9punkt - Die Debattenrundschau

Das war ich nicht, das war meine künstliche Intelligenz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.03.2018. "Wir haben es hier mit einem ähnlichem Syndrom wie in der Weimarer Republik zu tun. Das Syndrom der unverdauten Modernisierung, der Freiheitsschmerz der Untertanen", schreibt Zafer Senocak in der NZZ mit Blick auf die Türkei. Ähnliches ließe sich nach der Lektüre der FAZ und der taz von Russland behaupten. Und bei pop-zeitschrift.de. rezensieren Jörg Scheller und Wolfgang Ullrich das Twitterkonto von Norbert Bolz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.03.2018 finden Sie hier

Europa

Der Westen hätte früher verstehen müssen, dass er es in Moskau mit Kriminellen zu tun hat, sagt Michail Chodorkowski im Gepräch mit Benoît Vitkine von Le Monde mit Blick auf den Giftanschlag in Großbritannien. "Spätestens nach dem Tod Alexander Litwinenkos, hätte man sich dessen bewusst werden können - ja müssen. Ein Teil der Antwort muss über die Geheimdienste laufen, aber die westlichen Politiker müssen verstehen , womit sie es zu tun haben. Das heißt, das man dieser organisierten Kriminalität auch mit polizeilichen, nicht nur mit politischen Mitteln begegnen sollte."

In der Außenpolitik Russlands ist der kooperative Modus Operandi der letzten 25 Jahre endgültig einer konfrontativen Grundhaltung gewichen, sagt Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Dlf-Interview mit Dirk-Oliver Heckmann: "Solange die russische Regierung keine Anzeichen macht einzulenken, auf bestimmte Ordnungsprinzipien sich wieder zu besinnen, die die Kooperation zwischen dem Westen und Russland in den letzten Jahren angeleitet haben, sehe ich keine Chance für ein verbessertes Verhältnis zwischen Moskau und dem Westen."

Boris Reitschuster trifft für die FAZ den russischen Meinungsforscher Lew Gudkow: "Ob die Berichte in westlichen Medien, wonach mehr als achtzig Prozent der Russen Putin lieben, zutreffen? Gudkow schüttelt den Kopf. 'Von Liebe würde ich nicht sprechen. Die Einstellung zu Putin ist vielschichtiger.' Autoritäre und totalitäre Regime bauten auf Apathie, auf demonstrative Loyalität, auf Flucht von der Politik, erklärt Gudkow und beruft sich auf Hannah Arendt. Liebe oder große Sympathie zu Putin empfänden höchstens fünf bis fünfzehn Prozent."

Die Umwandlung nahöstlicher Gesellschaften in freiheitliche Konsumgesellschaften ist gescheitert, schreibt in der NZZ der türkische Schriftsteller Zafer Senocak mit Blick auf das "islamistische Sultanat" in der Türkei. Statt sich zu modernisieren, steuere der Nahe Osten auf einen Bürgerkrieg zu, befürchtet er: "Wir haben es hier mit einem ähnlichem Syndrom wie in der Weimarer Republik zu tun. Das Syndrom der unverdauten Modernisierung, der Freiheitsschmerz der Untertanen. Republikaner werden als Verräter angesehen - als Verräter an der Tradition, am Herrscher, am Klerus, am Glauben. Freiheitlich Gesinnte haben es nicht nur schwer, sie werden verdrängt und verfolgt. Es ist höchste Zeit, zu begreifen, dass auch unsere Freiheit in Europa von der Krise der Demokratie und des Pluralismus im Nahen Osten mit betroffen ist."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Organisiert vom Berliner Thinktank Progressives Zentrum führte ein Forscherteam aus Deutschland und Frankreich 2017 eine qualitative Milieustudie in sechs Orten in Deutschland und sechs Orten in Frankreich durch, die niedrige Haushaltseinkommen und einen hohen Anteil an AfD-/Front-National-Wählern haben. Im Interview mit Zeitonline erzählt der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje, dass er kaum Rassismus, aber auch wenig Vertrauen in die Politik erlebte: "Es gab kaum Angst vor Überfremdung oder vor Islamisierung, fast keine pauschale Kritik an den Medien oder Skepsis gegenüber Europa. Europa wurde oftmals als Teil der Lösung wahrgenommen, nicht als Problem. Wir konnten auch keine Sehnsucht nach einer stärkeren nationalen Identität feststellen. Das heißt für die anderen Parteien, die in letzter Zeit bereits vermeintlich populäre Narrative übernommen haben, dass sie genauer hinschauen sollten, was sie übernehmen. Nicht alles, was in den Medien auf Resonanz stößt, spiegelt die Einstellungen der Menschen wider."
Archiv: Gesellschaft

Internet

"Im Stahlgezwitscher" heißt eine von Jörg Scheller und Wolfgang Ullrich  sozusagen im Gespräch verfasste "Rezension" des Twitterkontos von Norbert Bolz  bei pop-zeitschrift.de. Interessant an Bolz fanden sie, dass er einer der wenigen Intellektuellen in Deutschland ist, die überhaupt twittern, noch mehr aber, dass "sich in ihm die Geschichte einer Radikalisierung abspielt. Und eben darin ist er wohl symptomatisch. Bolz gehört zu der Generation älterer Männer, aus deren Reihen seit dem Herbst 2015 vielfach scharfe Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, namentlich an Angela Merkel geübt wird. Wie etwa auch Peter Sloterdijk, Rüdiger Safranski oder Jörg Baberowski steht Norbert Bolz damit auf einmal in der Nähe von Rechtspopulismus, AfD und Pegida. Seine Tweets erfahren von dort viel Zuspruch, der ihn offenbar nicht nur nicht stört, sondern sogar anspornt, noch polemischer zu formulieren und sich die Reiz- und Kampfvokabeln der rechten Szenen zu eigen zu machen."

Wir stehen am Anfang einer kybernetischen Revolution, schreibt in der SZ der Informatiker, Mathematiker und Physiker Bernhard Schölkopf mit Blick auf die Entwicklung Künstlicher Intelligenz und fürchtet, dass Europa den Anschluss verliert: "Es mangelt an international führenden Zentren, und viele unserer angehenden Doktoranden haben Angebote von amerikanischen Elite-Universitäten. Dort arbeiten Professoren aus Europa, die in den USA zu akademischen Superstars und erfolgreichen Unternehmern geworden sind. Nachwuchswissenschaftler wollen dort lernen, wo die Besten forschen, und im Zeitalter von Google kann jeder Student ganz einfach nachsehen, wer erfolgreich auf den Top-Konferenzen publiziert. Es ist daher entscheidend, Exzellenzzentren in Europa zu stärken, Zugpferde zu halten oder nach Europa zurückzuholen."
 
Und wir brauchen Gesetze für Künstliche Intelligenz, fügt ebenfalls in der SZ Kathrin Werner hinzu: "Autonome Autos etwa dürfen nicht eigenständig entscheiden, Tempolimits zu überschreiten, nur weil Autofahrer um sie herum zu schnell fahren. Es muss Grenzen in Finanzmärkten und der Medizin geben. Künstliche Intelligenz darf keine Gesetze brechen, die für Menschen gelten. Sie darf sie zum Beispiel keine Gespräche im Wohnzimmer ohne Genehmigung aufzeichnen und auswerten. Die Verantwortung muss beim Menschen bleiben. Die Ausrede 'Das war ich nicht, das war meine künstliche Intelligenz' darf nicht gelten. Außerdem muss die KI immer klarmachen, dass sie kein Mensch ist. Zu erwägen wäre auch, dass künstliche Intelligenz andere künstliche Intelligenz beaufsichtigt."
Archiv: Internet

Medien

Dass Wladimir Putin ohne Probleme wieder russischer Präsident werden wird, liegt unter anderem auch an der "Vierten Gewalt",  sagt der russische Wahlbeobachter Andrei Busin im Gespräch mit Barbara Kerneck von der taz: "Unter dem Vorwand, die Bevölkerung zu informieren, agitieren die Massenkommunikationsmittel zugunsten bestimmter Kandidaten oder einer bestimmten Partei. Oft wirkt es sich schon als Agitation für einen bestimmten Kandidaten aus, wenn TV und Zeitungen über ihn ein wenig positiv berichten. Denn die Massenkommunikationsmittel, allen voran die TV-Kanäle, gehören bei uns entweder ganz dem Staat oder sie stehen sehr stark unter seinem Einfluss."

Roboterjournalismus setzt sich bei standardisierbaren Texten (etwa Sportberichten) tatsächlich durch, schreibt Alexander Fanta in Netzpolitik: "Lokalnachrichten eignen sich besonders für die Automatisierung. An vielen Orten sind Daten und Statistiken verfügbar, über die kein Journalist berichtet." Ein Beispiel: "Die schwedische Agentur TT programmierte ein Widget, das Zahlen zu örtlichen Schulen und Immobilienpreisen mit dem nationalen Schnitt vergleicht und dem Leser eine kurze Erklärung dazu formuliert."
Archiv: Medien

Politik

Die Jüdische Allgemeine veröffentlicht einen Essay Amos Oz', der noch einmal engagiert für eine Zweistaatenlösung für den Nahostkonflikt nachdenkt: "Es ist möglich und auch angemessen, dass Juden und Araber zusammenleben, aber ich kann nicht akzeptieren, als jüdische Minderheit unter arabischer Herrschaft zu leben, denn fast alle arabischen Regime im Nahen Osten unterdrücken und erniedrigen Minderheiten. Ich kann es auch deshalb nicht akzeptieren, weil ich auf dem Recht der israelischen Juden bestehe, wie jedes andere Volk die Mehrheit und nicht die Minderheit zu sein, und sei es auch nur auf einem  kleinen Stückchen Land."
Archiv: Politik