger. Da ist zum Beispiel die Geschichte mit dem Dienstwagen, den Schlesinger mit einem sehr günstigen Rabatt anmieten konnte, berichtet Michael Hanfeld in der FAZ, ein "Audi A8 (435 PS)" im Wert  von 145.830 Euro und mit Massagesitzen: "Sie bekam den 'Regierungspreis' mit siebzig Prozent Rabatt. Als Gegenleistung für den Nachlass wird freilich erwartet, dass man quasi als Markenbotschafter durch die Gegend kutschiert. Es handele sich um einen 'branchenüblichen Firmenrabatt'."
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Stichwörter: RBB, Schlesinger, Patricia

Politik

Die Ausbreitung des extremen Islamismus in Nigeria hat desaströse Folgen für das Land, berichtet Katrin Gänsler in der taz: "Im Mai sagte das UN-Kinderhilfswerk Unicef, dass 18,5 Millionen Schüler*innen in Nigeria keinen Zugang zu Bildung haben, die Mehrheit davon Mädchen. Seit Dezember 2020 wurden mehr als 11.000 Schulen geschlossen, meist in entlegenen Dörfern ohne Sicherheitskräfte. Soll der Unterricht dennoch fortgesetzt werden, sind die Kinder und Jugendlichen gezwungen, in die Städte zu gehen."

Nancy Pelosi, die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, will Taiwan besuchen. Eine sehr schlechte Idee, findet Thomas L. Friedman in der New York Times. China sei bereits jetzt von Biden unter Druck gesetzt worden: Und "wie es scheint, so sagen mir US-Beamte, hat China reagiert, indem es Putin keine militärische Hilfe leistete - und das zu einer Zeit, in der die USA und die Nato der Ukraine nachrichtendienstliche Unterstützung und eine beträchtliche Anzahl moderner Waffen zukommen ließen, die dem Militär Russlands, dem angeblichen Verbündeten Chinas, ernsthaften Schaden zugefügt haben. Warum in aller Welt sollte der Sprecherin des Repräsentantenhauses in Anbetracht all dessen Taiwan besuchen und China jetzt absichtlich provozieren?"
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Geschichte

Die Linke ist - auch wenn sie es bis heute nicht hören will - einer der Ursprünge des modernen Antisemitismus, wenn auch bei weitem nicht der einzige. Bernard-Henri Lévy macht es in La Règle du Jeu am Beispiel der Mélenchonisten deutlich, die jüngst erst in der Assemblée nationale eine Resolution gegen den "Apartheidsstaat" Israel einbringen und den Boykott israelischer Produkte fordern wollten. Lévy nimmt es zum Anlass, die linken Antisemiten in der Geschichte Frankreichs, vom frühen Jean Jaurès (vor der Dreyfus-Affäre) bis Mélenchon Revue passieren zu lassen: Es handele sich um eine "Strömung, die in den 1930er Jahre in den Reihen der pazifistischen Linken wieder auftauchte. Der Sozialist Fernand Bouisson beschuldigte Georges Mandel, 'wie alle Juden' den Krieg zu wollen... Der Radikale Yvon Delbos, Außenminister des Front populaire, erklärte, dass 'die überall verjagten Juden ihr Heil in einem Weltkrieg suchen'…, der Parteichef Paul Faure empörte sich über Blum, 'der bereit ist, uns für die Juden sterben zu lassen'." Lévy empfiehlt zum Thema Michel Dreyfus' Geschichte des linken Antisemitismus, die sicher auch für deutsche Leser instruktiv ist: "L'antisémitisme à gauche - histoire d'un paradoxe, de 1830 à nos jours", Editions La Découverte, Paris 2010.

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