9punkt - Die Debattenrundschau

Also macht er die Hecke weg

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2021. Im Spiegel stellt sich der linke Intellektuelle Didier Eribon gegen hypersensible Wokeness und strenges Gendern. In der taz fragt der Philosoph Axel Honneth, ob den Menschen in der Wirtschaft die Demokratie ausgetrieben wird. Der FAZ schwant, dass "Bio" auf dem Land schwieriger ist als in der Stadt. In der NZZ erzählt  der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi, wie er in in Algerien in Antisemitismus geschult wurde. Die FR erinnert an die vor zweihundert Jahren geborene Frauenrechtlerin und Autorin Luise Büchner.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.06.2021 finden Sie hier

Ideen

In einem leider etwas sprunghaften Spiegel-Interview verteidigt der französische Intellektuelle und Autor Didier Eribon soziale Bewegungen gegen die Identitätspolitik, grenzt sich gegen die Hypersensibilitäten der amerikanischen Wokeness ab und plädiert für praktikables Gendern: "Ich finde, dass das Gendern Texte recht unleserlich macht. Wichtiger als mein ästhetisches Empfinden ist aber etwas anderes: Die Beherrschung der Grammatik ist ein anspruchsvolles Klassenprivileg. Sie ist einer der Hauptfaktoren für die Eliminierung von Arbeiterkindern aus dem Schulsystem, der Universität und den nicht handwerklichen Berufen... Sprache darf sich ändern, und sie ändert sich. Wir müssen aber eher vereinfachen, statt alles komplexer zu machen. Es wäre paradox, wenn ein Projekt, das geschlechtsspezifisch inklusiv sein will, die Ausgrenzung sozialer Schichten festigt."

In der taz fragt der Philosoph Axel Honneth, wie Menschen für die Teilhabe an der Demokratie motiviert werden können, wenn sie in der Arbeitswelt nicht die Erfahrung machen, dass diese gefragt ist: Die Teilnahme an der demokratischen Öffentlichkeit, schreibt Honneth, verlange Selbstachtung und Selbstwertgefühl: "Ohne Vertrauen darauf, dass die eigenen Stellungnahmen es wert sind, öffentlich gehört zu werden, mangelt es den Bürgerinnen und Bürgern am Mut, sich an demokratischen Auseinandersetzungen mit eigenen Beiträgen zu beteiligen. Will man zu einem umstrittenen Thema in aller Öffentlichkeit Position beziehen, muss man annehmen können, dass die eigenen Äußerungen von den anderen Teilnehmern für sinnvoll und zweckdienlich gehalten werden. Das Gefühl, als eine verlässliche Diskussionspartnerin zu gelten, entsteht aber nicht erst in den Foren der demokratischen Öffentlichkeit. Es bildet sich in einer langen Vorgeschichte. Wer in seiner Arbeit keine soziale Anerkennung genießt, wer hier nicht als jemand gilt, der allgemein geschätzte Fähigkeiten beherrscht und einen wertvollen Beitrag erbringt, der wird auch nicht über das nötige Selbstwertgefühl verfügen, um in politischen Auseinandersetzungen seine Meinung ohne innere Bedrängnis kundzutun."

Was der amerikanische Historiker A. Dirk Moses in seinem Wellen schlagenden polemischen Text als den "Katechismus der Deutschen" bespottete, der sie innerlich zwinge, den Holocaust als singular anzusehen (unsere Resümees), heißt bei den Rechtsradikalen "Schuldkult", ätzt Alan Posener in der Welt und sieht auch sonst von dem amerikanischen Historiker einige revisionistische Narrative einfach von rechts auf links gedreht: "Nun ist die Tatsache, dass Moses mit seiner Polemik den Rechten dient, kein Beleg dafür, dass seine Behauptungen nicht stimmen. Wir haben aber oben gesehen, dass es den Katechismus nicht gibt, erstens. Zweitens aber begründet Moses die Gewöhnlichkeit des Holocausts durch eine haarsträubende Verniedlichung des Nationalsozialismus: 'Das Nazi-Reich war ein kompensatorisches Unternehmen, das permanente Sicherheit für das deutsche Volk anstrebte: Nie wieder sollte das Volk z.B. einer (sic) Hungersnot erleiden müssen, wie es sie in der Blockade der Alliierten während des Ersten Weltkriegs erlebt hatte...'"

Thomas Wessel ist Pastor in Bochum. Als solcher kann er beurteilen, "in welchen Metaphern Moses spricht und was er mit ihnen transportiert". Moses wählt die religiöse Sprache bewusst, schreibt Wessel bei den Ruhrbaronen. Und es wimmelt in seinem Artikel von "Häresieprozessen, Exorzismen, Hohepriestern, Katechismus, Glaubensartikeln" und so weiter. Am meisten stutzt Wessel aber bei der von Moses eingeführten Figur des "selbsternannten Hohepriesters", denn hier schließe die Koryphäe des Postkolonialismus an klassische christlich-antisemitische Denkfiguren an: "Der Hohepriester ist eine jüdische Figur. Und nicht irgendeine." Bis zur Zerstörung des Tempels durch die Römer war er "der höchste Repräsentant des jüdischen Volkes". In christlich-antisemitischer Sicht bringt der Hohepriester Pontius Pilatus dazu, Jesus kreuzigen zu lassen, so Wessel. "Warum um alles in der Welt baut Moses diese Figur des Gottesmörders, Urmodell jüdisch-geheimer Macht, in seine Metaphern-Welt ein? Will er andeuten, dass es die Juden seien, die heute das Denken in Deutschland bewachen? Die ihre Agenda herunterbeten und Unschuldige denunzieren und Häresieprozesse führen gegen Moses so wie Kaiphas gegen Jesus?"
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Gesellschaft

In der NZZ erzählt der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi, wie er von klein auf in Antisemitismus geschult wurde: Alles Negative wurde im Algerien seiner Kindheit mit Juden oder dem Staat Israel in Verbindung gebracht: "Schon mit vier oder fünf Jahren hörte ich zum ersten Mal das Wort 'Jude' (im Algerischen: 'yhudi') in der Koranschule. Mein damaliger Koranlehrer sagte einem Jungen: 'Du Jude, benimm dich' ('Ya l-yhudi traba'). Ich wusste nicht einmal, was das Wort bedeutet. Aber für mich war es wichtig, dass ich mich gut benehme, damit ich nicht 'Jude' genannt wurde. Auch während meiner Grundschulzeit hörte ich immer wieder während des Unterrichts, dass Lehrer vom Wort 'Jude' Gebrauch machten, um Schüler zu beleidigen."
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Europa

Für die französischen Präsidentschaftswahlen fürchtet Nils Minkmar in der SZ das Schlimmste, auch weil Angela Merkel so viele von Emanuel Macrons europäischen Initiativen hat versanden lassen. Das Land ist erschöpft, deprimiert und auf sich selbst zurückgeworfen, Marine Le Pens Rassemblement National wird immer stärker: "Es ist nicht mehr auszuschließen, dass Le Pen gewinnt ohne zu kämpfen, weil ihr Sieg das Narrativ einer perversen Nostalgie so perfekt bedienen würde: Alles wurde immer schlimmer. Dann hat sich Frankreich auch noch der extremen Rechten hingegeben. Man setzt dem Abstieg noch einen drauf, indem man die Wohnung in Brand setzt."

In der FAZ sammelt Wiebke Hüster einige Beispiele aus der realen Landwirtschaft, um der städtischen Bevölkerung aufzuzeigen, wie schwierig die Agrarwende tatsächlich ist: "Manche Landwirte machen genau so viel Naturschutz, wie die EU fördert, und manche betrügen selbst dabei. Manchmal denkt etwa ein Weinbauer, er würde nicht erwischt. Es stört ihn vielleicht die breite Hecke in seinem Weinberg. An seinem pfälzischen Südhang könnten schließlich Reben stehen, wo jetzt Vogelgezwitscher aus undurchdringlichem Blattwerk klingt. Also macht er die Hecke weg. Er wird aber doch erwischt. Danach darf er den ganzen Hang nicht mehr bewirtschaften. Dem benachbarten Weinbauern, einem engagierten Naturschützer, gestattet er trotzdem nicht, aus der Brache eine Blühwiese zu machen, für Bienen, andere Insekten, für Hasen, Rebhühner und Fasanen. 'Nein', sagt er, einfach aus Prinzip, 'nein'."
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Politik

Zurecht, findet Felix Lee in der taz, störe sich Kanzlerin Angela Merkel an der Scheinheiligkeit der USA, die sich jetzt als Wohltäterin aufspiele, nachdem sie monatelang alle internationalen Impfstoffprogramme blockiert habe. Aber das erklärt ihre kühle Reaktion auf Joe Biden nur halb, meint Lee: "Der weitere Grund für ihre Zurückhaltung ist aber zu kurz gedacht - und feige: Gerade Deutschland will China nicht verärgern. Bidens großes Projekt ist ein Gegenprogramm zur neuen Seidenstraße, dem gigantischen Investitionsprogramm, mit dem Peking immer mehr Länder des Globalen Südens an sich bindet. Die westlichen Industriestaaten hatten dem bislang wenig entgegenzusetzen. Unter dem Label 'Build Back Better World'' (B3W) präsentieren die USA nun ein Gegenmodell, offiziell mit dem Ziel, in weniger entwickelten Ländern nachhaltige Infrastrukturprojekte zu fördern und damit Alternativen zu den chinesischen Investoren zu bieten. Aber das eigentliche Ansinnen der USA ist klar: China in Schach zu halten. Da sollte die Bundesregierung mit ganzem Herzen dabei sein."
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Geschichte

In der FR erinnert Arno Widmann an die vor zweihundert Jahren geborene Frauenrechtlerin und Autorin Luise Büchner, die heute heillos im Schatten ihres Bruders Georg steht: "In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Ludwig und Luise Büchner weitaus bekannter. Die Bedeutung ihres genialen Bruders war keinem der Geschwister klar. Luise war zum Beispiel gegen die von Karl Emil Franzos geplante Veröffentlichung des Woyzeck-Fragmentes. Nicht etwa wegen Franzos' massiver Eingriffe in den Text, sondern weil sie fand, das Werk schade dem Ansehen ihres Bruders. Es ist eine beeindruckende Familienkonstellation. In einer Generation Georg, Luise und Ludwig. Davor fast nichts und danach wieder nichts. 'Nichts' ist natürlich Unsinn, aber es verblüfft doch die Explosion von Kreativität in dieser einen Generation. Und nur dort. Wie kommt sie zustande? Warum verpufft sie wieder? Anders als bei den Bachs. Georg und Ludwig, beide werden sie Mediziner wie der Vater. Die Tochter wäre es wahrscheinlich auch geworden. Familien sind rätselhafte Brutstätten."
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Stichwörter: Büchner, Luise