9punkt - Die Debattenrundschau

Das Leise in all dem Geschrei

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.10.2018. Heute gibt's fast nur ein Thema: Angela Merkel. "Wir werden uns noch nach ihr sehnen", ruft die taz. Überall Hommagen auf die Antidramaqueen, auch in der New York Times, und Zähneklappern angesichts des düsteren politischen Klimas in der Welt: "Der autoritäre Nationalismus wird stärker. Eine Politik der Rohheit macht sich breit", so Robert Misik in Zeit online. Der Tagesspiegel bringt eine Recherche zu Blackrock, dem größten Vermögensverwalter der Welt, wo ein gewisser Friedrich Merz wichtige Funkionen bekleidet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.10.2018 finden Sie hier

Europa

Gestern annoncierte Angela Merkel ihren schrittweisen Rückzug aus der Politik: Sie will nicht für den Parteivorsitz der CDU kandidieren und wird sich auch nicht mehr als Kanzlerin aufstellen lassen. Mit Blick nicht nur auf die konzeptlosen britischen Politiker schaudert es Rafael Behr im Guardian doch leicht bei dieser Ankündigung: "In der Bewunderung von Merkel als Gegenpol der europäischen Zivilisation zu Trump gibt es einige vereinfachende Mythologisierungen. (Die Großzügigkeit an der Grenze hat ihr in der Innenpolitik nicht viel Gutes eingebracht). Aber schon die Existenz dieser Hagiografie drückt ein starkes Verlangen nach Stabilität, Reife und Würde in globalen Angelegenheiten aus. Der Sieg bei der Präsidentschaftswahl Brasiliens von Jair Bolsonaro - einem aggressiven rechtsextremen Autoritären - kippt das globale Gleichgewicht um weitere Grade gegen die Rechtsstaatlichkeit und in Richtung einer Doktrin des prahlerischen die-Macht-hat-immer-Recht-Machismo. Es mag ein Zufall sein, dass Bolsonaro auf der einen Seite der Bühne eintritt, während Merkel ihren Ausgang vorbereitet, aber das macht den Kontrast nicht weniger scharf."

Welt-Autor Thomas Schmid ist nur halb zufrieden - ein richtiger Rücktritt wär' ihm lieber gewesen: "Das Land entgleitet ihr. Sie war, etwa in der Finanzkrise, eine zähe und durchaus erfolgreiche Krisenmoderatorin. Aber sie hat dabei immer nur zur Verlängerung des Status quo beigetragen. Obwohl sie, in unsichere Wasser geraten, nie mutlos wurde, verkörpert sie -die Ostdeutsche - doch ganz die alte Bundesrepublik. Eins ergibt sich aus dem anderen, existenzielle Entscheidungen stehen nicht an."

"Wir werden uns noch nach ihr sehnen", annonciert dagegen taz-Chefredakteur Georg Löwisch: Den gegenüber der Fotografin Herlinde Koelbl einst geäußerten Satz, "dass sie nicht ein halbtotes Wrack sein wolle, sondern den richtigen Zeitpunkt zum Ausstieg finden, hauten ihr ihre Gegner gern um die Ohren. Gegen die Bitternis der Merkel-muss-weg-Gemeinde setzt sie diesen entspannten Abgang." Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie erklären dann gleich noch, wie die Grünen zur Volkspartei werden sollen.

Auch Robert Misik ist auf Zeit online nicht glücklich über Merkels beginnenden Rückzug aus der Politik: "Nehmen wir nur die Europäische Union: Der autoritäre Nationalismus wird stärker. Eine Politik der Rohheit macht sich breit. Von Budapest bis Warschau, von Wien bis Rom werden Töne angeschlagen und wird eine Politik betrieben, wie man sie bis vor Kurzem noch für unmöglich hielt. Angela Merkel als deutsche Kanzlerin erschien da als Bollwerk. Als eine der Zentralfiguren der europäischen Politik, die noch für Vernunft stand. Für Anstand in all der Hetze, für das Leise in all dem Geschrei. ... Dass Besseres nachkommt, ist unwahrscheinlich."

Jürgen Kaube in der FAZ stimmt eine Hommage an: "Angela Merkel war - und ist es noch - durch viele Besonderheiten eine Politikerin, die staunen macht. Vollkommen skandalfrei, vollständig auf Politik konzentriert und, mit einem Wort der gegenwärtigen Jugendsprache, fast 'hobbielos', ohne jede Ambition auf etwas anderes als Machtgebrauch nach demokratischen Prinzipien."

Eine Hommage auch das Editorial der New York Times: "Es ist Merkel, in der DDR zur Wissenschaftlerin ausgebildet und erste Kanzlerin in Deutschland, die sich den Herrn Trump und Putin entgegengestellt hat, die in einem noblen - manche sagen heute törichten - Schritt die Türen Deutschland für Flüchtlinge geöffnet hat, und die drei Rettungsaktionen zugestimmt hat, um Griechenland vor dem Bankrott zu retten. Alles ohne Drama, ohne viele Worte und oft ohne Eile."

Da Friedrich Merz nun als ein möglicher Nachfolger Merkels als CDU-Parteivorsitzender gehandelt wird, kommt die Tagesspiegel-Recherche von Harald Schumann und Elisa Simantke zu dem Finanzkonzern Blackrock - dem größten Vermögensverwalter der Welt - wie gerufen. Denn Merz ist Aufsichtsratsvorsitzender von Blackrock Deutschland. Blackrock, so die Autoren, "untergräbt als allgegenwärtiger Großaktionär den marktwirtschaftlichen Wettbewerb;
- arbeitet so eng mit Aufsichtsbehörden und Regierungen zusammen, dass die Grenzen zwischen privatem Kapital und dem Staat verschwimmen;
- treibt die Privatisierung der Altersvorsorge voran, um Sparkapital in seine Fonds zu lenken;
- und verfügt über ein starkes Netzwerk politischer Verbindungen, das einer möglichen Regulierung entgegensteht."

Eine weitere Recherche sollte sich angesichts der nun anstehenden Spahn, Klöckner, Grütters, Altmaier, Brinkhaus und weiteren dem Einfluss der katholischen Kirche in der kommenden CDU widmen!
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Gesellschaft

Es ist Zeit, über die amerikanische Waffenlobby zu sprechen, schreibt Nicholas Kristof in der New York Times und bringt eine verblüffende Zahl: "Das Massaker an elf Menschen in der Synagoge von Pittsburgh am Samstag, verübt offenbar von einem Mann mit 21 auf seinen Namen registrierten Schusswaffen, war auf eine furchterregende Art voraussehbar. Jeden Tag sterben in Amerika 104 Menschen durch Waffengewalt, während es in Japan ein Jahrzehnt dauert, bis eine solche Zahl erreicht wird."
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Stichwörter: NRA, Waffenlobby

Medien

Diese Meldung wird in der Branche als eine kleine Sensation einschlagen: "Spiegel, Stern, Focus und Zeit wollen ab 2019 keine heftbezogenen Auflagen mehr veröffentlichen", meldet Andreas Grieß unter Bezug auf horizont.net in turi2: "Kurz hintereinander hätten die vier Verlage der Wochentitel der IVW entsprechende Kündigungen eingereicht. Künftig wollen sich die Titel auf Quartalszahlen beschränken. Sie begründen, die Veröffentlichungen brächten keinen Mehrwert, sorgten aber regelmäßig für Negativschlagzeilen. Agenturen und Werbekunden kritisieren die Entscheidung." Die Zahlen werden von der IVW (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern) gemessen und gelten als der objektivste Gradmesser der Auflage.
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