9punkt - Die Debattenrundschau

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Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2018. Die taz erinnert mit einem Dossier an den Tunix-Kongress von 1978, der die Buntheit in die deutsche Linke brachte. In der FAZ beschreibt die Historikerin Ute Frevert, wie sich bei sexueller Gewalt die Begriffe von Scham und Unschuld umkehren. Den souveränen Umgang mit Macht können westliche Frauen von mächtigen Nigerianerinnen lernen, erklärt Chimamanda Adichie in Libération. In der NZZ ruft Peter Sloterdijk zu spontaner Stammesbildung auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.01.2018 finden Sie hier

Ideen

Die taz erinnert mit einem Dossier an den Tunix-Kongress von 1978, jene schillernden Tage vom Januar 1978, mit denen nach dem Deutschen Herbst eine alternative Linke wieder etwas Buntheit in den Berliner Winter und das Land bringen wollte. Für Dirk Knipphals markierte der Kongress vor allem zehn Jahre nach 1968 den großen Farbwechsel im linken Spektrum: "Entscheidend war ein Paradigmenwechsel, der sich eben erst nach 68 vollzog und durch Tunix institutionalisiert wurde: der Wechsel vom Veränderungswillen des Ganzen dazu, die bestehenden Strukturen sozusagen links liegen zu lassen, die in ihnen entstandenen Nischen kreativ zu nutzen und so eine alternative Infrastruktur aufzubauen. Politisch war 68 noch getragen von prinzipieller Revolutionshoffnung, man glaubte an eine Allianz der Studenten mit der Arbeiterschaft, es ging darum, das System als Ganzes zum Umsturz zu bringen. Zehn Jahre später hatten sich diese Illusionen erledigt. Den Initiativgruppen von 78 ging es um die Durchsetzung konkreter Projekte. Alternative Parteien, alternatives Leben, alternative Zeitungen."

Ausgerechnet in der NZZ bricht Peter Sloterdijk gegen Universalismus und Kosmopolitismus eine Lanze für den Tribalismus, den er dann allerdings recht ungefähr mal als Hang zur Hordenbildung, mal als Gemeinschaft und mal als Netzwerk beschreibt: "Nicht freiwilligen Stammesbildungen sind das Problem, sondern umgekehrt: Wo solche spontanen Stammesbildungen fehlen, kommt es zu sozial und politisch problematischen Situationen. In ihnen werden desorientierte und entwurzelte Einzelne von absorbierenden Massenbewegungen angezogen, die eine Heimat in abstrakten Engagements versprechen."
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Gesellschaft

Die Historikerin Ute Frevert (FAZ) holt in der Geschichte der Geschlechterbeziehung etwas aus, um auf einen sehr interessanten Punkt zu kommen: Sie erklärt das Schweigen von Frauen über sexuelle Gewalt mit der lange antrainierten Umkehrung von Unschuld: "Es geht um Scham. Sie verschließt den Opfern den Mund und hindert sie daran, die Täter namhaft zu machen und vor Gericht zu bringen. Das mag auf den ersten Blick verwundern. Denn wofür sollte sich eine misshandelte, in ihrer Ehre und Selbstachtung gekränkte Frau schämen? Sollte sie nicht eher Abscheu, Wut und Zorn empfinden und dies auch zum Ausdruck bringen? Definiert man Scham als Antwort auf eigenes Fehlverhalten, dann fällt es in der Tat schwer, sich einen Reim auf die Scham der Opfer zu machen. Denn der Übergriff war schließlich von Dritten verursacht, sie selbst trugen daran keine Schuld. Aber so einfach ist es nicht. Zum einen ist die eigene Unschuld immer prekär."

In Liberation erklärt die nigerianische Schriftstellerin Cimamanda Adichie, was nigerianischen vom amerikanischen Sexismus unterschiedet: "In Nigeria ist der Sexismus frontaler, in den USA subtiler. In Nigeria entschuldigt sich niemand dafür, misogyn zu sein. Die Leute sagen einem einfach, dass sie keine Frau an der Spitze eines Staates wollen. In den USA sagt das niemand, aber seit der letzten Wahlen wissen wir, dass sie es denken. Die Amerikaner sagen nicht: 'Wie ätzend, dass diese Frau so ehrgeizig ist'. Sie sagen: 'Sie ist anstrengend.' Damit wollen sie im Grunde sagen, dass sie eine Frau mit Macht ist. In Nigeria sagen sie: 'Diese Frau sollte versuchen, sich mehr wie eine Frau zu benehmen.' Damit meinen sie, wie eine Frau im traditionellen Sinne. Aber ich muss hinzufügen, dass die Nigerianer meist besser mit mächtigen Frauen klarkommen als die Amerikaner. Mit einer 'Madam' oder einer Bankdirektorin. Die nigerianischen Frauen müssen nicht ständig die Balance suchen zwischen Kompetenz, Macht und wie sie zugleich gegenüber Untergebenen ihre Autorität bewahren und sympathisch bleiben. Die westlichen Frauen sind ständig dabei das Gleichgewicht auszuhandeln. Nigerianischen Frauen mit Macht kümmert das gar nicht. Ich finde das erfrischend."

Die New York Times berichtet unterdessen, dass nun selbst Hillary Clinton ein #MeToo-Problem bekommen könnte: Sie hat bei ihrer Präsidentschaftskampagne 2008 an einem ihrer politischen Berater festgehalten, dem etliche Frauen sexuelle Übergriffigkeit vorgeworfen hatten

Im taz-Interview mit Ulrich Gutmair spricht der Jurist, Moderator und Zentralratsvize Michel Friedman zum Tag der Befreiung von Auschwitz über den Holocaust, die zweite Schuld und eine Selbstbefragung, die zwar den Endpunkt der Gewalt verurteilt, aber nicht den Beginn: "Ich würde den Begriff des Antisemitismus gerne präzisieren. Es geht um Judenhass. Und es geht um Menschenhass. Judenfeindlichkeit ist Menschenfeindlichkeit. Wenn Menschenfeindlichkeit auftritt, erwarte ich von Ihnen und von jedem anderen, sein Gesicht zu zeigen, weil er selbst gemeint ist. Solange ich als Jude ein Mensch für Sie bin und man mich als solchen angreift, sind Sie genauso gemeint, auch wenn Sie kein Jude sind. Wer sich nur einsetzt, weil er Juden helfen will, hat nicht begriffen, was Menschenhass ist. Er hilft mir nicht und sich selbst auch nicht."

Ebenfalls in der taz fordert Silke Mertins striktere Antworten der Politik auf den Antisemitismus an Schulen: "Solange der Staat und seine Institutionen den Schutz jüdischer Schulkinder nicht sicherstellen können, wäre es das Mindeste, diese Kosten zu übernehmen." In der Berliner Zeitung empfiehlt Ulrich Seidler die "kleine, stille und überwältigende" Online-Ausstellung "Lebt wohl, meine Lieben", die in der Gedenkstätte Yad Vashem zehn letzte Briefe aus dem Holocaust präsentiert.
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Europa

Marko Martin erzählt in der Welt von seinem Besuch bei dem Auschwitz-Überlebenden, Tito-Dolmetscher und Schriftsteller Ivan Ivanji in Belgrad und ist ganz hingerissen von Ivanjis Freundlichkeit, Feinsinn und unsentimentaler Art: "Ivanji übersetzte Karl Jaspers, Brecht, Max Frisch, Böll und Grass aus dem Deutschen, umgekehrt übertrug er den Schriftsteller Danilo Kiš ins Deutsche. Als zeitweiliger Präsident des Schriftstellerverbandes erlebte Ivanji den Aufstieg des serbischen und kroatischen Nationalismus und den Zerfall seines geliebten Jugoslawien. Anfang der Neunzigerjahre verließ er für einige Zeit das Serbien des aggressiven Miloševic-Regimes in Richtung Wien, lebt nun aber wieder in Belgrad, ein konziser Kritiker des gegenwärtigen autoritären Präsidenten Vucic. Wie viel Leben hat ein Mensch?"
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Kulturmarkt

Herr, schmeiß Hirn vom Himmel: In der SZ beißt sich Alex Rühle durch das Machwerk "Verheimlicht, vertuscht, vergessen", mit dem der Verschwörungstheoretiker Gerhart Wisnewski auf den vordersten Plätzen der Bestseller-Listen gelandet ist: "Direkt nach seinen Macron'schen Freimaurerhypothesen wettert Wisnewski gegen die Unsitte des Frisurentrends 'Buzz Cut' (Frauen mit raspelkurzen Haaren), mit dessen Hilfe 'die Medien ein globales Umerziehungsprogramm starten, das Mädchen in die Homosexualisierung führen soll'."
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Medien

Schön, dass die Öffentlich-Rechtlichen ihre Mediatheken öffnen wollen, aber Dokumentarfilme sollte sie bitte nur voll verfügbar machen, wenn sie sie auch voll finanziert haben, fordert Thomas Frickel, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm in der FAZ: "Wie sollen Produktionsfirmen, die Fernsehfilme aus eigener Tasche mitfinanzieren, ihr investiertes Geld jemals zurückbekommen, wenn ihnen die interessanteste Einnahmemöglichkeit - das Online-Geschäft - verbaut wird? Kein Mensch kauft doch einen Film, der einen Mausklick weiter dauerhaft und kostenlos in einer öffentlich-rechtlichen Mediathek abgerufen werden kann. Wie war das doch gleich mit unserem Bäcker? Erst zwinge ich ihn, mir das Dreißig-Cent-Brötchen für zehn Cent zu überlassen, dann esse ich es vor seinen Augen auf."
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