9punkt - Die Debattenrundschau

Leert die Arsenale!

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.03.2022. Mariupol scheint von den Russen weitgehend erobert zu sein - die Financial Times berichtet über eine Stadt als Leichenhaus. Als einen Mann, der die Realität den Gespenstern der Vergangenheit opfert, beschreibt Karl Schlögel Putin in der NZZ. In der FAZ sucht Gerd Koenen nach Mustern in der russischen Geschichte. In Deutschland beginnt die Aufarbeitung der deutschen Putin-Liebe: Barbara Kerneck rechnet in der taz mit ihren Protagonisten ab. In der Times erzählt Verlegerin Arabella Pike wie es ist, wenn russische Oligarchen britische Anwaltsfirmen anheuern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.03.2022 finden Sie hier

Europa

Einer der am häufigsten retweeteten Artikel ist heute Guy Chazans Bericht über Mariupol in der Financial Times - Chazan, der selbst in Lemberg ist, hat mit vielen Einwohnern der Stadt telefoniert: "Mariupol, einst einer der wichtigsten Häfen der Ukraine, ist heute ein Leichenhaus, eine Gespensterstadt." Die Russen scheinen ihren Angriff auf die Stadt abzuschließen und verlangen Kapitulation (die Ukraine weigert sich, meldet etwa die New York Times): "Nach tagelangen heftigen Luft- und Artillerieangriffen, die die drei Verteidigungslinien von Mariupol durchbrachen, sind die russischen Truppen nun in das Stadtzentrum eingedrungen, wobei schwere Kämpfe in einigen der Haupteinkaufsstraßen und in der Nähe des Theaterplatzes, einem wichtigen Wahrzeichen, gemeldet wurden."

Spiegel online stellt auf englisch ein brillantes Gespräch mit Ivan Krastev über Putins Krieg online. Krastev plädiert gegenüber seinem Interviewer Lothar Gorris sehr dafür, Putin nicht Rationalität zu unterstellen - Putin meine, was er sage: "Er glaubt das wirklich. Nach seinem Geschichtsverständnis geschehen Dinge nie spontan. Wenn Menschen demonstrieren, fragt er nicht: Warum sind sie auf der Straße? Er fragt: Wer hat sie geschickt? Wenn wir ihn beim Wort nehmen, wird er uns nicht mehr überraschen."

Im Interview mit Zeit online spricht sich die kanadische Politikwissenschaftlerin Janice Gross Stein trotz aller Gräueltaten im russischen Krieg gegen die Ukraine gegen einen Einsatz der Nato aus. Sie ist plädiert eher dafür, doppelgleisig zu fahren: "Der Westen kann den Ukrainern möglichst lange und möglichst viele Verteidigungswaffen liefern. Leert die Arsenale! Die Mengen an Ausrüstung, die über die Grenzen gehen, erinnern jetzt schon an die Berliner Luftbrücke. Aber es müssen noch mehr werden, denn diese Waffen machen die ukrainische Armee so effektiv. Eine Flugverbotszone würde nur begrenzt nutzen, denn der größte Schaden für Zivilisten kommt von Raketen und Artilleriegeschossen. ... Zweitens müssen wir alle glaubhaften Mittelsmänner kontaktieren, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten und nach Möglichkeiten für eine Waffenruhe zu suchen. So unappetitlich das den moralisch empörten westlichen Öffentlichkeiten auch zu sein scheint: Es ist das, was den Ukrainern am meisten helfen würde."

Selten genug stellt die britische Times mal einen Artikel frei online. Die Lektorin und Verlegerin Arabella Pike von Harper Collins erzählt, wie sie sich zusammen mit ihren Autoren Catherine Belton ("Putins Netz") Tom Burgis ("Kleptopia") gegen die britischen Anwaltsfirmen russischer Oligarchen wehren musste, eine jahrelange Belästigung, die für den Verlag und die Autoren nicht nur finanziell, sondern auch psychisch extrem belastend war. "Unbegrenzte Mittel können das bezahlen, was Burgis als 'Legionen von Privatspionen' bezeichnet, die für Oligarchen und andere reiche und mächtige Leute arbeiten. Mikrofone an Telefonen können aus der Ferne aktiviert werden, um vertrauliche Gespräche zu belauschen. An einen Netzwerkdrucker gesendete Daten können abgefangen, Sitzungen auf digitalen Plattformen abgehört werden. Wir haben Entwürfe der Manuskripte mit dreifacher Verschlüsselung ausgetauscht." Der Verlag hat mehrere Millionen Pfund ausgegeben, um die Prozesse durchzustehen. Pike nennt die Namen aller Firmen, mit denen sie zu tun hatte.

Deutschland und Russland - ein Thema, das gewiss noch Aufarbeitung erfordert. Barbara Kerneck, Tochter von Sozialdemokraten, die gegen die Nazis kämpften, und lange Russland-Korrespondentin der taz, rechnet mit Linken ab, die lange Zeit Putin in Schutz nahmen: "Hinter der Liebedienerei von Ministerpräsident Bodo Ramelow oder seiner Kollegin Manuela Schwesig vor den russischen Energiebossen steht neben der Gier der Manager eine tiefe Verachtung dieser Linken und Sozialdemokraten für die kleinen Leute auf der russischen Straße. Deren Armut und Rechtlosigkeit ist ihnen schnurz. Dafür wird im Gespräch über Putins Unrecht gern mit Verfehlungen des Westens gekontert: Abu-Ghraib, Guantánamo, Todesstrafe in den USA. Der Whataboutismus ist eine besonders beschränkte Form des Nichtwissenwollens." Auch Reinhard Veser sieht Im Leitartikel der FAZ schon wieder die Putin-Verteidiger in den Startlöchern.

In der NZZ fragt sich der Historiker Karl Schlögel immer noch, warum die deutsche Politik so lange an ihrem weichgezeichneten Russlandbild festgehalten hat. Man soll sich doch noch einmal die wuterfüllten Reden anhören, die Putin kurz vor dem Angriff auf die Ukraine gehalten hat, um ein klareres Bild zu bekommen: "Putin verkörpert die Tragödie, in die er sein Land geführt hat, und das Unglück, das er über die Ukraine gebracht hat. Die unbewältigte Geschichte des untergegangenen Imperiums, dessen Auflösung anzuerkennen er nicht die Kraft besitzt und dessen Wiedererrichtung als 'Drittes Imperium' er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften betreibt. Dieser Mann verkörpert bis heute das Imperium in seinem innersten und bis heute intakt gebliebenen Kern der Gewalt, des KGB, des sowjetischen In- und Auslandgeheimdienstes, aus dem er hervorgegangen ist. Putin kann sich ein Russland nach und jenseits des Imperiums nicht vorstellen, und die Bewirtschaftung aller in der unbewältigten Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert liegenden Traumata ist die Grundlage seines Herrschaftsmodells, Kern seiner Destruktivität."

Einen Großmachtkomplex diagnostiziert der Schriftsteller Bora Cosic in der NZZ auch bei vielen Serben, die sich am liebsten mit Russland vereinen würde. Dummerweise liegt Rumänien dazwischen. "So wie Putin heute meint, die Ukrainer gebe es nicht, weil sie eigentlich Russen seien, so meinen auch die Serben, die Kroaten seien nur verkleidete Serben, das ist wohl der gemeinsame Kern von einem kleinen und dem anderen, dem großen Volk."

Im Interview mit der SZ sorgt sich der Militärhistoriker und Selenskij-Berater Wasil Pawlow auch um die Kulturschätze der Ukraine, die vom Krieg bedroht sind. Darunter das Höhlenkloster in Kiew. Putin, davon ist er überzeugt, will dieses Kloster zerstören: "Eine der ersten Schulen Osteuropas befand sich auf dem Gebiet des Höhlenklosters. 1672 wurde dort die erste geschriebene Geschichte Russlands erstellt. Hier wird aber auch das Erbe anderer Völker bewahrt, die auf dem Territorium der Ukraine lebten, zum Beispiel eine riesige Sammlung alten jüdischen religiösen Silbers. In seiner Chronik weist Nestor darauf hin, dass Kiew 'die Mutter der russischen Städte' ist. Die russische Stadt Jaroslawl wurde vom Kiewer Fürsten Jaroslaw dem Weisen gegründet, die Stadt Wladimir vom Kiewer Fürsten Wladimir. Das heißt: Für Putins Bewusstsein ist es ein heiliges Anliegen, Kiew zu besitzen. Das lässt sich in all seinen Artikeln der letzten Jahre nachvollziehen, in denen er seinen Anspruch auf die Ukraine rechtfertigt. ... Er will die Beweise dafür vernichten, dass die Ukraine der Anfang Russlands war."

Nicht  nur Ukrainer fliehen, auch viele Russen verlassen bekanntlich ihr Land. Gabriel Gavin hat für politico.eu in Istanbul mit einigen von ihnen gesprochen: "Sie sind Teil einer wachsenden Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte, die angesichts des wirtschaftlichen Chaos und der politischen Unterdrückung ins Ausland gehen und Europa in einer Weise spalten, wie es seit dem Zusammenbruch der UdSSR nicht mehr der Fall war. In Armenien, einer ehemaligen Sowjetrepublik, in die Russen ohne ausländischen Pass einreisen können, sind nach offiziellen Angaben in den letzten drei Wochen mindestens 80.000 Menschen angekommen, während der Bürgermeister von Tiflis, der Hauptstadt des benachbarten Georgiens, von 25.000 Menschen berichtete, die allein in seine Stadt kamen."

Katar ist nicht nur der wichtigste Sponsor der Muslimbrüder (mehr dazu hier und hier). Katar verletzt die Menschenrechte und betreibt Sklaverei. Nun musste Wirtschaftsminister Robert Habeck auf der Suche nach Erdgas vor den Emiren einen Diener machen, hier der taz-Bericht. taz-Autor Klaus Hillenbrand bereitet diese Szene merkliche Pein: "In einem Drecksland um die Lieferung von Schmutz zu betteln - kann ein Grüner noch tiefer sinken? Doch ein solcher Vorwurf ist allzu billig. Auch wer das Wort 'alternativlos' ablehnt, muss erklären, woher die Energie denn bitte sonst kommen soll, um deutsche Wohnstuben zu heizen. Die Abhängigkeit von Russland ist jedenfalls nicht den Grünen anzulasten."

Oder haben die Grünen nicht doch mit dem zu tun, was Udo Di Fabio heute in der FAZ schreibt: "Die Bundesrepublik verfolgte eine geradezu romantische Energiepolitik. Für die ökologische Opposition der letzten zwanzig Jahre war es immer einfach, nach dem Ausstieg zu rufen: zuerst aus der als gefährlich empfundenen Atomenergie, dann aus der klimaschädlichen Kohleverstromung. Es war leicht, das Bild einer vollständig regenerativen Energieerzeugung in schönen Farben zu malen." Und das ist nicht der einzige Punkt: "In die Kategorie geopolitische Vergessenheit gehört auch die lang anhaltende militärische Schwächung des Landes."
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Geschichte

Für Gerd Koenen in der FAZ verkörpert Wladimir Putin ein fatales Muster, das in der russischen Gschichte leider immer wieder auftrat: "Gerade die hypnotischen Selbstüberschätzungen Russlands als größtes Land der Erde und designierte Supermacht, als geopolitisches 'Herzland' der Welt oder als 'einzigartige eurasische Zivilisation', wie sie von den nationalreligiösen Kreml-Ideologen beschworen wird, sind der Hauptgrund, warum seine Geschichte sich wie in einem fehlerhaften Zirkel bewegt. Auf Zeiten imperialer Überspannung und vermeintlicher Ultrastabilität folgten, und jedes Mal aus scheinbar heiterem Himmel, Phasen der chaotischen Selbstauflösung."
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Gesellschaft

Die körperliche Unversehrtheit ist kein Supergrundrecht, das unbedingt verteidigt werden muss, während wir andere Freiheitseinschränkungen akzeptieren, schreibt der Rechtsprofessor Hinnerk Wißmann in der FAZ mit Blick auf die Debatte um die Impfpflicht: "Ein Land, das Ausgangssperren, Kontaktverbote und freihändig verhängten Maskenzwang für geboten hält, um Impfungen weiterhin nur 'anzubieten', weiß nicht mehr, was Freiheit ist."

In der SZ begrüßt Dunja Ramadan die recht unbürokratische Aufnahmen ukrainischer Flüchtlinge, die von Anfang an Deutschland arbeiten und sich niederlassen dürfen, wo sie wollen. Anders als syrische oder afghanische Flüchtlinge, die oft monatelang in engen Notunterkünften ausharren mussten. "Läuft europäische Flüchtlingspolitik nur dann human ab, wenn es europäische Geflüchtete sind?", fragt sie sich. "Die Aufnahme von 300 besonders schutzwürdigen Menschen aus dem griechischen Flüchtlingslager Moria hat das Bundesinnenministerium dem Land Berlin 2020 verboten. Vor wenigen Tagen hat das Bundesverwaltungsgericht das für rechtens erklärt. Es geht nicht darum, das Leid der Geflüchteten gegeneinander auszuspielen. Es geht um die europäische Glaubwürdigkeit, die auf dem Spiel steht."
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Kulturpolitik

Die Ethnologin Isabelle Reimann forscht über menschliche Überreste, meist aus ethnologischen Kontexten, in Berliner Museen. Im Gespräch mit Susanne Memarnia von der taz sagt sie: "Als Provenienzforscherin weiß ich natürlich um den schwierigen und langwierigen Prozess, die Identität und Herkunft der Menschen zu ermitteln. Schockiert hat mich eher, wie wenig die Institutionen in Berlin bei der Provenienzforschung bislang aktiv mit den Herkunftsgesellschaften zusammenarbeiten und wie wenig diese als Expert*innen einbezogen wurden und werden. Die hiesigen Institutionen können die Fragen der Herkunftsgesellschaften nach dem Verbleib der Überreste ihrer Ahnen gar nicht beantworten, ohne erst eine Forschung anzustoßen."
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