9punkt - Die Debattenrundschau

Unser Recht auf Protest

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.01.2018. In der Wikitribune erklärt Edward Snowden, warum man gegen Überwachung von Firmen und dem Staat gleichzeitig kämpfen muss. Bei main-spitze.de kritisiert Necla Kelek die Anbiederung der Kirchen an Islamverbände.  Im Interview mit der Welt erklärt der amerikanische Schriftsteller und Journalist Thomas Chatterton Williams, warum er die Identitätspolitik der Linken für absolut kontraproduktiv hält. Und die taz kritisiert den rechten Identitätspolitiker Alexander Dobrindt, der eine "konservative Revolution" fordert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.01.2018 finden Sie hier

Religion

Kritik an Religion wird auch in deutschen Medien inzwischen als "Rassismus" angesehen. Einige Zuschauer waren irritiert, dass die ARD-Korrespondentin Natalie Amiri die Bilder über die neuesten Proteste im Iran mit Kopftuch kommentiert. Das muss sie tun, wenn sie dort arbeiten will, ist ihre nachvollziehbare Begründung. Aber was wäre, wenn sie es freiwillig trüge, fragt in Spiegel online die Journalistin und Sprecherin einer Orghanisation für "Vielfalt", Ferda Ataman - und kommt mit dem Rassismus-Vorwurf: "Noch einmal fürs Protokoll: Ein paar Zuschauer verlangen, eine Frau vom Dienst abzuziehen, um gegen die Unterdrückung der Frau vorzugehen. Das ist das perfide an der Debatte über das Kopftuch: dass sich hier oft antimuslimischer Rassismus mit Sexismus paart. Und ja: Eine Journalistin mit Kopftuch im deutschen Fernsehen abschaffen zu wollen, hat - gelinde gesagt - rassistische Züge."

Die Kirchen hofieren die Islamverbände, schreibt Necla Kelek bei main-spitze.de, und sie tun es aus Eigeninteresse: "Die Kirchenvertreter erhoffen sich offenbar von der Unterstützung eines konservativen Islamverständnisses eine Aufwertung des religiösen Lebens in Deutschland. Sie selbst sind mit ihrem Selbstverständnis der Kirchen als Milieuverein mehr oder weniger gescheitert und leiden unter Mitgliederschwund. Sie erhoffen sich offenbar durch die Unterstützung der Muslime eine spirituelle Renaissance und auf der politischen Ebene an Gewicht zu gewinnen. Dabei verwischt die Trennung von Staat und Kirche zumindest in den politischen Positionen immer weiter."

Nina Apin porträtiert für die taz die beiden ehemaligen "Regensburger Domspatzen" Magnus Meier und Koljar Wlazik, die über Gewalt und sexuellen Missbrauch an der ehrwürdigen Institution berichten: "'Das war keine Schule, sondern die Hölle. Ein Kinder-KZ', sagt Meier. Der sadistisch und pädophil veranlagte Präfekt Johann Meier, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, quälte die Kinder mit militärischem Drill, Prügelritualen und sexueller Gewalt, die bis zur Vergewaltigung ging. Die Kinder waren im System gefangen, hatten kaum Kontakt zur Außenwelt, unter den Schülern herrschte eine brutale Hackordnung. 'Wir waren verroht wie die Tiere', sagt Magnus Meier."
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Europa

Gertrude Lübbe-Wolff, ehmalige Richterin am Bundesverfassungsgericht, wendet sich in einem ganzseitigen Feuilleton-Aufmacher der FAZ, der von rasender Besserwisserei nicht ganz frei ist, gegen sämtliche "Narrative", die so über die Europäische Union verbreitet sind (etwa, dass die EU den Frieden sichert oder den Nationalstaat überwindet) um zu schließen: "Von der Suche nach einem Narrativ für die EU sollte man ablassen. Es spräche gegen die Union, wenn ihren Freunden nichts Besseres mehr zu ihr einfiele." Alles klar?
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Überwachung

In der Wikitribune  veröffentlicht Wikipedia-Gründer Jimmy Wales ein Gespräch, das er mit Edward Snowden per Skype geführt hat. Snowden erklärt unter anderem, wie Überwachung durch Firmen und durch den Staat sich durchdringen können: "Wir müssen uns auch vor den Werbenetzwerken schützen, weil unsere Kommunikation durchs Netz übertragen wird, und das ist entscheidend, weil Regierungen immer weniger vorhersehbar, zuverlässig und repräsentativ für die Bedürfnisse des Publikums sind. In dem Moment, wo Regierungen die Öffentlichkeit weniger verteidigen und eher unterdrücken, müssen wir darüber nachdenken, wie wir unser Recht auf Protest bewahren, wie wir protestieren gehen können, ohne ständig an unser Handy denken zu müssen... weil die Polizei dann 'Yippie' ruft und sagt, 'wir haben jeden, der dort sein Handy an hatte'."
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Medien

Die Zeit-Journalistinnen Annabel Wahba und Jana Simon verteidigen im Gespräch mit Alexander Becker von Meedia ihre im Zeit-Magazin veröffentlichte Reportage über Vorwürfe sexuellen Missbrauchs gegen den Regisseur Dieter Wedel. Den Vorwurf der "Vorverurteilung" wollen sie nicht auf sich sitzen lassen. Wahba sagt: "Es ist die Aufgabe der Presse, auch über einen Tatverdacht zu berichten, solange dies ausgewogen geschieht. Das haben wir getan, im Text und auch auf dem Doppelcover des Magazins. Dort stellen wir dem Zitat einer der Frauen die Stellungnahme von Dieter Wedel entgegen."
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Gesellschaft

Markus Schnapka, Grünen-Mitglied und Sozialdezernent der Stadt Bornheim, kam in die Diskussion, als er jungen Flüchtlinge verbot, das Schwimmbad der Stadt zu benutzen, nachdem einige von ihnen sexuelle Übergriffe begangen hatten. Im taz-Gespräch mit Hanna Voß wundert er sich nicht, dass die Kriminalitätsraten in dieser Gruppe groß sind, und er betont, dass eine intensive Sozialarbeit nowendig sei. Gelernt habe er selbst dabei "zum Beispiel, dass Heiraten in einigen Kriegs- und Krisenregionen immer teurer geworden ist, es sich viele schlicht nicht mehr leisten konnten. In sexuell streng normierten und kontrollierten Gesellschaften werden die Männer demzufolge immer älter, bevor sie das erste Mal mit Sex in Kontakt kommen. Als diese Männer gezwungen waren zu fliehen, gelangten sie in ein Land, von dem sie nur diffuse Vorstellungen hatten, also auch jede Menge Klischees - was etwa unsere sexuelle Offenheit anbelangt. Für jemanden, der aus einem streng muslimischen Kultursektor in ein deutsches Schwimmbad kommt, kann die Offenheit, mit der sich Männer und Frauen da begegnen, eine gänzlich neue Erfahrung sein."
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Ideen

Im Interview mit der Welt erklärt der amerikanische Schriftsteller und Journalist Thomas Chatterton Williams, warum er die linke Identitätspolitik für absolut kontraproduktiv hält: "Vor Kurzem habe ich Richard Spencer interviewt, den prominentesten Vertreter der amerikanischen Alt-Right. Er sagte, dass es das Verdienst der Linken sei, dass sich die weißen Amerikaner heute wieder als ethnische Gruppe begreifen. Die Linken, so Spencer, hätten die Weißen wieder mit rassistischem Denken versöhnt, auf eine Art und Weise, wie es die Rechten nie gekonnt hätten. Wenn dieses Denken von rechts gekommen wäre, hätte sofort jeder gemerkt, wie toxisch es ist. Jetzt aber sei er zuversichtlich, weil er glaube, dass es einfacher wird, diese Leute umzudrehen."

Der CSU-Politiker Alexander Dobrindt hat in einem fatalen Gastbeitrag für die Welt, den diese aber dankenswerter Weise nicht online streut, zur "konservativen Revolution" aufgerufen, ein aus der Weimarer Zeit kontaminierter Begriff. Johanna Roth schreibt dazu in der taz: "Dobrindts Plädoyer für mehr geistige Freiheit will ja in Wahrheit das Gegenteil: identitäre Vereinfachung und antipluralistische Engstirnigkeit. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Aber wer sind 'wir'?  Die Rhetorik spricht für sich: 'Heimat und Vaterland sind Wurzeln unserer Identität', 'wenn wir unsere Volksfeste feiern (…), dann spüren wir, dass wir zusammengehören', in diesem Duktus geht das in einem fort, Migranten tauchen höchstens als Islamisten auf. Da, jetzt fühl mal die Vaterlandsliebe in dir, und wenn da keine ist, dann gehörst du nicht dazu: Das erinnert an den neurechten Ethnopluralismus."

Ebenso als Beitrag zu "Identitäten" lässt sich Ingo Arends taz-Besprechung von Dennis Altmanns und Jonathan Symons' Buch "Queer Wars" lesen - die beiden Autoren fordern dort einen "kultursensiblen" Umgang mit dem Thema Homosexualität.
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