Efeu - Die Kulturrundschau

Beglückend, im Ungefähren

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27.01.2018. Das neue Tocotronic-Album hält die Kritiker auch heute noch in Atem: Berauscht hören sie, zu welchem Moment der Popgeschichte sich Dirk von Lotzow die Pickel ausdrückte. In der SZ erklärt der niederländische Architekt Rem Koolhaas, weshalb er in anderen Ländern erst schwimmen geht, bevor er baut. Im taz-Interview spricht Fernando Aramburu über seinen Roman "Patria", der sich mit dem Bürgerkrieg im Baskenland beschäftigt. Die Kritiker sind sich uneins: Ist RP Kahls "A Thought of Ecstasy" ein meisterhafter deutscher Film oder ein gescheiterter postfeministischer Fiebertraum?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.01.2018 finden Sie hier

Musik

Die Tocotronic-Festspiele in den Feuilletons erreichen mit dem gestrigen Erscheinen des neuen Albums "Die Unendlichkeit" ihren Höhepunkt. Wie stark autobiografisch sich das chronologisch durch die Adolszenz von Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow reist, wurde in Beiträgen der letzten Tage bereits offengelegt. Mit diesem Projekt erkunde die Band "weiter, wie sich Musik und Text aufeinander beziehen können, nicht illustrativ, sondern assoziativ", schreibt Diviam Hoffmann in der taz. Doch schlussendlich erzähle das Album "mehr über das 'Jetzt' des Erinnernden als über das 'Gestern'. Die Vergangenheit wird so weit offengelegt, wie es für die Identitätskonstruktion ausschlaggebend ist. Somit holen Musik und Songtexte auch die Interpretationshoheit über das eigene Ich zurück." Dabei verwachse "das Geflecht dieses Albums immer tiefer auch mit den allgemeinen Verästelungen der Popgeschichte", erklärt Christine Käppeler im Freitag, fügt aber hinzu, dass bei diesem Trip durch die eigene Sozialisation "der Sound der Zeit nicht zu verwechseln ist mit dem offiziellen Soundtrack eines Jahres. ... Wir wissen dank 'Die Unendlichkeit' jetzt, wann Dirk von Lowtzow sich vor dem Spiegel Pickel ausdrückte. Musikalisch bleibt vieles, und das ist für die Hörer durchaus beglückend, im Ungefähren."

Skeptisch bleibt Jens-Christian Rabe in der SZ. Zweifellos habe "die wichtigste deutsche Diskurspop-Band" hier das stilistisch breiteste Album ihrer bisherigen Karriere vorgelegt. Sogar einen Flirt mit der Klangästhetik des ZDF-Fernsehgartens will der Kritiker gehört haben. "Doch mag all das nicht völlig ineinanderfinden bis zum Schluss, die Musikideen behalten immer etwas allzu Peter-und-der-Wolf-Haftes, bleiben nicht zuletzt deshalb meist zu illustrativ, weil irgendwann leider nicht mehr zu überhören ist, dass das Songwriting seltsam uninspiriert ist. So ist der Preis der autobiografischen Unmittelbarkeit auf diesem Album hoch. Zu hoch." Ausführliche Hörproben gibt es in diesem Albumplayer:



Außerdem: Jana Demnitz spricht im Tagesspiegel mit Anne Clark über den Dokumentarfilm "Anne Clark: I'll Walk Out Into Tomorrow". Anlässlich von Mark E. Smiths Tod (mehr dazu im gestrigen Efeu) hat die Spex ein großes, von Max Dax geführtes Gespräch mit Smith online gestellt.  Im Tagesspiegel wirft Frederik Hanssen einen Blick in die deutsche Orchesterlandschaft. Corinne Holtz empfiehlt in der NZZ Klavierspiel als geistiges Fitnessprogramm fürs Alter.

Besprochen werden Nils Frahms "All Melody" (Das Filter, Spex) und Peter Gülkes Biografie über Felix Mendelssohn Bartholdy (FAZ).
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Architektur

Im SZ-Interview mit Laura Weissmüller erklärt der Architekt Rem Koolhaas, warum er als Niederländer nichts mit dem Begriff "Heimat" anfangen kann und weshalb er zunächst Schwimmbäder aufsucht, um ein Land oder eine Stadt zu verstehen: "Schwimmbäder funktionieren in jedem Land anders. Zum Beispiel hat man in Holland irgendwann gedacht, dass Bahnenschwimmen unkreativ sei, 'streberisch'. Deswegen darf heute jeder schwimmen, wie er will. In China ist das ganz anders: Man sieht sehr viele Eltern, die ihren Kindern das Schwimmen beibringen. Man sieht eine Kombination aus Spaß und Disziplin, aber niemals eine solche Kreativität, die Schwimmen unmöglich macht. (…) In jeder Nation halten die Menschen einen anderen Abstand zueinander. Diese Distanz wird auch bei Aktivitäten eingehalten. Zum Beispiel in unserer Bibliothek in Doha. Es gibt kein Gesetz und auch keine Regel, aber es gibt immer den einen korrekten Abstand zwischen den Menschen dort, auch wenn sie sich unterhalten."
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Literatur

Tazler Andreas Fanizadeh spricht mit Fernando Aramburu über dessen neuen Roman "Patria", in dem der in Deutschland lebende Autor sich erneut mit dem Baskenland und der ETA beschäftigt. Personal und Spielorte seines Buchs sind zwar fiktiv, dennoch ist das Buch gesättigt mit historischen Anspielungen und Bezugnahmen, sagt der Schriftsteller. "Beim Schreiben habe ich mir ständig die Frage gestellt: Wäre das, was ich hier behaupte, tatsächlich so möglich gewesen, oder nicht? ...  Es gibt insgesamt über 800 Todesopfer durch ETA, die meisten übrigens Basken. Bei gezielten Anschlägen wurden Unternehmer wie Txato, die Figur in meinem Roman, ermordet. Es gibt Leute, die mit mir nicht einverstanden sind. Aber niemand bestreitet, dass diese Dinge nicht real passiert wären." Die FR hat Cornelia Geißlers Besprechung des Romans online nachgereicht.

Weitere Artikel: Judith E. Innerhofer schlendert für die Zeit durch die Österreichische Nationalbibliothek, deren Geschichte vor 650 Jahren begann. Deutschlandfunk Kultur bringt ein Feature von Thomas David über die Schriftstellerin Muriel Spark. Für die FAZ spricht Katharina Teutsch mit der Schriftstellerin Esther Kinsky über deren Interesse an kargen Landschaften und Brachen. Die Literarische Welt veröffentlicht Samanta Schweblins Erzählung "Weggehen".

Besprochen werden unter anderem der abschließende Band aus Elena Ferrantes Neapel-Saga "Die Geschichte des verlorenen Kindes" (Literarische Welt), Edward St. Aubyns "Dunbar und seine Töchter" (taz), Florian Bieges Comicadaption von Walter Moers' "Die Stadt der Träumenden Bücher" (FAZ-Comicblog), Christophe Boltanskis "Das Versteck" (Welt), Matthew Sweeneys von Jan Wagner ins Deutsche übertragener Gedichtband "Hund und Mond" (Tagesspiegel), J. D. Barkers Krimi "The Fourth Monkey" (Welt), Hans Pleschinskis "Wiesenstein" (SZ) und das von Christian Begemann und Davide Guiriato herausgebene "Stifter Handbuch" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Kunst

Weiteres: Im Dlf-Kultur-Interview mit Timo Grames sprechen Frida Kahlo und Käthe Kollwitz vom Künstler-Kollektiv "Guerilla Girls" über ihre derzeit in der Kestnergesellschaft Hannover gezeigte Ausstellung "The Art of Behaving Badly" und ihre Mission, Frauen und nicht-weißen Künstlern im Kulturbetrieb mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen: "Auf der unteren Ebene, in Galerien gibt es tatsächlich mehr Frauen, mehr Trans-Künstler, mehr schwarze Künstler als jemals zuvor. Aber das ist ein sehr langsamer Prozess", so Kollwitz. Für die taz berichten Martin Horn und Raphael Piotrowski aus der Berliner Graffiti-Szene, die sich trotz Kunstausstellungen immer noch am Rande der Legalität bewegt: "Der durchschnittliche Sprayer ist 15 bis 30 Jahre alt, Schüler, Student oder Auszubildender - aus allen sozialen Schichten. Und: männlich, denn die Szene ist klar von Männern dominiert, nur gut 5 Prozent sind Writerinnen."

Besprochen wird die Ausstellung "Visiteurs de Versailles" im  Chateau de Versailles (FAZ).
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Film


Szene aus "A Thought of Ecstasy" (Bild: Drop Out)

Existenzialismus, Autos und Sex, Theorie- und Kinogeschichte nicht zu vergessen: RP Kahls neuer Film "A Thought of Ecstasy" wandelt mitunter auf Michelangelo Antonionis Spuren durch die Wastelands rund um Los Angeles, informieren uns die Filmkritiker: "Das ganze Land, von den kleinen Motels mit ihren leeren Pools bis zu der gigantomanischen Stahl- und Glasfassaden- und Autobahnarchitektur L. A.s, ein einziger Friedhof, auf dem es selbst (und das, wofür es einmal gestanden haben mag) begraben liegt", schreibt Nicolai Bühnemann in der Filmgazette über diesen "meisterlichen" Film. Auch Rüdiger Suchsland zeigt sich auf Artechock prächtig gesättigt: Das "ist ein sehr sinnlicher Film, auch ein bisschen wahnsinnig, und in jedem Fall eine großartige Kinoerfahrung." Darin ist "kein Bild unschuldig, vielleicht wird er dadurch zu einem sehr deutschen Film."

Jan Künemund winkt im Freitag unterdessen eher angeödet ab: "Ist das das alles hinreichend interessant, um der verwüsteten deutschen Senderförderfilmlandschaft erigierte Schwänze und gefesselte Handgelenke und Peitschenhiebe auf nackte Haut und RP Kahl nackt im Death Valley hineinzuschreiben? ... Man würde den Film wirklich gerne so lesen, wie er gemeint ist, als transgressiven postfeministischen Fiebertraum, in dem der Mann sich auflösen darf und die Frauen sich dafür interessieren. Aber dann sieht man wenig mehr als die Verlängerung eines sehr weißen, etwas zu kurzen Männerkörpers in viel zu große Landschaften."

Neues aus dem Betrieb: Nach Kristin Derflers Protesten anlässlich der Vergabe des Deutschen Fernsehpreises, zu der zahlreiche, mitunter auch nominierte Drehbuchautoren überhaupt nicht eingeladen waren, zeichnet sich eine Verbesserung der marginalisierten Position der Autoren ab, berichtet Carolin Ströbele auf ZeitOnline. Im Freitag gestattet Drehbuchutorin Lisa Rüffer Einblick in ihre Arbeitssituation. Im Tagesspiegel bringt Christiane Peitz Hintergründe und historische Kontexte zur Findung eines neuen Berlinale-Chefs, die demnächst von Kulturstaatsministerin Monika Grütters, Berlins Staatskanzleischef Björn Böhnung und Mariette Rissenbeek von German Films in Angriff genommen werden soll.

Weitere Artikel: Für die Welt spricht Cosima Lutz mit Regisseurin Barbara Albert über deren Rokoko-Kostümfilm "Licht". In der Reihe "Zehn nach Acht" auf ZeitOnline schreibt Christina Baniotopoulou über die Faszinationskraft, die Catherine Deneuve einst auf sie ausübte: "Sie war und bleibt für mich die Ikone der Vivre-libre-Frau." Margret Köhler spricht im Filmdienst mit Regisseur Martin McDonagh über dessen (auf Artechock besprochenen) Film "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri". Die Hauptrolle darin spielt Frances McDormand, die Anke Sterneborg für epdFilm porträtiert. Stefan Scholl schreibt in FR über das in Russland über Armando Iannuccis Satire "Der Tod Stalins" verhängte Verbot. Susanne Ostwald berichtet in der NZZ vom Auftakt der Solothurner Filmtage. Harlan Jacobson hat für die FAZ das Sundance Filmfestival besucht, wo ihm Crystal Moselles "Skate Kitchen" (hier eine Besprechung in Variety) über eine Gruppe Skaterinnen als "fast der perfekte Sundance-Film" aufgefallen ist. Deutschlandfunk Kultur bringt eine Lange Nacht von Heike Brunkhorst und Roman Herzog über Amos Gitai.

Besprochen werden Claude Lanzmanns von Arte online gestellte Porträrtfilm-Reihe "Vier Schwestern" (Filmdienst, Filmgazette), Hong Sang-Soos "On the Beach At Night Alone" (FR, unsere Kritik hier), Fernando Pérez' "Die letzten Tage in Havanna" (Tagesspiegel), Özgür Yildirims "Nur Gott kann mich richten" (Artechock), Christian Gudegasts "Criminal Squad" (Filmgazette), Steven Soderberghs Mini-Serie "Mosaic" (FR) und die neue Staffel der deutschen Comedyserie "Pastewka" (ZeitOnline).
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Bühne

Weiteres: George Taboris Dialogwitz zum Trotz erlebt Nachtkritikerin Petra Hallmayer in Christian Stückls Inszenierung von "Mein Kampf" am Münchner Volkstheater einen etwas "hilflos zwischen Ernsthaftigkeit und überdrehter Groteske" hin- und herpendelnden Abend. In der SZ meint Eva-Elisabeth Fischer: "Man sehnt sich nach George Taboris schläfrigem Singsang statt dieser teutonischen Überartikuliertheit." Für die taz hat Astrid Kaminski schon einmal den traurig ächzenden Buchen und Nirvana singenden Brennnesseln des Duos Schubot/Gradinger gelauscht, deren Choreografie "Yew" am Dienstag im Berliner HAU3 Premiere feiert. In der FAZ gratuliert Wiebke Hüster dem lettischen Tanzvirtuosen Mikhail Barysnikov zum Siebzigsten.

Besprochen werden Rosa von Praunheims Revue "Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht" am Deutschen Theater Berlin (FR), Alvis Hermanis Inszenierung von Michail Bulgakows Roman "Hundeherz" am Zürcher Schauspielhaus (Nachtkritik), Alice Buddebergs Inszenierung von Thomas Melles Stück "Der letzte Bürger" am Theater Bonn (Nachtkritik).
Archiv: Bühne