Efeu - Die Kulturrundschau

Das süße Versprechen auf egalitäre Nähe

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06.06.2020. "Ein Drittel der amerikanischen Soldaten, die in Vietnam dienten, war schwarz", erinnert Spike Lee im noch vor dem Tod von George Floyd geführten SZ-Gespräch über seinen neuen Film "Da 5 Bloods". In der Welt warnt Vanessa Springora, die mit 14 Jahren ein Verhältnis mit Gabriel Matzneff hatte, davor, den französischen Schriftsteller aus der Literaturgeschichte zu streichen. Die Berliner Zeitung fordert eine Grundsatzdebatte über Berliner Kulturpolitik, Sammler- und Sponsoreninteressen. Und die SZ lernt bei Rudolf Buchbinders Beethoven-Konzert in Bochum leere Konzertsäle schätzen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.06.2020 finden Sie hier

Film

"Da 5 Bloods" von Spike Lee (Bild: Netflix)

Das große Spike-Lee-Gespräch, mit dem das SZ-Feuilleton heute aufmacht, entstand noch vor George Floyds gewaltsamen Tod durch einen weißen Polizisten. Selbstverständlich spielt die Geschichte des US-Rassismus dennoch eine große Rolle, zumal Lee für Netflix gerade den Film "Da 5 Bloods" gedreht hat, in dem eine Gruppe schwarzer Vietnamveteranen an die einstigen Kriegsschauplätze zurückkehrt: "Afroamerikaner kämpfen für dieses Land, seit es existiert. ... Zur Zeit des Vietnamkriegs machten die Afroamerikaner nur etwa zehn Prozent der amerikanischen Bevölkerung aus. Aber ein Drittel der US-Soldaten, die in Vietnam dienten, war schwarz. Das muss man sich mal vorstellen! Die Schwarzen wurden direkt an die Front geschickt. Für mich ist es also sehr bewegend, mich mit Figuren zu beschäftigen, die damit klarkommen müssen, dass man sie um die halbe Welt gekarrt hat, um Menschen zu töten, von deren Existenz sie vorher nichts wussten. Deshalb steht am Anfang des Films auch dieses Zitat von Muhammad Ali: 'Kein Vietcong hat mich jemals einen Nigger genannt.' Ali steht am Anfang, Martin Luther King am Ende des Films, als Epilog."

Wenn es nach Teheran geht, soll der auf der Berlinale und in Cannes preisgekrönte iranische Regisseur Mohammad Rasoulof am heutigen Samstag eine Haftstrafe antreten. Der Termin wurde dabei in den letzten Tagen immer wieder hin und her geschoben, hat Christiane Peitz vom Tagesspiegel erfahren können: "Das Detail verrät viel über ein von Willkür und Unberechenbarkeit geprägtes Justizsystem, mit dem nicht zuletzt auch Künstler und Regimekritiker in Schach gehalten werden. ... Noch hegen Freunde, Kollegen und Unterstützter wie der Hamburger Filmfest-Chef Albert Wiederspiel die Hoffnung, dass der Filmemacher an diesem Samstag vorerst wieder nach Hause darf. Vielleicht geht es ja 'nur' darum, noch ein Exempel zu statuieren."

Außerdem: Die Bundeszentrale für politische Bildung hat Raoul Pecks Dokumentarfilm "I Am Not Your Negro" über James Baldwin gratis online gestellt (hier unsere Berlinale-Kritik).

Besprochen werden Alejandro Landes kolumbianischer Film "Monos", der jetzt einen gleitenden Kinostart erlebt (online nachgereicht von der FAZ) und Zbynek Brynychs auf DVD veröffentlichter Film "Als Hitler den Krieg überlebte" von 1967 (Berliner Zeitung),
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Literatur

Mit 14 Jahren hatte die französische Schriftstellerin Vanessa Springora ein Liebesverhältnis zu dem für seine pro-pädophilen Schriften bekannten und dafür zuletzt in die Kritik geratenen Schriftsteller Gabriel Matzneff. Ihre Aufarbeitung dieses Verhältnisses, das sie heute als traumatisch bezeichnet, und ihre Kritik an Matzneff erscheint in den kommenden Tagen unter dem Titel "Einwilligung". Ihn aus der Literaturgeschichte streichen oder gratismutig auf Distanz gehen hält sie allerdings für den falschen Umgang mit Matzneff, sagt sie in der Literarischen Welt: "Mir wäre es lieber gewesen, wenn Gallimard eine kommentierte Ausgabe von Matzneffs Werken mit Warnhinweis herausgegeben hätte. So hätte man zeigen können, wie sich die Gesellschaft gewandelt hat. Nur auf diese Weise erzielt man Fortschritt. Ich bin gegen Revisionismus. ... Keinesfalls möchte ich den Autoren Maulkörbe verpassen. Es geht hier nicht um Moral, sondern um Recht, auch bei Matzneff. Rassismus und Antisemitismus sind in Frankreich verboten, so auch die Pädophilie. Damals aber hat man den Wert literarischer Texte über das Gesetz gestellt."

Weitere Artikel: Auf Intellectures empfiehlt Thomas Hummitzsch die Krimis des mexikanischen Politjournalisten Jorge Zepeda Patterson. In der NZZ erinnert sich der Schweizer Schriftsteller Fabio Andina an eine prägende Begegnung mit der Beat-Legende Lawrence Ferlinghetti im San Francisco der 90er. Peter Iden verneigt sich in der FR vor T.S. Eliots Gedicht "The Waste Land". Gregor Dotzauer spricht im Tagesspiegel mit den Macherinnen des Poesiefestivals Berlin über die Herausforderungen, ein Literaturfestival online stattfinden zu lassen. In der FAZ erinnert Tilman Spreckelsen an den 1848 gegründeten Frankfurter literarischen Verein Tutti Frutti, dem unter anderem "Struwwelpeter"-Autor Heinrich Hoffmann angehörte. Im Literaturfeature von Dlf Kultur befasst sich Michael Hillebrecht mit nordirischen Autorinnen. Außerdem hat Christian Blees für Dlf Kultur eine Lange Nacht über Charles Dickens produziert. Der Dtv-Verlag hat James Baldwins "Nach der Flut das Feuer" als Gratis-Ebook online gestellt.

Besprochen werden unter anderem Sara Paretskys Krimi "Altlasten" (Freitag), Rachel Cusks "Danach. Über Ehe und Trennung" (taz), Fang Fangs "Wuhan Diary" (SZ), Verena Stauffers Lyrikband "Ousia" (FR), Bernd Cailloux' "Der amerikanische Sohn" (taz), die Ausstellung "Thomas Mann - Democracy will win" im Literaturhaus in München (Tagesspiegel), Nana Kwame Adjei-Brenyahs "Friday Black" (Literarische Welt) und Helen Wolffs "Hintergrund für Liebe" (FAZ).
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Kunst

Über einen Kamm scheren wollen Kito Nedo und Hans-Jürgen Hafner den Abzug der Flick- und der Olbricht-Sammlungen und den drohenden Abgang der Stoschek-Collection nicht. (Unsere Resümees) Eine Gemeinsamkeit machen sie in ihrer Analyse in der Berliner Zeitung dann aber doch aus: In allen drei Fällen geht es um Geld, Mietpreise und Immobilien, worüber allerdings zu selten gesprochen wird: "Oft fehlt eine differenzierte Betrachtung, wer bei diesen Geschichten so alles mitmischt, aus welchem Grund, mit welchen Interessen. Vor allem fehlt eine Grundsatzdebatte darüber, wie staatliche und kommunale Museen, die im Auftrag der Öffentlichkeit die Geschichte der Kunst und ihre aktuelle Gegenwart mit ihren Sammlungen und Ausstellungen bewahren, pflegen und vermitteln sollen, ihrer Rolle gerecht werden sollen, wenn sie von Sammler- und Sponsoreninteressen nicht weniger abhängig sind als von der Kultur- und Stadtplanungspolitik. Beides spielt sich bekanntlich auf vielen Ebenen ab."

Ein bisschen "sperrig", aber durchaus wichtig, auch mit Blick auf den Tod von George Floyd und die Achille-Mbembe-Debatte erscheint Hanno Hauenstein ebenfalls in der Berliner Zeitung das vom Goethe-Institut ausgerichtete digitale Festival Latitude, das Debatten und Kunstbeiträge zur Wirkung und Überwindung postkolonialer Strukturen versammelt: "Im Eröffnungsgespräch diskutierten etwa der senegalesisch-amerikanische Philosoph Souleymane Bachir Diagne und die indisch-deutsche Politologin Nikita Dhawan über Kontinuitäten kolonialen Denkens. Der Stellenwert der Kunst war dabei zentral. Wer bestimmt ihren Wert? Wer ihre Sichtbarkeit und Bedeutung? Die Plünderung afrikanischer Malerei und Bildhauerei und deren  Betrachtung als primitive 'Kindheit der Menschheit' sei eine Bedeutungsebene, von der diese Kunst sich endlich lösen, also 'dekolonisieren' müsse, fordert Diagne. Dabei gehe es um viel mehr als nur die 'kapitalistische Idee der Rückgabe' von Kunstgegenständen, sagt er. Es bedürfe einer 'neuen Ethik' zum Objekt, in der sie neue Bedeutungen annimmt." (Mehr zum Filmprogramm des Festivals in unserer Kolumne "Im Kino".)

Weitere Artikel: Weil die Kunsthalle Wilhelmshaven bis heute geschlossen war, durfte sich das Publikum Exponate aus der Ausstellung "Reiner Maria Matysik - Komm nicht mit" mit nach Hause nehmen, gestern mussten die Objekte allerdings wieder zurück ins Museum gebracht werden, weiß Jens Fischer in der taz: " 'satelliten' betitelte Kristallglaskugeln lagen bei einer Wilhelmshavenerin auf dem Boden. Von innen versilberte Glasamöben, die Matysik 'biomorph 22' taufte, schlummerten auf einem pelzbedeckten Wohnzimmertisch. Eine Freundin des dildoartigen Kunststoffdings 'leidensbefallenes stück' ging mit ihm schlafen." Einen "moralischen Appell" vernimmt Andreas Kilb in der FAZ in der Ausstellung "Zeit-Zeug*innen" im Berliner freiraum für fotografie, die Bilder von Magnum-Fotografen aus fünfzig Jahren zeigt
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Architektur

Viel Platz auf kleinstem Raum entdeckt Oliver Herwig in der NZZ in Köln, wo der Architekt Wolfgang Zeh in einer Häuserspalte, in der vorher eine Garage stand, ein "Bonsai-Haus" gebaut hat: "Das Wohn-Arbeit-Haus, das sich im Grunde um eine einzige Treppe wickelt, spielt mit Räumen, die keine echten Grenzen mehr kennen. Mit seinen Zwischengeschossen und Lufträumen entstand ein begehbares Möbiusband, das immer neue Perspektiven öffnet und damit großzügiger wirkt, als es nach seinen Abmessungen eigentlich wirken dürfte."
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Stichwörter: Zeh, Wolfgang

Bühne

Weitere Artikel: Gerade jetzt braucht es Satire und Humor, sagt der Wiener Kabarettist Alfred Dorfer im taz-Gespräch mit Peter Unfried alle jenen, die eine neue "Ernsthaftigkeit" in Corona-Zeiten begrüßen: "Was dahintersteht, ist der absolute Abwehrkampf gegen Humor an sich. Das war bis 1989 auf Ostdeutschland beschränkt und ist nun massiv geworden. Dem gilt es entgegenzutreten. Witze sind die Möglichkeit der Beherrschten." Für die SZ hat Adrienne Braun einen Parcours durch das Stuttgarter Schauspielhaus unternommen. Besprochen wird Nils Försters Inszenierung "Theater geht" - ein Audiowalk für eine Person in der Berliner Brotfabrik (Berliner Zeitung) und Uwe Eric Laufenbergs Inszenierung von Samuel Becketts "Glücklichen Tagen" am Staatstheater Wiesbaden (FR). Der aktuelle Online-Spielplan der Nachtkritik: hier.
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Musik

So langsam taut der Konzertbetrieb - wenn auch unter Bedingungen von Corona-Vorsichtsmaßnahmen - wieder auf. "Die Versuchung, den Albtraum möglichst schnell zu vergessen und zur gewohnten Bühnenbretterwirklichkeit zurückzukehren, ist übermächtig", seufzt ein ziemlich darbender Reinhard J. Brembeck im SZ-Kommentar, nicht ohne allerdings auch die guten Seiten der letzten Monate zu betonen: "Plötzlich war da die Zeit, nicht von einem Kunstevent zum nächsten hetzen zu müssen. Die Zeit zu verweilen." Auch Ueli Bernays blickt in der NZZ zurück auf die Coronazeit und fragt sich, was vom Großen Streaming bleiben wird: Geprägt war diese neue Form der Kultur durch "schlichte Schauplätze, eine dokumentarische Perspektive und eine unverblümte Kommunikation." Somit ist der Live-Stream für ihn "nicht bloß Symptom für die Kultur des Social Distancing. Es lockt auch mit dem süßen Versprechen auf egalitäre Nähe."

In Bochum gab es auch schon einen ersten Abend vor Publikum: In einem auf 952 Personen angelegten Saal spielte Rudolf Buchbinder vor 152 (von 228 möglichen) Besuchern Beethoven. Von "stehenden Ovationen" berichtet Michael Stallknecht in der SZ, die obligatorischen Blumen nach dem Konzert überreichte ein anrollender Roboter. Der ziemlich leere Saal klingt allerdings "so überakustisch wie sonst nur leere Konzertsäle. Zumal Buchbinder gerade jetzt als älterer Pianist einen schroffen Zugang zu dem Zyklus wählt. ... Ihn interessiert inzwischen vor allem das Ungebärdige, Launische, Rüde an Beethoven, weshalb er die meisten Variationen geradlinig anspielt, kernig im Klang, rasant oft im Tempo. Darunter leidet in dieser Akustik mächtig die Klarheit. ... Doch die wichtigere Nachricht lautet wohl vorerst ohnehin: Ein Klavierabend hat wieder stattgefunden!"

Außerdem: Alexis Petridis hat für den Freitag ein großes Gespräch mit dem Rap-Duo Run the Jewels geführt, deren neue Platte unversehens zum Album der Stunde geworden ist (hier und dort unsere Resümees). In der FAZ gratuliert Edo Reents Tom Jones zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album von Haftbefehl, den ZeitOnline-Rezensent Daniel Gerhardt als "das schlampige Genie, den überkorrekten Schlendrian" würdigt, eine Vivaldi-Aufnahme des Zürcher Ensembles La Scintilla (NZZ), Liam Firmagers Kino-Doku "Suzi Q" über Suzi Quatro (Freitag) und die Box "The Bowie Years" von Iggy Pop (Pitchfork).
Archiv: Musik