Efeu - Die Kulturrundschau

Unsere Suche nach Ägypten

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16.10.2021. Ein Akt später Wiedergutmachung: Das Whitney Museum zeigt abstrakte Kunst, die es nie gesammelt hat - von Frauen. Auch im Marbacher Literaturarchiv sind Frauen enorm unterrepräsentiert. Über eine Wiedergutmachung denkt Leiterin Sandra Richter im Interview mit der Welt nach. Die FAZ besucht im Museum Folkwang eine Ausstellung über kulturelle Aneignung im Tanz. Die Junge Welt hört New Orleans in Mahlers Fünfter, wenn Teodor Currentzis sie mit dem Music-Aeterna-Orchester spielt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.10.2021 finden Sie hier

Kunst

Minna Citron, Death of a Mirror, 1946. Dolan/Maxwell, Philadelphia. Image courtesy the Estate of Minna Citron and Dolan/Maxwell


Das Whitney Museum in New York zeigt in seiner Ausstellung "Labyrinth of Forms" Arbeiten abstrakter Künstlerinnen aus den Jahren 1930 bis 1950. Es ist eine Art späte Wiedergutmachung, lernt Julianne McShane, die die Ausstellung für den Guardian besucht und mit der Kuratorin Sarah Humphreville gesprochen hat: "Indem sie sich der Abstraktion zuwandten, lehnten die Frauen den in diesem Jahrzehnt vorherrschenden Realismus ab, der oft 'bestimmte Themen verstärkte, die als besonders weiblich oder für Frauen geeignet angesehen wurden', wie etwa Gemälde von Müttern und Kindern, so Humphreville. 'Indem sie mit Abstraktionen arbeiteten und daher in vielen Fällen kein offenkundiges Thema hatten, umgingen sie dieses ganze Dilemma', fügte sie hinzu." Ab 1950 wurde die abstrakte Kunst dann extrem männlich. Das galt gewissermaßen auch für die Museen: "'Labyrinth of Forms' ist auch deshalb von Bedeutung, weil 'das Whitney das meiste Material nicht wirklich sammelte, als es entstand', sagte Humphreville und fügte hinzu, dass viele der Werke erst nach Ende der 1970er Jahre in die Sammlung des Museums aufgenommen wurden. Die Ausstellung sei daher eine längst überfällige Korrektur - sowohl für die amerikanische Kunstgeschichte als auch für das Whitney selbst".

Weitere Artikel: In der SZ freut sich Jörg Häntzschel über die Rückgabe der Benin-Bronzen in Deutschland an Nigeria. Brigitte Werneburg berichtet in der taz von der Kunstmesse Frieze in London.

Besprochen werden die Tizian-Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien (SZ) und eine Ausstellung über das Erdölzeitalter im Kunstmuseum Wolfsburg (SZ) und die Ausstellung "Close up", eine Geschichte der Porträtmalerei seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert mit Bildern von Frauen, in der Fondation Beyeler in Basel (FAZ).
Archiv: Kunst

Film

Lukas Foerster schreibt im Filmdienst über die Filme von Abbas Kiarostami, dem das Berliner Kino Arsenal und der Streamingdienst La Cinetek derzeit Retrospektiven widmen.

Besprochen werden Ridley Scotts "The Last Duel" (NZZ, unsere Kritik hier), Gabriele Muccinos Italienfilm "Auf alles, was uns glücklich macht" (online nachgereicht von der FAZ), Chas Gerretsens Fotoband mit Eindrücken von den Dreharbeiten zu Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now" (SZ) und die ZDFneo-Serie "Wir" (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

Mangelnde Repräsentanz von Frauen gibt es auch im Deutschen Literaturarchiv Marbach, wie man aus dem Gespräch erfährt, das Mara Delius für die Literarische Welt mit der Leiterin des Literaturarchivs Sandra Richter führte. Es geht dabei auch um Fragen der Archivführung, was als überlieferns- und archivierenswert angesehen wird: Nur 15 Prozent der Nachlässe im DLA stammen von Frauen. "Die Zahlen dokumentieren ein seit etwa 1750 währendes Ungleichgewicht. Frauen haben aber seit der neuen Frauenbewegung" in den Siebzigern "auch für ihre eigene Entdeckung und Archivierung gesorgt." Es gelte, "diese unterschiedlichen Archive zusammenzudenken - für eine Literatur- und Ideengeschichte, in der das Geschlecht kein Diskriminierungsgrund ist." Dazu passend rezensiert Eva Behrendt in der taz Nicole Seiferts Sachbuch "Frauen Literatur", in dem die Autorin sich genau diesem Sachverhalt widmet.

Für den Freitag spricht der Schriftsteller Christoph Peters mit Nadia Wassef, die vor 20 Jahren in Kairo die feministische Buchhandlung "Diwan" eröffnet hatte (hier unser Resümee des Gesprächs, das die taz vor kurzem mit Wassef geführt hat) und über ihre Erfahrungen nun ein Buch veröffentlicht hat: "Die Tausende von Büchern, die wir ausgewählt, angeboten und verkauft haben, sind so etwas wie das Inhaltsverzeichnis unserer Suche nach Ägypten, nach uns selbst und nach Antworten auf die unendlich verzwickten Herausforderungen, vor die unser durchgedrehtes Bewusstsein uns immer wieder neu stellt. Dieses Buch - die Geschichte von Diwan - ist auch so etwas wie eine Liebeserklärung an mein Ägypten."

Salman Rushdie veröffentlicht derzeit seinen neuen Roman - und zwar auf eigene Faust in Form einer Serie via kostenpflichtigem Abo auf der Newsletterplattform Substack. Am Ende wird man zwar mehr als das Doppelte des im Handel üblichen Preises für den Roman hingelegt haben, stellt Peter Praschl in der Literarischen Welt fest. Doch dafür hat man "das Gefühl, Zeuge einer literarischen Revolution zu werden." Denn Rushdie ist ja kein Newcomer, der "Reputationsmanagement" betreiben müsste. "Deswegen war die Nachricht von seinem Newsletter-Roman so elektrisierend. Ist das eine Entmachtung der Branche? Eine Revolution des literarischen Veröffentlichens?"

Weitere Artikel: Um 1900 hat das Fahrrad seinen ersten Auftritt in der Literatur, schreibt Doris Akrap in der taz. In der "Langen Nacht" des Dlf Kultur widmet sich Elke Pressler der Schriftstellerin Marlen Haushofer. Immer mehr Sachbücher wenden sich der jüngeren Vergangenheit zu, stellt Marc Reichwein in der Literarischen Welt fest. In seiner Kolumne für die Literarische Welt erinnert sich Georg Stefan Toller an den 2007 gestorbenen Schriftsteller Jakov Lind. Die FAZ dokumentiert Ralph Dutlis Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Deutschen Sprachpreis der Henning-Kaufmann-Stiftung.

Besprochen werden Thomas Kunsts "Zandschower Klinken" (online nachgereicht von der FAZ), Hannah Lühmanns "Auszeit" (taz), Catherine Mavrikakis' "Der Himmel über Bay City" (Dlf Kultur), Hillary Clintons und Louise Pennys "State of Terror" (Standard), PeterLichts Debütroman "Ja okay, aber" (taz), Sven Regeners "Glitterschnitter" (NZZ), Edgar Selges "Hast du uns endlich gefunden" (SZ), Simon de Beauvoirs "Die Unzertrennlichen" (Literarische Welt) und Ulf Erdmann Zieglers "Eine andere Epoche" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Nam June Paik und John Godfrey. Global Groove, 1973 (Film Still). © Estate of Nam June Paik, courtesy Electronic Arts Intermix (EAI), New York


Das Museum Folkwang in Essen setzt sich in der Ausstellung "Global Groove. Kunst, Tanz, Performance und Protest" mit Fragen der kulturellen Aneignung im Tanz auseinander. Das ist wichtig und richtig, meint Wiebke Hüster in der FAZ. Aber man muss auch etwas von der Geschichte des Tanzes verstehen, es reicht nicht, nur auf die Ethnie zu achten: "Eine Tanzöffentlichkeit, die sich nicht mehr mit Bewegungen, Schulen, Traditionen und Werken auseinandersetzt, sondern vornehmlich mit den Protagonisten, ihren Hintergründen und Ethnien, verliert über Einzelbeobachtungen den Sinn für die ästhetischen Errungenschaften der Tanzkunst. Darin liegt ohnehin eine Schwäche des Narrativs vom modernen Tanz. Dieses beinhaltet den ständigen Bruch mit dem Voraufgegangenen um des Fortschritts willen, was dazu führt, dass viele individuelle Linien sich im Staub des Vergessens verlieren."

Frankenstein oder eine Frischzellenkur am Schauspiel Hannover. Foto © Katrin Ribbe


Mary Shelleys Schauerroman "Frankenstein" ist der meistgespielte Text der Saison, versichert Christiane Lutz in der SZ. In Berlin wurde er schon gespielt, es folgen Rostock und Bielefeld, Landshut und Aalen, Frankfurt und München. Aber jetzt erst mal Hannover, wo Regisseurin Clara Weyde den Stoff als Stück über Elternschaft inszeniert, die außer Kontrolle gerät, als Frankenstein seiner Kreatur die Liebe verweigert: "In dieser Weigerung liegt der neue Grusel des Romans, der ihn so bühnentauglich macht: Wir kommen nicht mehr umhin, Verantwortung zu übernehmen für unser Handeln. Wer versucht, sich davonzustehlen, den bringt die Natur zur Demut. Frankenstein hat zwar allerlei ethisch und moralisch einwandfreie Motive für seine biologische Bastelei, doch er scheitert daran, in seiner Schöpfung eines neuen Menschen auch wirklich einen solchen zu sehen. Wer ist jetzt das Monster?"

In der nachtkritik ist Jan Fischer nur mäßig angetan von der Inszenierung: "Spannend ist an 'Frankenstein oder eine Frischzellenkur' selbstverständlich die Idee, Shelleys Roman ins Jetzt hinein zu deuten - und die Inszenierung zieht auch viele Fäden vom Jahr 1816 bis zur Bühne des Schauspiels Hannover. Dennoch wird eher grob collagiert als fein geklebt, wird eher Wert darauf gelegt, immer noch ein anderes Thema daraufzulegen als ein gerade angesprochenes und angedachtes zu vertiefen."

Weitere Artikel: Boussa Thiam unterhält sich für Dlf Kultur mit Dietmar Dath über dessen Theaterstück "Restworld", das gestern Premiere am Theater Heidelberg hatte: Anders als im Film wird hier die Geschichte über einen mörderischen Vergnügungspark in der Zukunft aus der Sicht der Roboter erzählt. Zum Siebzigsten des Theatermanns Christoph Marthaler schreiben Christine Dössel in der SZ und Hubert Spiegel in der FAZ.

Besprochen werden Karl Alfred Schreiners Choreografie der barocke Ballettoper "Amors Fest" in München (nmz), Doris Uhlichs Choreografie "Gootopia" im Tanzquartier Wien (nachtkritik), Kay Voges' Inszenierung von Lydia Haiders "Zertretung 1. Kreuz brechen oder Also alle Arschlöcher abschlachten" am Volkstheater Wien (nachtkritik) sowie "Fidelio" in Glyndebourne und "Jenůfa" an der Royal Opera in London (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Wenn Teodor Currentzis und das Music-Aeterna-Orchester in Berlin Mahlers Fünfte geben, dann ist "der parallel vor dem Reichstag stattfindende Große Zapfenstreich der Bundeswehr weder räumlich noch musikalisch weit entfernt davon", schreibt Berthold Seliger in der Jungen Welt. "Doch dann geschieht ein erstes Wunder", denn "der Trauermarsch verbindet sich in Wiener Lässigkeit zur vom warmen Streicherklang geprägten eigentlichen Trauermarschmelodie, die Mahler auch beim 'Wunderhorn'-Lied 'Der Tambourg'sell' verwendet hat, das er in denselben Sommerferien 1901 am Wörthersee schrieb. Doch bei Currentzis wird diese zunächst von den Streichern, dann mit Unterstützung der Holzbläser vorgetragene Melodie zu einem fast fröhlichen, Walzer- oder Ländler-geprägten Umzug. Die Militärkapelle ist hier mindestens beschwipst oder auf Urlaub, wenn nicht gar von der Fahne gegangen ... Das klingt eher nach einer fröhlich-sentimentalen Marchingband im New-Orleans-Stil, 'Nearer My God to Thee', nur eben im Wiener Ländler-Gestus mit diesem wunderbar schlampig herausgezögerten Rhythmus. Kein Marschieren, nirgends. Und Trauer? Nun ja." Im Tagesspiegel resümiert Ulrich Amling den Abend. Und Miriam Damev vom Standard konnte Currentzis und sein Orchester in Luzern aus nächster Nähe beobachten.



Einen "unverfroren emotionalen Herbst" sieht Tobi Müller von ZeitOnline mit den neuen Musikvideos von Tocotronic (oben, gemeinsam mit der Sängerin Soap & Skin) und Adele (unten, inszeniert vom Autorenfilmer Xavier Dolan) heraufdämmern. Es gibt um Liebe, den Tod und die Rückkehr daraus ins Leben. "Herrlich" ist es aber auch, "wie Dolan etwa die Extremnägel von Adele in Szene setzt: von ganz nah, wie sie das Tape einschiebt, von etwas weiter weg, wenn sie ihren Arm aus dem fahrenden Auto hält und die Hand wie eine Raubtierkralle mit langen Klingen wirkt. Am Ende haben wir Adele zwar wieder in Farbe, sie lacht sogar. Doch ist noch menschlich, wer den Tod überwindet und zurück ins Leben findet?" Über Adeles Video schreibt außerdem auch Ane Hebeisen im Tages-Anzeiger.



Weitere Artikel: Elisabeth Bauer besucht für die taz den Club , der für Kiew das ist, was für Berlin das Berghain ist. Guido Holze stellt in der FAZ die koreanische Pianistin Jung Eun Séverine Kim vor, die für den Internationalen Deutschen Pianistenpreis nominiert ist. Der Tagesanzeiger plaudert mit Helene Fischer über deren neues (in der NZZ besprochenes) Album. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Gisela Thomas über Ralph McTeels "Streets of London".

Besprochen werden John Williams' Debüt bei den Berliner Philharmonikern (Tagesspiegel), ein Konzert des hr-Sinfonieorchesters unter Marin Alsop (FR), eine konzertante Prager Aufführung von Alexander Zemlinskys Opernfragment "Malva" nach Maxim Gorki (online nachgereicht von der FAZ), eine Deluxe-Ausgabe von "Let it Be" der Beatles (Pitchfork), sowie neue Alben von Karen Peris (taz), Coldplay (Tagesspiegel, ZeitOnline) und Magdalena Bay (Pitchfork). Wir hören rein:

Archiv: Musik