Efeu - Die Kulturrundschau

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21.03.2022. Ärger im PEN-Club: Ehemalige Präsidenten fordern den Rücktritt von PEN-Chef Deniz Yücel, nachdem er eine Flugverbotszone über der Ukraine gefordert hat. Die SZ wundert sich: Hätte ihnen nicht klar sein müssen, dass sie mit Yücel keinen Mann der leisen Töne bekommen? In der FAZ erklärt Petra Reski die Affäre als internen Machtkampf. Der Tagesspiegel meldet indes, dass der Filmemacher Sergei Loznitsa aus der ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen werden soll. FAZ, SZ und ZeitOnline feiern die Leipziger Buchmesse als eines der schöneren Dinge in unserem Pop-up-Universum.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.03.2022 finden Sie hier

Literatur

Ehemalige PEN-Präsidenten fordern Deniz Yücels Rücktritt als Präsident von PEN-Deutschland. Vorgeworfen wird Yücel in einem offenen Brief, dass er sich bei der Lit.Cologne für eine Flugverbotszone über der Ukraine ausgesprochen hatte. "Wenn man den fünf Ex-Präsidenten (...) gegenüber ungnädig sein möchte, ließe sich das so zusammenfassen: 'Skandal! Präsident des Vereins der freien Worte äußert freie Worte!', schreibt dazu in der SZ Nele Pollatschek, die Yücels Plädoyer zwar leichtsinnig findet, aber als Meinung für völlig zulässig: "Das Schöne an der Wahl eines so medienwirksamen Präsidenten wie Yücel ist, dass man eigentlich sehr genau weiß, was man bekommt: Yücel" und der "ist niemand, der auf aggressive Autokraten mit Zurückhaltung reagiert. Das alles macht ihn tendenziell ungeeignet für das Amt eines Vereinspräsidenten, der eher zurückhaltender Amplifikator eines Gruppenkonsenses als selbständiger Sprecher sein sollte. Aber das wusste man nun wirklich, um nicht zu sagen: Deswegen hat man Yücel gewählt."

Allerdings dürfte das mit der Flugverbotszone wohl eh nur ein willkommener Anlass sein. Offenbart schwelen hinter den Kulissen schon länger Konflikt und Unmut. Nicht nur sorgt Yücels Social-Media-Verhalten für Ärger, die Schriftstellerin und PEN-Mitglied Petra Reski hat zudem Einblick in interne und "'versehentlich'" weitergeleitete Korrespondenzen, über die sie in der FAZ berichtet. Aus dem Mailwechsel gehe hervor, "wie das von Yücel geleitete Präsidium versuchte, den gerade wiedergewählten Generalsekretär Heinrich Peuckmann, die von der Position der Beisitzerin in das Amt der Writers-in-Exile-Beauftragten beförderte Kollegin Astrid Vehstedt und die Angestellten des PEN-Büros in Darmstadt loszuwerden - obwohl nicht ersichtlich war, was diese sich hätten zuschulden kommen lassen. Geplant war, sie mittels eines Tribunals zum Rücktritt zu zwingen..., wobei der Mail-Austausch Einblick in ein Präsidium erlaubt, das Menschen als 'Elefanten' und 'Flusspferde' bezeichnet, sie diskriminiert ('sein Alter macht es leichter, ihm den Rücktritt nahezulegen') und Mobbing betreibt", kritisiert Reski.

Szenenwechsel: Wohl nur "ein Fünfzigstel jener Menschenzahl", die bei einem normalen Jahrgang der Leipziger Buchmesse in die Stadt käme, fanden sich in diesem Jahr zur von den Verlegern Leif Greinus und Gunnar Cynybulk spontan auf die Beine gestellten Ersatzveranstalting "pop_up" ein, berichtet Andreas Platthaus in seinem Resümee in der FAZ. Dennoch war dieses Treffen im kleinen Kreis in jeder Hinsicht erfolgreich: "Der herrschende Geist in der hohen Halle des Veranstaltungsortes 'Werk 2' war einer von gegenseitiger Hilfe. ...  Das, wofür Leipzig als Messestandort im Vergleich zu Frankfurt steht - Gespräch, Lockerheit, Nähe -, wurde einmal mehr gestärkt." Auch tazler Dirk Knipphals erlebte "eine ziemliche Buchmessen-Atmosphäre", schließlich gaben sich auch Stars wie der Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah und Joshua Cohen ein Stelldichein, fernerhin gab es "Gossip, Begegnungen und kleine Sticheleien" sowie "einen Einblick in die Vielfalt der Verlagsangebote. ... Mit etwas Abstand betrachtet, erzählte die Veranstaltung auch von dem Selbstbehauptungswillen" der Branche.

Auch David Hugendick von ZeitOnline fand es super: "Eine Pop-up-Messe ist sicher eines der schöneren Dinge in unserem Pop-up-Universum, zumal, wenn sie wie diese das liebevoll Improvisierte, das herzlich inszenierte Provisorische so hervorhebt." Hier vergaß man rasch "die jüngsten Verspanntheiten aus Literaturdebattendeutschland, die einem nach der Absage der Leipziger Buchmesse so aufgedrängt wurden: Ob es eine Verschwörung der sogenannten Konzernverlage gegen die sogenannten unabhängigen Verlage gäbe. Oder ob sich hinter der Absage nicht gleich noch ein düsteres Komplott einer westdeutsch dominierten Branche gegen die angeblich zuwendungsbedürftigen Literatur- und Leselandschaften Ostdeutschlands verberge. Oder ob sich hier nur wieder der alte Gratiskonflikt zeige: Kapital gegen alles andere. Oder war's doch einfach die Angst vor Corona?"

Felix Stephan fokussiert in der SZ vor allem auf Veranstaltungen zum Ukrainekrieg: "Wieder habe eine große literarische Tradition die Barbarei nicht verhindern können, sagte der russische Schriftsteller Michail Schischkin: Die deutsche Literatur habe Auschwitz nicht verhindert, die russische nicht den Gulag, und jetzt auch nicht Mariupol. ... Bis eine adäquate Sprache gefunden ist, bannt man die eigene Hilflosigkeit mit Formeln: Michail Schischkin sagte, dieser Krieg werde im Namen des russischen Volkes geführt, also auch in seinem, und er könne die Ukrainer nur um Vergebung bitten für etwas, das nicht zu vergeben sei. Die Entstalinisierung sei in Russland einfach ausgefallen." Auch Katrin Hillgruber resümiert im Tagesspiegel unter anderem eine Veranstaltung, bei der die ukrainische Autorin Svetlana Lavochkina auf ihre russische Kollegin Katerina Poladjan traf. "Obwohl sie seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, werde sie nun überall als gebürtige Moskauerin vorgestellt, meinte Poladjan irritiert: 'Das drängt mich in eine Position, die mir die Möglichkeit raubt, meine Empathie und Trauer mit der Ukraine zu zeigen.'" Juliane Streich berichtet in der taz von einer Veranstaltung über die Literatur und was sie gegen den Krieg in der Ukraine ausrichten kann.

Außerdem: Die NZZ bringt Folge 12 und Folge 13 aus Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. Der Literaturwissenschafter Ansgar Mohnkern warnt in der taz davor, Russlands Krieg gegen die Ukraine vor der Folie großer Erzählungen zu betrachten - wie er anhand von Hermann Melvilles "Moby Dick" illustriert. Im Kommentar auf Dlf Kultur fordert die Germanistin Sabine Scholl ein Ende der Ungleichbehandlung von Frauen im Literaturbetrieb. Niklas Elsenbruch berichtet in der SZ von einem Auftritt Alexander Kluges in Leipzig.

Besprochen werden Uljana Wolfs eben mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter Essayband "Etymologischer Gossip" (taz), Andrea Tompas "Omertà" (Welt), Doron Rabinovicis "Die Einstellung" (FR), Ljudmila Ulitzkajas Erzählband "Alissa kauft ihren Tod" (Standard), Reinhard Kaiser-Mühleckers "Wilderer" (online nachgereicht von der FAZ), Lea Ypis "Frei" (Welt), Derek Penslars Biografie über Theodor Herzl (Dlf Kultur), Delphine de Vigans "Die Kinder sind Könige" (Standard) und neue Hörbücher, darunter Tom Gerngroß' Lesung von Daniel Schulz' Roman "Wir waren wie Brüder" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Urs Heftrich über Jan Skácels "Ein Wachslicht brennen wir dem neuen Morgen":

"Ein Wachslicht brennen wir dem neuen Morgen
der noch gesichtslos ist und unbekannt
..."
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Bühne

Kästners "Fabian" am Schauspiel Stuttgart. Foto: Thomas Aurin

Sieh mal einer an, auch das Theater kann noch das Panorama einer Epoche zeichnen, nicht nur das Fernsehen, schnalzt Thomas Rothschild in der Nachtkritik zu Viktor Bodós Inszenierung von Erich Kästners Roman "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" am Schauspiel Stuttgart: "Das gibt es also noch, das dramatische Theater ganz ohne post, in dem die Figuren auf der Bühne mit einander interagieren und nicht den Blickkontakt scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Es wirkt kein bisschen verstaubt, wenn sich die löbliche Botschaft - denn die darf in Stuttgart nicht fehlen - aus deren Handlungsweise ergibt und nicht frontal zum Publikum vorgetragen wird. Und das mit einem Stoff, der bald ein Jahrhundert auf dem Buckel hat."

Besprochen werden Claus Peymanns Inszenierung von Eugene Ionescos "Nashörnern am Stadttheater Ingoldtstadt (die Egbert Tholl in der SZ als kleines Meisterwerk" feiert, als "intellektuell durchlässige, hochpräzise und rasante Aufführung mit bewundernswerten Darstellern"), die Uraufführung von Andrea Cavallaris Musiktheater "Der Antichrist" mit der Kammeroper Frankfurt (FR), Jan Paderewskis "Manru" an der Oper Halle (NMZ), Mona Kraushaars Inszenierung von Schillers "Don Karlos" am Ernst Deutsch Theater in Hamburg (FAZ), Eugène Ionescos "Der König stirbt" mit Dieter Hallervorden am Berliner Schlosspark Theater (Tsp, FAZ) und Stefan Heyms "Der große Hanussen" an der Landesbühne Esslingen (Nachtkritik).
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Kunst

Die Kunst und der Krieg gehen in der Ukraine nicht nur eine metaphorische Verbindung ein, betont Stefan Trinks in der FAZ: "So las man von Bildhauern in Lwiw-Lemberg, die in Friedenszeiten elaborierte Skulpturen schaffen, nun aber Altmetall, T-Träger oder rostige Eisenbahngleise zu Panzersperren zusammenschweißen." In der Art Review berichtet Polina Baitsym, wie die ukranische Kunstwelt darum kämpft, ihr Kulturerbe vor der Zerstörung zu bewahren. In der Berliner Zeitung notiert Ingeborg Ruthe etwas gallig, dass es den Investor und Kunstsammlersohn Nicolas Berggruen nun von Berlin wegzieht, nach Venedig: "Eine Liebe, die vor allem Begehren bedeutet." Verena Harzer berichtet in der taz von der Kunstaktion "Patriarchy R.I.P.", mit der die Aktivistinnen von Pussy Riot in konservativen amerikanischen Bundesstaaten feministische Kunst plakatieren, die der Kritikerin aber ein bisschen beliebig erscheint.

Besprochen werden eine Ausstellung der kroatischen Künstlerin Dora Budor im Kunsthaus Bregenz (Standard) und eine Schau von Max Liebermanns Druckgrafiken in der Villa am Wannsee (Tsp).
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Film

Der Filmemacher Sergei Loznitsa , der dem Westen seine Untätigkeit im Ukraine-Konflikt seit der Krim-Annexion vorwirft und eine Schließung des Luftraums über der Ukraine fordert, wird aus der Ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen, weil er sich gegen einen pauschalen Boykott russischer Filme ausgesprochen hatte. "Loznitsa, so heißt es zur Begründung in einer Mitteilung des Filmfestivals Odessa, habe sich als 'Kosmopolit' bezeichnet", berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel. "Aber angesichts des Krieges sollte jeder Ukrainer sich zu seiner nationalen Identität bekennen. Zwischentöne seien derzeit nicht angebracht. Außerdem seien Filme des Regisseurs, der in Weißrussland geboren wurde und in Kiew aufwuchs, zum Festival russischer Filme im französischen Nantes eingeladen, zu einem Programm unter dem Titel 'Von Lemberg bis zum Ural'. Auf der Webseite des Festivals, das vom 31. März bis zum 3. April läuft, wird der Krieg unmissverständlich verurteilt."

Außerdem: In der Jungle World rettet Dierk Saathoff Paul Verhoevens Erotikthriller "Basic Instinct" 30 Jahre nach dessen Kinopremiere vor dem Vorwurf der Homophobie.
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Musik

Der Dirigent Michail Jurowski ist tot. Er "war ein Kapellmeister im besten Wortsinn, ein uneitler Vermittler zwischen Musiker:innen und Publikum, dem stets die Musik in den Vordergrund stellte, die Arbeit mit der Partitur, nach bestem Wissen und Gewissen", schreibt Frederik Hanssen im Tagesspiegel. "Jurowski sah sich als Diener der Komponisten: 'Wir spielen keine Musik, wir sprechen sie', erklärte er. 1996 hatte ihn auf der Bühne ein Herzinfarkt ereilt, von dem er sich allerdings rasch erholte. "Ich arbeite wie eine Bohrmaschine", zitiert ihn dazu Michael Ernst in der FAZ. "Über Jahrzehnte hinweg hatte er sich - und hatte man ihm - oft viel zu viel zugemutet, aufgebürdet, abverlangt. ... 'Wie eine Bohrmaschine' wirkte Michail Jurowski in den Neunzigerjahren an allen drei Opernhäusern in Berlin und obendrein am Deutschen Symphonie-Orchester", außerdem in Herford, in Rostock und an der Oper Leipzig. Dlf Kultur präsentiert anlässlich des Todes von Jurowski Aufnahmen aus dem Archiv.

Außerdem: Wolfgang Schreiber resümiert in der SZ die ersten Tage der Berliner Maerzmusik. Für die Zeit porträtiert Ulrich Stock den Jazzposaunisten Nils Wogram und seine Band Muse. Florian Bissig berichtet in der NZZ vom Zürcher Taktlos-Festival. Hannes Soltau plaudert für den Tagesspiegel mit der Berliner Band Acht Eimer Hühnerherzen.

Besprochen werden Rosalías neues Album "Motomami" (NZZ, FAS, mehr dazu bereits hier), ein Konzert der Münchner Philharmoniker mit dem Pianisten Yefim Bronfman unter Andris Nelsons (SZ) und ein Konzert von Xian Zhang und Sergei Nakariakov an der Komischen Oper in Berlin (Tsp).
Archiv: Musik