9punkt - Die Debattenrundschau

Schwarze brauchen die Polizei

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.06.2020. In der Welt fürchtet Thomas Chatterton Williams, dass Donald Trump und die Verfechter der Identitätspolitik Amerika gemeinsam in die Sackgasse führen. Die NZZ fordert mehr ökonomische Gleichheit in den USA. Die gewalttätigste Polizeitruppe der Welt wütet noch immer in Brasilien, gibt J. P. Cuenca zu bedenken: Für Schwarze ist die Militärdiktatur hier nie zu Ende gegangen. Außerdem geißelt John Burnside in der taz Trägheit und Verleugnung im Angesicht einer tödlichen Krankheit. Und der FAZ zufolge hat die Wissenschaft festgestellt, dass die Coronamaßnahmen wirksam waren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.06.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Für den amerikanischen Autor Thomas Chatterton Williams zeigt sich gerade, dass Identitätspolitik nur in eine Sackgasse führen kann, denn Donald Trump ist der größte Identitätspolitiker von allen, sagt er im Welt-Interview mit Wieland Freund: "Meine These, die meines Erachtens gerade bestätigt wird, lautet: Obwohl Rasse nichts Reales ist, ist der Rassismus sehr real und erst er und seine Kategorien, die uns nach Hautfarben trennen, ist es, der uns spaltet. Das Paradoxe ist, das wir den Rassismus nie überwinden oder besiegen werden, wenn wir an den bankrotten Kategorien festhalten, die aus dem Zusammenprall von Europa und Afrika in der Neuen Welt und dem Bedarf nach unbezahlter Sklavenarbeit hervorgegangen sind. Wir müssen deshalb zwei Dinge gleichzeitig tun: Rassismus bekämpfen und aufhören, uns selbst und andere durch seine verzerrenden Prismen zu sehen."

Amerika braucht mehr Gleichheit, sieht Meret Baumann im Leitartikel der NZZ. Denn auch wenn sich in den vergangenen Jahrzehnten einiges zum positiven gewandelt habe im Miteinander von Schwarz und Weiß, sei die immense wirtschaftliche Ungleichheit noch größer geworden: "Im Jahr 2016 verfügte eine durchschnittliche schwarze Familie über einen Zehntel des Vermögens einer weißen Familie und über ein rund 40 Prozent tieferes Einkommen", schreibt Baumann: "Laut Daten der letzten fünf Jahre werden Afroamerikaner doppelt so oft von Polizisten getötet wie Weiße. Ihr Anteil an den Covid-19-Opfern ist mindestens doppelt so hoch wie jener an der Gesamtbevölkerung, und Schwarze sind auch überdurchschnittlich von den Stellenverlusten infolge des Virus betroffen. Fast die Hälfte der Afroamerikaner, aber nur ein Viertel der Weißen hatte im April Mühe, die Rechnungen zu bezahlen. 'Ich kann nicht atmen', die letzten Worte Floyds und der Slogan der Proteste, steht so sinnbildlich für alle diese Notlagen."

Ebenfalls in der NZZ nimmt der konservative  amerikanische Ökonom Glenn Loury im Interview die schwarze Bevölkerung in die Pflicht und warnt davor, die Polizei zum Feindbild zu machen: "Afroamerikaner in den Städten sind in erheblichem Maß Opfer von Raub, Vergewaltigung und Mord, und oft sind die Täter auch schwarz. Der Schutz des Lebens und des Privatbesitzes ist die wichtigste Aufgabe des Staats, und viele Afroamerikaner können sich in ihren Häusern nicht sicher fühlen. Die Polizei ist Teil der Lösung dieses Problems. Schwarze brauchen die Polizei."

Die Polizeigewalt in den USA ist ein großes Problem, aber richtig übel ist sie in Brasilien, meint der Schriftsteller J. P. Cuenca in einem Text, den der Tagesspiegel von der deutschen Welle übernimmt: "In Brasilien enden die Militärdiktaturen immer nur für die Weißen, nie für die Schwarzen", mahnt Cuenca: "Obwohl eine fragile Identitätspolitik in jüngerer Zeit versuchte, die Ungerechtigkeit etwas abzumildern, hat das Land, das als letzte westliche Nation die Sklaverei abschaffte, seinen strukturellen Rassismus beibehalten. Diese Ungleichheit findet sich nicht nur in den Unterschieden im Einkommen und im Zugang zu Bildung und Gesundheit wieder, sondern in viel brutaleren Zahlen. 42.000 Menschen wurden 2019 in Brasilien ermordet, zwei Drittel von ihnen waren schwarze Männer, die meisten zwischen 15 und 29. Auch Brasiliens Polizei tötete 2019 viel, rund 6.000 Menschen. Brasiliens Beamte sind damit die gewalttätigste Polizeitruppe der Welt. Mehr als 75 Prozent ihrer Opfer sind schwarz."

Die Bilder aus den USA entfachen bei Arno Widmann in der FR ein Feuerwerk an Assoziationen. Vor allem aber fühlt er sich an die sechziger Jahre erinnert, als der Aufbruch  der schwarzen Bürgerrechtsbewegung bald in Zerfall und Spaltung mündete: "Noch wenige Jahre zuvor waren weiße Studenten in die Südstaaten gezogen, um dort in Alphabetisierungskursen Schwarzen beizustehen, die sich in Wählerlisten eintragen wollten. Solche Aktionen gerieten jetzt in den Verdacht des Paternalismus. Die Bürgerrechtsbewegung zerfiel in verschiedene einander oft heftig bekämpfende Gruppen. Malcolm X war schon im Februar 1965 von einem Mitglied der 'Nation of Islam', deren Sprecher Malcolm X einst gewesen war, wegen Verrats erschossen worden. Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King in Memphis von einem mehrfach vorbestraften weißen Rassisten erschossen. In mehr als 110 Städten der USA kam es danach zu Protestaktionen, bei denen insgesamt 39 Menschen ums Leben kamen, 2000 verletzt und 10 000 Personen festgenommen wurden."

Die taz übernimmt einem Artikel aus der New York Times, in dem Keeanga-Yamahtta Taylor Polizeigewalt gegen Schwarze ebenso anprangert wie Jahrzehnte der Diskriminierung und den Tod vieler Schwarzer während der Corona-Pandemie: "In diesem Frühling sind im schwarzen Amerika mindestens 23.000 Menschen an Covid-19 gestorben. Das Coronavirus hat eine Schneise durch die schwarzen Gemeinschaften geschlagen." Außerdem bringt die taz eine riesige Recherche zu einer Gruppe von Bundeswehr-Reservisten, die bereits 2015 eine rechtsextreme Preppergruppe gebildet hatte.
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Medien

Über den Rassismus in den USA wird in Deutschland besonders gern in Talkshows diskutiert, die alles andere als divers besetzt sind, ärgert sich Dunja Ramadan und erinnert daran, dass jeder fünfte Deutsche einen Migrationshintergrund hat, aber nur jeder fünfzigste Journalist. "Stattdessen stellen Journalisten Menschen mit Rassismuserfahrungen gern in die Betroffenen- statt in die Expertenecke, während weiße Gesprächspartner als sachliche, unvoreingenommene Beobachter gelten, die das Ganze für die Mehrheitsgesellschaft einordnen können. Was dabei übersehen wird: Objektive, seriöse Berichterstattung über Rassismus ist nur möglich, wenn die Stimmen einer sichtbaren Minderheit Gehör finden."

Weiteres: Bei der New York Times tobt derweil, wie unter anderem The Daily Beast berichtet, die Diskussion um einen Beitrag auf der Meinungsseite, in dem Senator Tom Cotton "Send in the Troops" verlangte: "Bei der Mitarbeiterversammlung am Freitag entschuldigten sich die leitenden Redakteure, einer nach dem andem, für diesen Meinunsbeitrag. Sie mussten auch zugeben, dass die Zeitung tatsächlich Cotton gebeten hatte, das Stück zu schreiben. Der stets in der Diskussion stehende Meinungsredakteur James Bennet gab ein Mea Culpa aus, sein Ressort sei vom Nachrichtenaufruhr überrollt, er werde die Ressortpolitik überdenken."
Archiv: Medien

Europa

Der britische Schriftsteller John Burnside musste Ende April, auf dem Höhepunkt der Pandemie, wegen Herzversagens ins Krankenhaus gebracht werden. Kaum wieder auf den Beinen, rechnet  er in der taz mit der britischen Regierung ab: "Es mag kokett erscheinen, von meiner persönlichen Krise auf das ganze Land zu schließen, aber die Parallelen gibt es zweifelsohne. Wie ich war auch die Regierung ein Opfer von Trägheit und Verleugnung; wie ich steuerte sie in einen fast tödlichen Sturm. Während ich aber heute meine eigene Dummheit bereue, beharren unsere Herrschenden auf ihrer Auffassung von Privilegien und Anspruchsdenken, sie sind zu isoliert in ihrer Abgehobenheit, als dass sie irgendetwas unternehmen würden, um öffentliches Vertrauen wiederherzustellen. Aber so, wie sich diese Farce entwickelt, hege ich allmählich die zarte Hoffnung, dass auch die Briten - ähnlich wie das katastrophale Trump-Regime vielen Leuten die eklatanten Seiten des American Dream aufgezeigt hat - zu begreifen beginnen, wie schlecht wir dastehen, mit dieser pöbelnden, selbstgefälligen Regierungsclique, die aus mächtigen und inkompetenten Millionären besteht, alten Eton-Absolventen und PR-Strategen."
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Wissenschaft

Gesellschaften sind keine physikalischen Körper, exakte Schlussfolgerungen sind selten möglich, betont Sibylle Anderl in der FAZ, doch allen Studien zu Folge, in denen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung untersucht wurden, kommen zu dem Schluss, dass sie wirksam waren. Und: "Modellrechnungen des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung zusammen mit dem Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung zeigen allerdings, dass gesundheitspolitische und wirtschaftliche Interessen weit weniger im Widerspruch stehen, als das gemeinhin angenommen wird: Die Kombination epidemiologischer und ökonomischer Simulationen weist demnach darauf hin, dass vorsichtige, schrittweise Lockerungen der Maßnahmen sowohl die Opferzahlen von Covid-19 als auch die wirtschaftlichen Gesamtkosten minimieren. Der Grund ist einfach: Auch die Wirtschaft profitiert schließlich davon, wenn die Epidemie möglichst schnell unter Kontrolle und das Vertrauen von Konsumenten und Investoren wiederhergestellt ist."
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