9punkt - Die Debattenrundschau

Die Demokratie schrumpft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2021. Dass der britische Abgeordnete David Amess bei einer Bürgersprechstunde ermordet wurde, hat eine besonders düstere symbolische Dimension, kommentiert der Guardian nach dem wohl islamistischen Attentat auf den Politiker. In Frankreich hat sich der Diskurs zu Einwanderung verschärft, das zeigt besonders eine Figur wie der mögliche rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour, notiert die FAZ. Was wird, wenn die AfD, die ebenfalls immer weiter nach rechts rückt, nun auch noch ihren Anteil aus den 700 Millionen Euro jährlich für die Parteistiftungen bekommt, fragt Heribert Prantl in der SZ. Hanno Loewy übt in der taz Kritik an A. Dirk Moses.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.10.2021 finden Sie hier

Internet

In Frankfurt entstehen immer mehr Serverfarmen, die einen höheren Strombedarf haben als alle Einwohner der Stadt zusammen. Niklas Maak spricht für die FAZ mit dem Architekten Architekten Karsten Spengler über ungenutzte Potenziale dieser Kathedralen der Spätmoderne: "Wir reden über einige Hundert Megawatt Abwärme allein durch Rechenzentren für den Raum Frankfurt, also ein Mehrfaches dessen, was nötig wäre, die Stadt Frankfurt vollständig mit CO₂-neutraler Wärme zu versorgen. Um dieses Potenzial zu heben, bedürfte es aber eines klaren politischen Willens und der Schaffung eines verlässlichen rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmens für mögliche Dienstleister, also kluger Regulierung."
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Stichwörter: Serverfarmen, Regulierung

Europa

Der britische Abgeordnete David Amess wurde bei einer "constituency surgery", einer Bürgersprechstunde, von einem offenbar islamistischen Attentäter (mehr hier) durch mehrere Messerstiche ermordet - übrigens genau ein Jahr nach dem Mord an Samuel Paty bei Paris. Den Hintergrund kannte Rafael Behr, der für den Guardian kommentiert, im Moment des Schreibens noch nicht. Behr zeigt, wie sehr ein solcher Mord ein Angriff auf Demokratie selbst ist: "Die Wahlkreissprechstunde der Abgeordneten ist eine der am wenigsten untersuchten Institutionen der britischen Politik, was zum Teil daran liegt, dass so viel von dem, was dort geschieht, vertraulich ist. Jeder, der schon einmal das Privileg hatte, einer Sitzung beizuwohnen, wird wissen, wie intensiv privat und oft erschütternd die Geschichten von verletzlichen Menschen sein können, die verängstigt sind, in einem chaotischen Leben umherirren oder sich als Geiseln einer dysfunktionalen Bürokratie fühlen und und sich an ihren gewählten Vertreter wenden, um Rat - oder Zuflucht - zu erhalten... Die Demokratie schrumpft, wenn jeder Bürger, der in die Tür tritt, einen mörderischen Schatten werfen könnte."

Anastasia Tikhomirova besucht für die taz die Räume der Nowaja Gaseta, deren Chefredakteur Dmitri Muratow den Friedensnobelpreis bekommt. Dort gedenkt man Anna Politkowskajas, die vor 15 Jahren ermordet wurde. Insgesamt, so Tikhomirova, wurden  wurden seit Putins Amtsantritt 37 Journalisten und Journalistinnen in Russland ermordet. "Wer die Redaktion der Nowaja Gaseta betreten möchte, muss am Eingang einen Metallscanner und drei Wachen passieren. Die strengen Kontrollen erklären sich aus der Geschichte der Zeitung, die von staatlicher Repression, Gewalt, Mord und Giftanschlägen auf die Journalist:innen geprägt ist -Taten, die fast immer straflos blieben. Erst vergangenen März versprühte eine als Essenkurier verkleidete Person giftige Chemikalien am Eingang des Gebäudes, glücklicherweise ohne ernsthafte gesundheitliche Folgen für die Mitarbeitenden."

In Frankreich wurde gestern Samuel Patys gedacht, den ein Islamist vor einem Jahr mit einem Messer enthauptete. Zugleich formieren sich die KanditatInnen für den Präsidentschaftswahlkampf. Bis in die politische Mitte herrscht in Frankreich ein sehr einwanderungskritischer Diskurs, notiert Michael Wiegel im Leitartikel der FAZ. An den Rändern verschärfe sich der Diskurs erst recht, wie etwa der Aufstieg Eric Zemmours zeige: "Zemmour ist wegen Rassenhass und Verleumdung wiederholt verurteilt worden. Doch sein Erfolg in den Umfragen beruht just auf dem Tabubruch, den seine Thesen von der 'Umvolkung' und dem 'Zivilisationskrieg gegen den Islam' darstellen. Er erntet Zustimmung auf einem Terrain, das die Rechtspopulistin Marine Le Pen mit ihrem Anspruch auf Salonfähigkeit brachliegen ließ. Jetzt versucht sie mit dem Versprechen über ein Einwanderungsreferendum verlorene Sympathien zurückzuerobern."

Die AfD profitiert davon, dass es sich die demokratischen Parteien prächtig gehen lassen, muss Heribert Prantl in der SZ konstatieren. Nicht nur hat sie trotz der Wahlverluste nur elf Abgeordnete weniger, weil der Bundestag so groß ist (worauf Prantl nicht eingeht). Nun müsste sie nach allen Regeln auch noch eine Parteistiftung bekommen, weil sie zum zweiten mal in den Bundestag gekommen ist. Eine Partei, die immer weiter nach rechts rückt, bekäme dann ihren Anteil aus 700 Millionen Euro jährlich - so hoch schätzt Prantl das kommende Budget der Stiftungen: "Es rächt sich nun, dass es kein Gesetz gibt, das die Finanzierung parteinaher Stiftungen regelt. Sie erhalten vom Staat insgesamt mehr als dreimal so viel Geld wie die ihnen nahestehenden Parteien. Eine damals von Bundespräsident Richard von Weizsäcker eingesetzte Kommission zur Parteienfinanzierung hat schon vor dreißig Jahren die Intransparenz der Stiftungsfinanzierung beklagt." Prantl hofft, dass die neue Regierung in Gesetz anstößt, das die AfD vom Geldregen ausschließt.

Einfach naiv findet Benedict Neff in der NZZ den deutschen Umgang mit den Muezzin-Rufen. Besonders in Köln, wo die Ditib-Moschee schon ihr Versprechen gebrochen habe, ihre Predigten auf Deutsch zu halten. "Wenn man sich vergegenwärtigt, wie Ditib die Kölner Politik ausgetrickst hat, mutet die Erlaubnis für den Muezzin-Ruf besonders grotesk an. Was die Stadtregierung bei allem Bemühen um Toleranz nicht begriffen zu haben scheint: Hier geht es um Politik, Gebietsanspruch, um Zugriff auf Menschen. Ditib verkündet den türkischen Islamismus und Nationalismus von Erdogans Prägung."
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Gesellschaft

Immer mal wieder bringt die taz eine Beilage zum "Thema Anthroposophie", im Grunde eine Anzeigenbeilage, denn die Szene wirbt dort für ihre Produkte und Institutionen. Wolfgang Müller fordert im Editorial dazu auf, die Rassismusvorwürfe gegen Rudolf Steiner differenziert zu sehen. Seine Gedanken seien "von jeder rechten oder gar rassistischen Ideologie entfernt... Interessanterweise schickten die Nazis extra einen Gutachter los, um die Anthroposophen in dieser Hinsicht einschätzen zu können. Ergebnis: Diese stünden den 'Gedanken von Blut, Rasse, Volk' ganz fern. Und die Waldorfschulen, so das NS-Urteil, verfolgten eine 'individualistische, nach dem Einzelmenschen ausgerichtete Erziehung, die nichts mit den nationalsozialistischen Erziehungsgrundsätzen gemein hat'. Die Nazis hatten begriffen, dass die Anthroposophie allem widersprach, was sie propagierten."
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Ideen

Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems und wie A. Dirk Moses Mitunterzeichner der "Jerusalem Declaration on Antisemitism", wendet sich in der taz denn doch recht klar gegen Moses' Thesen über Holocaust und Kolonialismus. Unter anderem kritisiert er Moses' Diagnose vom "Katechismus der Deutschen": "Es gibt in Deutschland schon lange eine intensive Diskussion darüber, wie sehr sich Schuldbewusstsein auch in Selbstgerechtigkeit verwandeln kann, wenn man sich bequem im Stolz auf die eigene Erinnerungskultur einrichtet. Nein, es gab nicht nur die entglittene Walser-Rede und deren Auschwitz-Keulen-Rhetorik, es gab ernsthafte, linke und liberale Kritik an sinnentleerten und politisch missbrauchten Gedenkritualen."

Außerdem: Die Soziologin Gesa Lindemann denkt bei Zeit online über die Tücken des Begriffs "Identitätspolitik" nach.
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Kulturmarkt

Screenshot aus der SZ.
Mit einer doppelseitigen Anzeige werben die Buchverlage in der FAZ und der SZ für ihre Aktion "Initiative fair lesen". Viele bekannte Autoren haben für die Aktion unterschrieben. Die Verlage wehren sich gegen die digitale Ausleihe von Neuerscheinungen in Bibliotheken: "Die erzwungene Online-Ausleihe zu Niedrigpreis-Bedingungen - insbesondere für Neuerscheinungen - wäre ein wirtschaftliches Desaster für alle, die vom Kulturgut Buch leben. Wer die Onleihe für E-Books nahe am Nulltarif fordert, der bedroht die literarische Freiheit in unserem Land."
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Politik

Einige Wochen nach ihrer Machtübernahme lässt sich einiges über das Regime der angeblich geläuterten Taliban sagen. Thomas Ruttig berichtet für die taz: "Binnen weniger Wochen schafften die Taliban etliche Frauenrechte ab. In einer ihrer ersten Amtshandlungen setzten sie die Geschlechtertrennung für die Universitäten in Kraft. In mehreren Provinzen schlossen sie Mädchenschulen, in Kabul lösten sie das Frauenministerium auf und quartierten in dessen Gebäude ausgerechnet die berüchtigte Moralpolizei ein. Frauenhäuser schickten aus Angst vor Repressalien ihre Bewohnerinnen zurück zu ihren Familien. Unternehmerinnen schließen oder verkaufen ihr Business, weibliches Behördenpersonal wurde aufgefordert, zu Hause zu bleiben - oder zieht das von sich aus vor, weil Gerüchte über Zwangsverheiratungen mit Talibankämpfern die Runde machen."
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