9punkt - Die Debattenrundschau

Vicos Endstadium

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.04.2019. Repression im Internet: Die Chinesen haben eine Software entwickelt, die es ermöglicht, die Uiguren als Gruppe zu kontrollieren und überwachen, berichtet die New York Times. In der Daily Mail wendet sich Alan Rusbridger gegen ein "White Paper" der britischen Regierung, das in vagen Begriffen gegen Online-Fehlverhalten vorgehen will. In der taz tritt der ehemalige Whistleblower Daniel Ellsberg für Julian Assange ein. Außerdem: Es ist Karwoche, und in der FAZ verteidigt der Philosoph Otfried Höffe das christliche Institut des Ehegattensplitting.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.04.2019 finden Sie hier

Internet

Die Repressionspolitik der Chinesen gegen die uigurische Minderheit erreicht immer neue Grade der Unheimlichkeit, berichtet Paul Mozur in der New York Times: "Dokumente und Interviews zeigen, dass die Behörden auch ein riesiges, geheimes System fortschrittlicher Gesichtserkennungstechnologie einsetzen, um die Uiguren, eine weitgehend muslimische Minderheit, als Gruppe zu überwachen und zu kontrollieren. Es ist das erste bekannte Beispiel einer Regierung, die willentlich künstliche Intelligenz für 'Racial Profiling' verwendet, sagten Experten."

Der bekannte Whistleblower Daniel Ellsberg verteidigt Julian Assange im Interview mit Dorothea Hahn von der taz. Er fürchtet, dass die Vereinigten Staaten ihre Einstellung gegen ihn verschärfen, sobald er ausgeliefert ist: "Ich glaube, dass diese Anklagen dazu dienten, Großbritannien dazu zu bringen, ihn auszuliefern. Und Ecuador zu ermuntern, ihn fallen zu lassen. Wenn er erst mal hier ist, kann die Anklage erweitert werden. Die US-Regierung wollte einen Angeklagten haben, um die Veröffentlichung von geheimen Daten illegal zu machen. Und sie wollte die einhellige Unterstützung durch Journalisten und die Verfassungsbedenken durch Rechtsgelehrten verhindern."

Im Interview mit Svenja Bergt von der taz freut sich die Politologin Annegret Falter, dass Whistleblower in der EU einen etwas besseren Schutz erhalten sollen - gegen den Widerstand vor allem deutsche Politiker.

Alan Rusbridger, einst Chefredakteur des Guardian, wendet sich in der Daily Mail gegen ein "White Paper" der britischen Regierung, das eine stärkere Internetregulierung durchsetzen will. Rusbridger fürchtet Zensur, denn neben Kinderpornos oder Unterstützung von Terrorismus ist in dem Papier auch viel vager von "Online-Fehlverhalten" die Rede, "das 'unsere gemeinsamen Rechte, Verantwortung und Chancen zu Integration' verletzt. Das ist ein sehr weites Spektrum potenziell kontroversen Inhalts und wirft die Frage nach dem Wer auf: Wer wird entscheiden, ob Inhalte als schädlich gelten und wer soll diesem vermeintlich sichersten Platz der Erde  Regeln geben?" Als schlechtes Beispiel einer überscharfen Internetregulierung beschreibt Rusbridger übrigens das deutsche  Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das bereits - etwa bei Facebook - zu Sperrungen völlig harmloser Inhalte geführt habe.
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Urheberrecht

Das reformierte EU-Urheberrecht wird heute wohl endgültig abgesegnet, melden die Agenturen, hier bei dlf24: "Die Mitgliedsstaaten müssen der Novelle noch einmal zustimmen. Das soll am Rande des Agrarministertreffens in Luxemburg geschehen. Für Deutschland nimmt Ministerin Klöckner teil. Kommt die erforderliche Mehrheit zustande, haben die EU-Länder zwei Jahre Zeit, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen."
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Europa

Dass in der Ukraine ein Fernsehkomiker echte Chancen hat, Präsident zu werden, während die Bekämpfung der Korruption nicht so weit vorgeschritten ist, wie es wünschenswert wäre, liegt auch an der mangelnden Unterstüzung des Landes durch Europa und Deutschalnd, schreibt Richard Herzinger in der Welt: "Die russische Aggression gegen ukrainische Schiffe Ende vergangenen Jahres am Asowschen Meer blieb vonseiten der EU weitgehend folgenlos. Von der Bundesregierung hieß es dazu im Dezember, vor der Verhängung neuer Sanktionen wolle man zuerst versuchen, durch Dialog mit Moskau die Freilassung der nach Russland verschleppten 24 ukrainischen Seeleute zu erwirken. Die aber sind bis heute in russischer Gefangenschaft, so wie rund 70 ukrainische Staatsbürger, die unter willkürlich konstruierten Anklagen in russischen Straflagern festgehalten werden." In der taz betont Barbara Oertel, dass die Ukrainer anders als ihre Nachbarn aus Weißrussland und Russland immerhin eine echte Wahl haben.
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Ideen

Die westlichen Gesellschaften werden immer infantiler, behauptet der stark mit dem italienischen Aufklärungsphilosophen Giambattista Vico argumentierende, in Pessimismus versinkende Kulturphilosoph Robert P. Harrison im Interview mit der NZZ. "Unsere Situation in der entwickelten Welt scheint paradox. Einerseits haben wir Vicos Endstadium erreicht: Wir wissen um die Verbundenheit von Ich, Wir und Welt, wir haben verinnerlicht, dass alles, was auf dem Globus geschieht, auf komplexe Art und Weise miteinander verbunden ist. Was in Indien oder Afrika passiert, betrifft uns hier in den USA. Völlig klar. Wir haben ein Bewusstsein des ganzen Menschengeschlechts. Doch ist diese Identifikation zugleich sehr abstrakt und darum schwach. Wir haben den Bogen überspannt. Nicht mehr jede politische Maßnahme lässt sich im Namen der Globalisierung rechtfertigen, von der angeblich alle profitieren. So bewegen wir uns weg vom Ideal einer universalistischen, aufgeklärten, ökonomisch und kulturell verflochtenen Menschheit hin zu einer Interdependenz neuer Stammesgesellschaften.."

In der Welt plädiert der Schweizer Mediziner Gian Domenico Borasio dafür, Suizid nicht mehr als Selbstmord zu stigmatisieren und auch die Sterbehilfe vorurteilsfreier zu betrachten: "In einigen angelsächsischen Ländern wie zum Beispiel Kanada wird in diesem Zusammenhang von der 'medizinischen Hilfe im Sterben' (Medical Aid in Dying) gesprochen. Diese wird nicht als Alternative zur Palliativmedizin betrachtet, sondern als notwendige zusätzliche Hilfestellung in den wenigen, aber eben leider zweifelsfrei vorhandenen Fällen, in denen auch die beste Palliativmedizin Leiden - physisches wie existenzielles - nicht ausreichend lindern kann. Diese Extremsituationen am Lebensende vom Suizidbegriff zu trennen könnte helfen, einen auch sprachlich vorurteilsfreien Diskurs darüber zu führen, wie wir als Gesellschaft diesen leidenden Mitmenschen - die wir alle eines Tages sein könnten - am besten gerecht werden. Diesen Gedanken weiterzuverfolgen könnte sich für das Bundesverfassungsgericht und vielleicht irgendwann auch für den aufgeklärten Gesetzgeber durchaus lohnen."
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Religion

Es ist Karwoche! In der FAZ denkt "Professor em. Dr. Dr. h.c. mult." Otfried Höffe darüber nach, was heute auf jeden Fall christliche Politik sein müsse. Unbedingt gehört für Höffe das Ehegattensplitting "zu einer wahrhaft christlichen Politik: Weil Eltern eine facettenreiche Verantwortung für das künftige 'Humanvermögen' eines Landes übernehmen, hat der Staat ihnen finanzielle Unterstützung und steuerliche Entlastung zu gewähren. Keinesfalls darf er Ehepartner steuerlich benachteiligen oder das nichteheliche Zusammenleben bevorteilen. Das Nichtbevorteilen betrifft auch die Sorge für die Kinder."
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