9punkt - Die Debattenrundschau

Kein Drinnen & Draußen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.06.2020. Die Debatte um Achille Mbembe weitet sich immer weiter aus: Nora Bossong verteidigt in der Welt Aleida Assmann, in der FAZ stellt sich Stephan Detjen gegen den BDS-Beschluss des Bundestages. In der NZZ hält Maria-Sibylla Lotter nichts von Sprechverboten zum Schutz von Minderheiten. Das Einzige, was Waldimir Putin noch aufhalten kann, glaubt Viktor Jerofejew in der FAZ, ist der Geschmack der Russen am Leben. Die taz blickt auf das Chaos, das der Regisseur Ilya Khrzhanovsky in Babyn Jar anrichtet. Und die SZ erlebt einen Ort, an den sich Irans religiöse Sittenpolizei nicht traut.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.06.2020 finden Sie hier

Ideen

Vor einer Woche warf Thomas Schmid in der Welt Aleida Assmann und Achille Mbembe Holocaust-Verharmlosung vor. (Unser Resümee). "Ein Vergleich ist keine Gleichsetzung", erwidert nun an gleicher Stelle die Schriftstellerin Nora Bossong und fährt fort: "Man kann Assmanns Versuch, verschiedene Opferperspektiven in Dialog zu setzen, für sozialpädagogisch und naiv halten, wie Schmid dies tut. Doch reicht all das bei Weitem nicht aus, Assmann zur apologetischen Holocaustrelativiererin zu stilisieren. Zudem müsste sich Schmid diesen Vorwurf dann auch selbst gefallen lassen. Denn plausibel ist es einfach nicht, wenn Schmid auf der Singularität von Auschwitz beharren will und dies zugleich durch die Ausdehnung des Singularitätsbegriffs auf den Gulag wieder selbst einreißt. Entweder, etwas ist singulär oder nicht. So, wie Schmid vorgeht, wird es beliebig, und am Ende wäre dann jedes historische Ereignis, mindestens jedes Menschheitsverbrechen für sich singulär zu nennen. Man fragt sich, warum er, wenn er schon Singularität im Plural verteilt, nicht auch den Kolonialismus mit einbezieht, in dessen Geschichte sich Konzentrationslager und Völkermord finden lassen."

Die Pandemie und die Debatte um Achille Mbembe haben taz-Autorin Charlotte Wiedemann gleichermaßen klargemacht, dass es mit der "weißen Immunität" ein Ende hat, zumindest geschichtspolitisch: "Hier ist dort, es gibt kein Drinnen & Draußen mehr, keinen geschützten Binnenraum für eine separate weiße Geschichtsbetrachtung und für eine ungestörte Verschleierung von Täterschaft... Was die Haltung zu Kolonialverbrechen betrifft, so befanden wir uns bis gestern in einer Phase, die den fünfziger und sechziger Jahren in Bezug auf die Schoah ähnelt: keine Täter, keine kollektive Verantwortung; ausweichen, verharmlosen. Wie mit Schuld und Verantwortung aus zwei historischen Epochen umgegangen wird, das darf durchaus verglichen werden. Wäre es nicht wünschenswert, aus den großen Versäumnissen im Umgang mit NS-Tätern zu lernen für den Blick auf koloniale Verbrechen?"

Stephan Detjen, Chefkorrespondent des Deutschlandfunks, stört sich in der FAZ erheblich am Agieren des Antisemitismusbeauftragten Felix Klein in der Mbembe-Debatte, der seine Wortmeldungen nur als Debattenanstöße verstanden wissen, aber doch mit dem Verdikt "Antisemitismus" ein scharfes Schwert führe. Vor allem aber bemängelt Detjen grundsätzlich, dass der BDS-Beschluss des Bundestages die Meinungsfreiheit einschränke, was bereits auch etliche Gerichte festgestellt hätten: "Der liberale Rechtsstaat stellt Freiräume her, in die Regierungen und Verwaltungsbehörden nur noch unter bestimmten Voraussetzungen eingreifen. Die Tatsache allein, dass eine Regierung Steuermittel zur Förderung von Kulturfestivals, Theatern und Bildungseinrichtungen bereitstellt, befugt sie jedenfalls nicht, Rednerliste und Spielpläne mit exekutiver Macht zu redigieren, solange nicht strafrechtliche Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten werden. Einschränkungen der Meinungsfreiheit, wie sie mit dem Vorwurf der BDS-Nähe begründet werden, bedürfen einer klaren Rechtsgrundlage und unterliegen einem vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Prüfungsschema."

In der NZZ hält die Philosophin Maria-Sibylla Lotter nicht viel von Sprechverboten zum angeblichen Schutz von Minderheiten wie sie sich zum Teil in den Gender Studies, Queer Studies, Postcolonial Studies oder den Critical Whiteness Studies durchsetzen: "Wenn potenzielle Opfer abwertender Reden dazu ermutigt werden, sich als hilflose Opfer zu sehen, die durch Verbote vor Verletzungen geschützt werden müssen, wird ihnen eine Macht offeriert, die nichts mit freier Selbstermächtigung zu tun hat. Es ist die Macht, die einem moralischen Verschuldungsmechanismus entspringt und an ihn bindet: Wer ein Narrativ durchsetzen kann, das ihn als Opfer etabliert, erwirbt damit einen Anspruch auf Wiedergutmachung, den er allerdings auch nur um den Preis einlösen kann, dass er sich als Opfer präsentiert und es nicht als eine eigene, sondern als Aufgabe der Privilegierten betrachtet, Benachteiligungen auszugleichen."
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Politik

Nur noch Sarkasmus hat der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew für Wladimir Putin übrig, der mit seiner Verfassungsreform endgültig das demokratische Deckmäntelchen abwerfe. Aber er sieht noch einen Hoffnungssschimmer: "Wie stark wird die neue Verfassung das russische Leben verändern? Das russische Volk, das schwerlich als Subjekt staatlichen Denkens zu bezeichnen ist, wird sie kaum mitbekommen. Doch sowohl die Kreml-Eliten als auch der letzte russische Bauer haben auf ihre Art den Geschmack am Leben gespürt, den die Sowjetunion verdorben hatte. Deshalb wird sich auch die heterogene Gesellschaft der Einschränkung von Lebensfreuden widersetzen, die für den einen aus Yachten und Privatflugzeugen bestehen, für den anderen darin, einfach Spaß zu haben. Dieser Widerstand wird, gemeinsam mit der Entwicklung eigener Werte bei der jungen, nicht deformierten postsowjetischen Generation, verhindern, dass sich das Regime endgültig festigt."
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Wissenschaft

Die FAZ druckt den Aufruf des französischen Biowissenschaftlers Francis-André Wollman zur Gründung einer europäischen Stiftung, die den Kampf gegen Pandemie von Europa aus vorantreiben soll und zwar mit der Hilfe seiner Milliardäre: "Aktionen gegen Covid-19 seitens wohlhabender Europäer sind bislang - gelinde gesagt - ausgesprochen selten und dünn gesät. Deshalb rufen wir vermögende Privatpersonen dazu auf, sich an einer Gemeinschaftsaktion europäischer Bürger zu beteiligen und eine 'European Foundation for the Prevention of Environmental and Health Crises' ('Europäische Stiftung zur Prävention von Umwelt- und Gesundheitskrisen') zu gründen. Sie sollte mit einem Gründungskapital von 20 Milliarden Euro ausgestattet sein, gestiftet von Spendern aus allen 27 EU-Ländern. Schon wenn 100 Spender im Schnitt 200 Millionen Euro gäben, wäre dieses Ziel erreicht. Das wäre keine wirklich gewaltige Anstrengung im Vergleich zu den 50 Milliarden Dollar, die Warren Buffett und Bill Gates für die Bill and Melinda Gates Foundation bereitstellten - immerhin 2,5 Mal so viel wie der hier vorgeschlagene Betrag." Gestern erschien der Text auch in Le Monde.
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Stichwörter: Covid-19, Gates, Bill, Pandemien

Geschichte

Der Historiker Felix Heinert beleuchtet in der taz den sehr verworrenen Konflikt um die Gedenkstätte von Babyn Jar, wo deutsche Einsatzgruppen 1941 innerhalb von 36 Stunden mehr als dreißigtausend jüdische Männer, Frauen und Kinder erschossen. Der hochkarätig besetzte Stiftungsrat des Babyn Yar Holocaust Memorial Center hat ausgerechnet den russischen Regisseur Ilya Khrzhanovsky zum künstlerischen Leiter gemacht, der seither die ukrainische Öffentlichkeit mit immer neuen Ideen schockiert: "Nach Chrschanowskis - angeblich später verworfener - Idee sollte sich das Publikum des Museums die Rolle von Opfern, Tätern oder Mitläufer*innen auswählen, mit dem Versprechen, dass sie nach Computeranalysen ihrer Gesichtsprofile und Eindrücke ihr historisches Doppelgängerprofil auf der Grundlage der Bilder und Daten kennenlernen, und sich selbst. Einmal soll Chrschanowski vorgeschlagen haben, Babyn Jar umzugraben, woraufhin erwidert worden sei, dass man den Ort nicht umgraben könne. Darauf hätte er - so die in die Öffentlichkeit getragenen Zitate - gemeint, dass man nicht umgraben müsse, nur die Idee öffentlich machen."
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Gesellschaft

In der Berliner Zeitung denkt Harry Nutt über Polizeigewalt in den USA und die Randale von Stuttgart nach und erkennt einen allgmein gestiegenen Level an Aggressionen: "Angreifer verfügen über ein feines Gespür für die Schwäche ihrer Gegner, und der Staat bietet derzeit erstaunlich viele offene Flanken für die Gelegenheit, zumindest versuchsweise hineinzustechen. Aus einer Laune heraus richtet sich, nicht nur in Stuttgart, die Aggression plötzlich gegen Repräsentanten der Ordnungsmacht, die leider nicht nur in satirischen Texten, wie zuletzt in einer wenig unterhaltsamen Kolumne in der taz, infrage gestellt wird. Immer häufiger scheinen die Konflikte dabei identitätspolitisch aufgeladen zu sein. Wer angreift, wirft seine vollständige Existenz in den Ring."

Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur gibt in der SZ Einblicke in die Lage des Corona-gebeutelten Iran, wo sich Momente der Vernunft und des Wahns immer wieder abwechseln. Und mitunter gibt es anscheinend auch kleine unbeherrschbare Ausbrüche von Frohsinn: "Um sich ein wenig Freude dabei zu erhalten, scheint iranisches Krankenhauspersonal regelmäßig Tanz-Challenges abzuhalten. In den sozialen Medien kursieren zahlreiche Videos, in denen das Personal in voller Schutzmontur zu traditioneller oder moderner iranischer Musik tanzt. Obwohl gemeinsames Tanzen nur verheirateten Frauen und Männern erlaubt ist und in der Öffentlichkeit verboten ist, schreiten die Behörden nicht gegen die Performances ein. Ein Twitter-Nutzer witzelte daher schon, Krankenhäuser mit Coronavirus-Patienten seien die einzigen Orte, an denen sich die religiöse Sittenpolizei nicht blicken lasse."
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