9punkt - Die Debattenrundschau

Die Auskunft, es sei kein Platz frei

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.10.2018. Twitter und Facebook sind für die Radikalisierung von Attentätern wie Cesar Sayoc genauso verantwortlich wie rechtsextreme Netzwerke, sagt die New York Times. CNN hat die Radikalisierung Sayocs auf Twitter genauer untersucht. In der NZZ schreibt der Historiker Faisal Devji über die Instrumentalisierung des Islams durch Länder wie Iran, die Türkei und Saudi Arabien. In der SZ fragt die französische Journalistin Cécile Calla, wie es in Deutschland mit der Emanzipation steht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.10.2018 finden Sie hier

Internet

Robert Bowers, Der Attentäter von Pittsburgh, verbreitete seinen Hass auf einer Online-Plattform namens Gab. Aber der Briefbombenleger Cesar Sayoc benutzte Twitter. Sein Konto war nicht deaktiviert worden, obwohl es vor seinen Taten Beschwerden über ihn gab, schreibt Kara Swisher in der New York Times: "Lassen Sie es mich noch einmal sagen: Social Media Plattformen - und Facebook und Twitter sind genauso schuldig wie Gab - sind so konzipiert, dass das Schreckliche doppelt so schnell zirkuliert wie das Gute. Und sie arbeiten mit schlampiger Missachtung der Folgen dieser Hassäußerungen, die zu Katastrophen führt, die sie dann beseitigen müssen."

CNN hat die Tweets von Cesar Sayoc analysieren lassen und herausgefunden, dass er seit April dieses Jahres von Hasstiraden zu Bedrohungen einzelner Personen übergegangen war. "Die Bedrohungen und die offensichtliche Untätigkeit von Twitter werfen neue Fragen zu Social Media und Radikalisierung auf. Social Media Plattformen wie Twitter sind 'Radikalisierungsmaschinen', sagte Jonathon Morgan, der CEO von New Knowledge, zu CNN. Morgans Firma verfolgt Desinformation im Internet und befasst sich seit Jahren mit Online-Radikalisierung. Auf der Seite findet sich auch ein Video-Interview mit der Journalistin Rochelle Richie, die Twitter schon vor einiger Zeit auf Sayoc aufmerksam gemacht hatte.
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Ideen

Der in Oxford lehrende Historiker Faisal Devji beschreibt in der NZZ knapp und anschaulich die verschiedenen Strömungen des Islam mit der jeweils dahinter stehenden Machtpolitik. Eine Zukunft sieht er weder für das iranische noch das saudische noch das türkische Modell, weil sie es nicht schaffen, Islamismus mit Demokratie zu verknüpfen. "So unterschiedlich sie sind, haben sich alle diese Länder im Namen ihres Vormachtstrebens den Islam auf die Fahne geschrieben. Aber gerade die Universalisierung, die mit der allseitigen Inanspruchnahme der Religion einhergeht, bedeutet auch eine Inflationierung. Der Islam selbst lässt sich unter solchen Umständen immer weniger in den Dienst der Politik nehmen. Bald einmal wird er nicht mehr sein als der Nationalcharakter der muslimischen Gesellschaften in der Region."
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Stichwörter: Devji, Faisal, Islam, Islamismus

Gesellschaft

In Freiburg haben offenbar einige Flüchtlinge eine junge Frau vergewaltigt. In der taz berichtet Steve Przybilla, wie die die Stadt versucht, damit zurecht zu kommen, ohne das Verbrechen zu verharmlosen oder zu pauschalisieren. Christian Rath legt dar, warum Flüchtlinge bei Straftaten doch recht häufig überrepräsentiert sind. Drei Gründe gebe es: Erstens dürfte bei Flüchtlingen die Bereitschaft zur Anzeige höher sein. "Zweitens ging schon immer ein Großteil von Gewalt- und Sexualdelikten auf das Konto junger Männer. Diese Gruppe ist unter den Flüchtlingen, die ab 2015 nach Deutschland kamen, relativ stark vertreten. Drittens nennen Kriminologen soziale und kulturelle Gründe: eigene Gewalterfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht, eine aus der Heimat mitgebrachte Machokultur und fehlende soziale Kontrolle bei alleinreisenden jungen Männern."

Soziale Gleichheit kann nur in einem Gemeinwesen entstehen, in dem die Menschen sich für einander verantwortlich fühlen, meint der Philosoph und Schriftsteller Leander Scholz in der SZ. Er fordert daher die SPD auf, sich für die Einführung eines sozialen Jahres für alle einzusetzen, "denn nur so lässt sich erreichen, dass andere Lebenswirklichkeiten erlebt werden. Zu den zentralen Projekten der SPD gehören eine Bürgerversicherung und eine Rentenkasse, in die alle einzahlen. Die Diskussion darüber, was wir nicht dem Markt überlassen sollten, betrifft aber nicht nur die sozialen Leistungen, sondern die soziale Ordnung selbst. Wenn es der SPD nicht gelingt, mehr Projekte der Gleichheit durchzusetzen, wird sich die Partei überflüssig machen."

Die Zeit veranstaltet ein ganzseitiges Pro und Contra zu der Frage, ob ein Sketch, den Jan Böhmermann und andere in Anwesenheit ihres jüdischen Kollegen Oliver Polak aufführten, - man wusch sich die Hände mit Desinfektionsmittel (unser Resümee) - antisemitisch gewesen sei. Antonia Baum meint ja: "Betrachtet man dann den sogenannten antisemitischen Witz, den Böhmermann im Rahmen eines Stand-up-Auftritts gegenüber Polak gemacht hat, muss man feststellen, was auch schon Polak festgestellt hat, nämlich dass da kein Witz ist, weil es keine Pointe gibt. Was übrig bleibt, ist folglich nur noch 'antisemitisch'." Lars Weisbrod verweist dagegen darauf, dass dieser Sketch an einem Abend, der den Kollegen Serdar Somuncu feierte, im Kontext vieler zotiger und rassistischer Witze stand, die man sich in der Eigenschaft als Satiriker erlaubte.

In der SZ fragt die französische Journalistin Cécile Calla, warum die Emanzipation der Frauen in Deutschland kaum ein Thema ist. Und wenn, dannn kommen sie in der Debatte nur als Mütter oder potenzielle Opfer vor. "Die Frau als mündige, individuelle Person bleibt im Dunkeln", meint Calla und verweist auf Frankreich, wo man weiter sei: "Die soziale und kulturelle Bedeutung sexueller und leiblicher Erfahrungen wird in Frankreich auch von Leitmedien als politischer Stoff verstanden und entsprechend breit besprochen. Die Tageszeitung Le Monde beispielsweise initiierte vor wenigen Wochen eine große Debatte über die Klitoris mit Beteiligung einer Historikerin, eines Chirurgen, einer Youtuberin und einer Zeichnerin. Camille Froidevaux-Metterie, eine Politologin, die zur weiblichen leiblichen Erfahrung forscht, spricht von einer 'Genitalwende' in der Geschichte der Emanzipation. Aus ihrer Sicht bilden die aktuellen Diskussionen über den weiblichen Körper die letzte Stufe der Emanzipation, nachdem Frauen politische und wirtschaftliche Mitbestimmungsrechte sowie die Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit errungen haben."

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Europa

In der Türkei herrscht tiefe Wirtschaftskrise mit einer Inflation von 30 Prozent, die von der Regierung als "Preisaktualisierung" bezeichnet wird, so Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Die Regierung hat aber auch Zeit, sich um die eigentlich wichtigen Dinge zu kümmern: "In diesem Land, in dem Frauen das aktive und passive Wahlrecht früher als in zahlreichen europäischen Ländern erhielten, wurde jetzt verboten, dass Männer und Frauen im Zug nebeneinandersitzen! Nehmen wir an, Sie sind ein Mann und wollen mit dem Zug von Ankara nach Istanbul fahren. Ist ein Platz schon für eine Frau reserviert, haben Sie keine Chance, den Platz daneben zu buchen. Selbst wenn er frei sein sollte, bekommen Sie von der Staatsbahn die Auskunft, es sei kein Platz frei."
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Kulturpolitik

Die Bundeshauptstadt feierte zwanzig Jahre BKM, also, äh, zwanzig Jahre "Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien". Das ganze fand im Stadtschloss, dem Ort des künftigen Humboldt-Forums, statt, dessen Inneres Andreas Kilb stark an einen Eisschrank erinnert. Die Festrede hielt Angela Merkel am Abend jenes Tages, als sie ihren kommenden Abschied verkündet hatte. Und "den ersten Sprung aufs Debattenkarussell tat Monika Grütters selbst, indem sie das umstrittene Kreuz auf der Schlosskuppel als kulturelles Symbol und Zeichen von 'Haltung' im Dialog mit dem Fremden verteidigte. Damit ist der Geist des Kulturkampfs unter ethnischen, religiösen und anderen ideologischen Bannern aus der Kiste, und das Scheckbuch der Kulturstaatsministerin dürfte kaum ausreichen, um ihn in zivilen Formen zu halten."

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