9punkt - Die Debattenrundschau

Radikal vom Ursprung gelöst

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2021. Guardian und NZZ machen sich Gedanken über die "Laborleck"-Hypothese, die ein "moralisches Erdbeben" auslösen könnte. Die SZ greift die von Götz Aly angestoßene Diskussionen über Knochenfunde auf  dem Gelände der FU und ihre mögliche Herkunft aus Auschwitz auf. Faktisch falsch findet Jürgen Kaube in der FAS A. Dirk Moses' "Katechismus"-These, nach der Deutschland sein Selbstverständnis in Bezug auf den Holocaust definiert habe. Aber im Blog New Fascism Syllabus stimmen immer neue Professoren in Moses' Katechismus ein. Und was Carolin Emcke bei den Grünen gesagt hat, kann man sicher schnell vergessen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.06.2021 finden Sie hier

Politik

Der nigerianische Aktivist Ayo Adedoyin ruft die westlichen Länder bei politics.co.uk auf, Nigeria im Kampf gegen immer neue Entführungen von Schülern und Schülerinnen durch Boko Haram zu unterstützen: "Die jüngste Entführung von 136 Schulkindern im Alter von fünf Jahren ist nur ein weiterer aufsehenerregender Vorfall in einer immer länger werdenden Liste von Massenentführungen von Kindern. Sehr oft führen diese zur sofortigen Schließung aller umliegenden Schulen und große Geldsummen fließen direkt in die Hände derer, die noch mehr Terrorismus schüren."

In der Welt macht Michael Wolffsohn einen Vorschlag zur Lösung des Nahostkonflikts: Keine Zweistaatenlösung, sondern ein Staatenbund. "Die beiden Bundesstaaten Israel und Palästina bilden einen Staatenbund 'Israel-Palästina' als Wirtschafts-, Zoll-, Währungs- und Finanzunion. Der Ansatz entspricht dem der Europäischen Integration. Damit sich die einstigen und potenziellen Feinde nicht wieder ineinander verbeißen, werden sie mit- und ineinander verzahnt. Feindseligkeiten würden so für jede Seite zumindest ökonomischer Selbstmord. Frieden würde durch Föderalismus herrschen, es wäre eine Vernunft-, keine Liebesheirat."

Außerem: In der taz liest Dominic Johnson neue Bücher über den Völkermord in Ruanda.
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Ideen

Nun greifen auch die Feuilletons die Debatte um A. Dirk Moses' Pamphlet gegen den "Katechismus der Deutschen" auf (unsere Resümees). In der FAS findet Jürgen Kaube schon die Behauptung, der Bezug auf  den Holocaust habe das bundesdeutsche Selbstverständnis nach dem Krieg geprägt, faktisch falsch: "Im Kontext der bundesrepublikanischen Staatsgründung spielte die Absetzung vom Staat Hitlers eine Rolle, auch die Konfrontation mit dem Kommunismus, aber der Holocaust keine. Die Gesellschaft Konrad Adenauers und noch Willy Brandts hatte andere Gesichtspunkte. Als dann allmählich durch Forschung, Massenmedien und lokale Initiativen die Beschäftigung mit dem Judenmord prominent wurde, bestand wiederum gar kein dringliches Bedürfnis mehr, die Bundesrepublik durch eine Geschichte angenommener Schuld zu legitimieren."

Die "Katechismus"-Debatte ist auch weitgehend eine Debatte von Nichtdeutschen über Deutschland und von Professoren, die an amerikanischen oder britischen Unis lehren, auch wenn sie aus Deutschland kommen. Dort ist der antirassistische Konsens, der den Holocaust als Genozid unter vielen betrachtet, längst etabliert, scheint es. So stellt es in New Fascism Syllabus etwa der ideenhistoriker Sébastien Tremblay dar, der an der FU Berlin  lehrt: "Dirk Moses' Beitrag in Geschichte der Gegenwart hat eine Welle von Reaktionen ausgelöst. Für diejenigen, die außerhalb Deutschlands leben, sogar für Spezialisten, die sich mit der deutschen Geschichte beschäftigen, mögen der Zorn und die Giftigkeit einiger Reaktionen überraschend gewesen sein." Er selbst habe den "Katechismus" von seiner Warte als queerer Histoiker in Frage stellen gelernt: "Als queerer Wissenschaftler, der über queere transatlantische Erinnerungen an den Nationalsozialismus arbeitet, bin ich besonders daran interessiert, wie weiße schwule Cis-Männer wie ich, Männer, deren Geschlechtsidentität mit ihrem Geburtsgeschlecht übereinstimmt, den Katechismus als Waffe benutzten und sein Evangelium predigten, um eine Selbstreflexion über Rassismus zu vermeiden."

Außerdem schreiben im New Fascism Syllabus noch Fabian Wolff, der darlegt, dass Moses' Katechismus natürlich nur ein westdeutscher sei (hier), die Rechtsprofessorin Christiane Wilke (hier) und der Islamwissenschaftler Ussama  Makdisi (hier), der es ganz unverblümt so ausdrückt: "Die Nachfahren der Täter des Holocausts haben die Sünden ihrer Vorfahren gesühnt, indem sie sich moralisch und materiell zu einem fremden Staat bekannten, der wiederum den Anspruch erhebt, das jüdische Volk zu vertreten." Das führe dazu, dass Palästina nicht nur ignoriert werde "weil es nicht-westlich ist. Es wird aktiv verleugnet und unterdrückt... Palästina ist zutiefst und und auf paradoxe Weise unsichtbar in Deutschlands ausgeklügeltem moralischen Kalkül der historischen Reflexion."

Die Ethnologin und Islamforscherin Susanne Schröter legt in der FAZ (Gegenwartsseite) einen Essay über die Tücken des Begriffs "Kulturelle Aneignung" vor. In seinem heute vulgarisierten Verständnis zementiere er "auch die Vorstellung, Menschen seien unentrinnbar an gewisse äußere Merkmale gebunden". Dabei, so Schröter, war dieser Begriff ursprünglich positiv gemeint: "Kullturelle Aneignung war das Zauberwort, das man verwendete, wenn man den erfolgreichen Widerstand autochthoner Gesellschaften gegenüber einem dominanten Westen hervorheben wollte. Gemeint war, dass Gesellschaften des globalen Südens selektiv Dinge aus dem Norden aufgriffen und für eigene Zwecke nutzbar machten. Dabei wurden Bedeutung und Gebrauch nicht selten radikal vom Ursprung gelöst."
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Geschichte

In der SZ fragt Lothar Müller, warum keine Archäologen zugezogen wurden, als bei Ausschachtungsarbeiten rund um die Universitätsbibliothek in Berlin Dahlem im Sommer 2014 Knochenfragmente gefunden wurden. Auf dem Gelände stand früher das Kaiser-Wilhelm-Institut, das die Rassen- und Geburtenpolitik der Nazis wissenschaftlich unterfütterte und die Zwillingsforschung Joseph Mengeles unterstützte. Die Knochen wurden inzwischen eingeäschert. "Die Herkunft der Knochen aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut ist also so gut wie sicher, wo sie aber zuvor waren, lässt sich nicht bestimmen. Der Verdacht, dass ihre Herkunftsgeschichte nach Auschwitz und zu Josef Mengele führt, kann nicht zur Gewissheit werden. Er bleibt aber bestehen."
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Europa

Der Streit zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH hat mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens der Brüsseler Kommission gegen Deutschland eine neue und ganz unnötige Steigerung erfahren, warnt der Europarechtler Ulrich Haltern in der SZ. Hier wird eine ganz falsche, weil unlösbare Frage gestellt, meint er. Die richtige Frage wäre: "Wie viel und wie tiefe Integration wollen wir? Das hängt auch davon ab, bis wann wir uns als demokratisch selbstbestimmt und ab wann wir uns als fremdbestimmt ansehen. Dies ist nicht nur eine Sache von Verfahren, sondern auch von politischer Identität und den damit verbundenen Vorstellungsräumen dessen, was eine politische Gemeinschaft ist und ausmacht. Und hier ist die Europäische Union noch immer am deutlich dünneren Ende der Konstitutionalismus-Skala angesiedelt, während sich die Mitgliedstaaten am dichteren Ende befinden, wo Normen mit ins Individuelle wirkender kollektiver Identität unterlegt sind. Die dichtere Ordnung erwehrt sich des Streamlinens durch die dünnere Ordnung, und exakt dies wird vom Verfahren bleiben: der Eindruck von Prinzipienreiterei, die zwar funktional irgendwie verständlich, aber doch unangemessen, ja fast illegitim ist."

Auf dem Parteitag der Grünen hat sich Carolin Emcke gegen "Relativismus" gewandt, den sie nur rechts vermutete, und eine neue Aufklärung gefordert (Video). Sie warnte vor dem Blühen immer neuer Verschwörungstheorien. Ein Satz von ihr sorgte für eine der heute üblichen Twitter-Aufgeregtheiten: "Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen und die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscher."

Alan Posener antwortet in der Welt am Sonntag auf ihre Anmerkung. Sicher nicht böse gemeint, aber eine unverzeihliche Dummheit, findet Posener: "Nein, der Judenhass wird nicht ersetzt durch den Hass auf Klimaforscherinnen. Wir leben immer noch in einem Land, in dem man Juden rät, die Kippa in bestimmten Vierteln und bei bestimmten Anlässen abzulegen. Gerade in diesen Tagen beeilt sich ein deutscher 'Genozidforscher' nach dem anderen, einem angeblichen 'deutschen Katechismus' abzuschwören, dem zufolge der Holocaust ein einmalig böses Verbrechen war." Im selben Artikel attackiert Posener übrigens auch die Anzeige der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" gegen Baerbock (unser Resümee). Sie habe "ein uraltes antijüdisches Motiv wiederbelebt, dem zufolge die Juden die Vertreter des 'unerbittlichen Gesetzes' seien, die Christen aber die Vertreter der Freiheit".

Die Süddeutsche Zeitung nimmt ihre Kolumnistin (anders als neulich Helmut Mauró, mehr hier) in Schutz. "Carolin Emcke wird gezielt verunglimpft", angetrieben durch die Bild-Zeitung, klagt Ronen Steinke. Man könne allenfalls kritisieren, "dass Emckes Aufzählung der heutigen Betroffenen von Hetze noch zu kurz ist. Auch Muslime stehen im Fadenkreuz digitaler Schmierkampagnen. Ganz an den Haaren herbeigezogen ist dagegen der Vorwurf, der nun Emcke gemacht wird. Juden in einer Aufzählung neben anderen Menschen zu nennen, die angefeindet werden - das 'bagatellisiert' nicht, wie die Welt am Sonntag behauptet, 'das Leid der Juden'." Auch Judith Liere sieht Carolin Emcke bei Zeit online "mit Absicht missverstanden". Klaus Hillenbrand merkt in der taz an: "Während Virologen und Klimaforscher sich ihren Beruf aussuchen können, besitzen Jüdinnen und Juden tatsächlich nicht die Möglichkeit, ihre Herkunft zu wechseln." Mehr auch bei den Ruhrbaronen -Thomas Wessel setzt sich hier ein bisschen eingehender mit Emckes Argumentation auseinander.

Leider muss man sehr wohl über das Verhältnis der Ostdeutschen zur Demokratie nachdenken, findet die Schrifstellerin Anne Rabe bei dlfkultur. Denn die Wahl in Sachsen-Anhalt hat sich wieder mal gezeigt, dass die AfD gerade bei den jungen Wählern populär ist - bei Wählern unter 45 ist sie stärkste Kraft: "Die Jungen im Osten, welche die DDR allenfalls als Kinder erlebten, haben zu großen Teilen ein positives Verhältnis zu antidemokratischen Positionen. Laut Leipziger Autoritarismusstudie von 2020 sehnen sich sogar mehr als 15 Prozent der Ostdeutschen unter 30 nach einer rechtsautoritären Diktatur. Im Westen sind es nur etwa zwei Prozent der Gleichaltrigen."
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Wissenschaft

Stephan Russ-Mohl kritisiert in der NZZ die Medien, die die These, das Coronavirus sei in einem chinesischen Forschungslabor entstanden, immer wieder als Verschwörungstheorie abgetan hatten, statt sich mit den Fakten, die dafür bzw. dagegen sprechen, auseinanderzusetzen: "Wäre das Virus tatsächlich aus einem Labor entwichen, wäre das im Übrigen ein starker Beleg für unverantwortbare Forschungsaktivitäten. Dass dies zumindest möglich ist und dass vergleichbare Forschungsarbeiten wohl auch anderswo hinter verschlossenen Türen stattfinden, sind die eigentlichen beunruhigenden 'News'. Denn die Türen sind eben womöglich doch nicht 100-prozentig verschließbar. Diese Nachricht ist freilich weder ganz neu noch wirklich nachgewiesen, sondern 'nur' plausibel."

Im Guardian wünschte sich Stephen Buranyi, es gäbe die Möglichkeit herauszufinden, wie das Virus in die Welt kam. "Zwar wurde gesagt, das sei epidemiologisch gesehen nicht wirklich wichtig. Labor oder nicht, die Pandemie hat stattgefunden und dauert noch an. Aber ihren Ursprung zu finden, wäre von enormer Tragweite. Ein natürlicher Ursprung würde jede einzelne Person freisprechen, aber weiter bestätigen, dass unsere die Natur umgebende Welt eine pandemische Krankheit in einer noch nie dagewesenen Rate ausbrütet. Ein Laborleck würde die Arbeit der wissenschaftlichen Forschung für ein ganzes Leben beflecken und einigen der schlimmsten Leute im Kulturkampf - teilweise - Recht geben. Ich denke, ich würde den ersten Fall bevorzugen, aber noch mehr als das, würde ich gerne die Wahrheit wissen."

Ebenfalls im Guardian warnt Thomas Frank: "Sollte sich tatsächlich herausstellen, dass die Laborleck-Hypothese die richtige Erklärung ist - dass das gemeine Volk der Welt in ein reales Laborexperiment gezwungen wurde, und zwar zu enormen Kosten -, dann ist ein moralisches Erdbeben im Anmarsch. Denn wenn die Hypothese richtig ist, wird den Menschen bald dämmern, dass unser Fehler nicht unzureichende Ehrfurcht vor Wissenschaftlern war, oder unzureichender Respekt vor Fachwissen, oder nicht genug Zensur auf Facebook. Es war ein Versagen, über all das kritisch nachzudenken und zu verstehen, dass es so etwas wie absolute Expertise nicht gibt. Denken Sie an all die Katastrophen der letzten Jahre: wirtschaftlicher Neoliberalismus, zerstörerische Handelspolitik, der Irak-Krieg, die Immobilienblase, Banken, die 'zu groß sind, um zu scheitern', hypothekarisch gesicherte Wertpapiere, die Hillary-Clinton-Kampagne von 2016 - all diese Katastrophen wurden verursacht durch die totale, selbstsichere Einstimmigkeit hochgebildeter Menschen, die angeblich wissen, was sie tun, plus die totale Selbstgefälligkeit der hochgebildeten Menschen, die sie angeblich beaufsichtigen."
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Medien

In der NZZ informiert Sarah Pines über einen bebilderten Artikel der New York Times, die Fotos von 69 Kindern veröffentlichte (zwei israelisch, 67 palästinensisch), die alle kürzlich erst ums Leben gekommen sein sollen. "Der Artikel insinuiert, allein die israelische Politik und nicht etwa der Terror der islamistischen Hamas sei für die ohnehin schon prekäre soziale Lage von Kindern in Palästina verantwortlich. Kurz nach dem Erscheinen der Titelseite übte Abraham Foxman, der ehemalige Direktor der Anti-Defamation League, auf Twitter heftige Kritik an der Times. 'Ich kündige mein Abo bei der NY Times', so schrieb er - nachdem er mit ihr aufgewachsen und von ihr geprägt worden sei. Aber die heutige 'Ritualmordlegende' auf der Frontseite sei einfach zu viel." Inzwischen hat sich offenbar herausgestellt, dass einige Bilder auch noch Fakes sind.
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