9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn Benimm gefragt ist

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2016. Die FAZ liefert heute einen doppelten Butler: Sie verteidigt Judith Butlers Gender-Theorie und die von Butler inspirierte Carolin Emcke als Knigges in Zeiten der Hate Speech. Butler selbst erklärt im FAZ.Net, warum sie lieber "gegen Hillary" opponiert. Der Blogger Michael Seemann fürchtet unterdessen, dass "wir" aus der globalisierten Elite mit schuld sind am Rechtspopulismus. Kenan Malik plädiert in seinem Blog für offene Grenzen. Und turi2 meldet: Das Ende von Népszabadság ist besiegelt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.10.2016 finden Sie hier

Ideen

Schuld am Rechtspopulismus, sind auch "wir", meint Blogger Michael Seemann in einem Essay für die Jungle World, den die Jungle World dann interessanter Weise nicht gebracht hat. Wir - die "globalisierte Klasse", "wir" als Feindbild der rechtspopulistischen Internationale: "Wir halten trotz der 'neoliberalen Scheiße' die EU für eine gute Idee und gucken zu Hause Netflixserien im Original. Wir haben uns losgesagt von den regionalen und nationalen kulturellen Standards, Idiomen, Weltanschauungen und sind auch noch stolz darauf. Wir rümpfen die Nase über die, die für ihre Identität und ihr Wertegefüge auf den Bezugsrahmen Nation nicht verzichten können oder wollen."

Christian Geyer, der sonst eher durch seine Kritik am theologischen Hallodri Franziskus auffällt, verteidigt in einem auffälligen Aufmacher des FAZ-Feuilletons nicht nur Judith Butler, sondern auch die von ihr inspirierte Carolin Emcke, deren neues Buch und Preisrede trotz ihrer Friedensbotschaft von einigen Autoren als intellektuell unbefriedigend kritisiert wurde (unser Resümee). Dabei findet Geyer - soweit man ihn versteht -, dass es kein anderes Mittel gegen grassierende Hassrede gebe als Emckes Botschaft: "Wenn Hass spricht, so versteht man Butler (und in diesem performativen Sinne eben auch Emcke bei allem, was sie sonst von Butler unterscheidet), dann mag sich die Versammlung der Hassenden vielleicht nicht verbieten lassen. Wohl aber lässt sie sich mit einer Gegenversammlung derer beantworten, die sagen, dass Hass schlecht und Liebe gut ist. Man darf sich, mit anderen Worten, nicht nach Erkenntnis sehnen, nicht inhaltliche Originalität zum Maßstab machen, wenn Benimm gefragt ist."

Ihre Grundidee des Benimms erklärt Judith Butler in einem Interview Gregor Quack im FAZ.Net, wo sie auch auf den Wahlkampf in den USA eingeht: "Ich glaube, wir Linke müssen uns in dieser Situation vor allem eine Frage stellen: Wollen wir lieber gegen Hillary Clinton auf die Straße gehen oder gegen Donald Trump? Für mich ist klar, dass ich lieber gegen Hillary protestieren möchte. Wir müssen ihr ins Weiße Haus helfen, damit wir eine Opposition gegen sie aufbauen können. Denn eine Opposition gegen Clinton hat bessere Chancen erfolgreich zu sein als eine gegen Trump."
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Gesellschaft

Ist der Gender-Diskurs das gleiche wie der Kampf von Frauen um gleiche Chancen? Simone Schmollack, die in der taz die Kritik am Gender-Mainstreaming als Erfolg der Rechtspopulisten darstellt, beatnwortet das mit ja: "Man muss schon taub und blind sein, um zu leugnen, dass Frauen vielfach schlechter bezahlt werden als Männer und vielfach eine miserable Rente kriegen. Dass es weniger Chefinnen als Chefs gibt, dass Teilzeitjobs vorrangig von Frauen ausgefüllt werden. Dass alltäglicher Sexismus insbesondere Frauen trifft. Macht nichts - die Gender-KritikerInnen fordern trotzdem, dass jetzt endlich mal die Männer in den politischen und wissenschaftlichen Fokus gehörten."

Ohne Kinder keine Rente, erklärt in einem sehr langen Interview mit dem Freitag der ehemalige Sozialrichter und Rentenexperte Jürgen Borchert. Und da es immer weniger Kinder gibt, wird die Rentenversicherung in absehbarer Zeit in die Knie gehen. Überhaupt ist Rentenversicherung ein Wort, das er nicht mehr hören will: "Eine Versicherung ist gekennzeichnet dadurch, dass Sie bei einem Einzelfall, der von der sozialen Norm abweicht, die Sicherung gewährleistet. Das war zu Bismarcks Zeiten völlig klar. Allgemeine Lebenserwartung von 40 Jahren und Renteneintrittsalter von 70 Jahren, das war die absolute Ausnahme, das konnte man versichern. Heute ist es umgekehrt, und es ist die soziale Norm, dass wir alle das Rentenalter erreichen. Das kann man nicht versichern." Klar müsse sein, "dass wir in der RV nur so viel erwarten können, wie wir heute in die Jugend investieren. Das ist die Grundlage unserer zukünftigen Alterssicherung, und das muss sich endlich mal in den Köpfen durchsetzen."
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Politik

Eines haben Syrer aller Fraktionen im Moment gemeinssam, schreibt Kefah Ali Deeb in der taz, die Konfrontation mit dem Tod: "Die Kugel unterscheidet nicht zwischen der politischen, religiösen oder nationalistischen Gesinnung. Auch wir, die wir das Land verließen, haben erlebt, wie das Meer, die mörderischen Schlepperbanden und die politischen Hetzer in den Ländern, in denen wir nun leben, mitsamt ihren Mitläufern, die die Balance und die 'Demokratie' in ihren Gesellschaften bewahren wollen, uns zu schaffen machen. Die Syrer warten nicht mehr auf das Erbarmen von irgendjemandem; sie sind inzwischen überzeugt, dass die Welt stillschweigend alles hinnimmt, was ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen dient."

Kenan Malik präsentiert in seinem Blog eine Rede pro Freiheit der Migration, die er bei der Battle of Ideas conference in London gehalten hat - zwar fordert er nicht eine sofortige Öffnung von Grenzen, aber er insistiert, dass deren Schließung oft erst die Probleme schafft, die sie lösen soll: "Die Massenmigration von Menschen ist eine Tatsache, und das war immer so. Proportional gesehen ist die Zahl migrierender Menschen heute nicht größer als vor fünfzig Jahren. Die Zahl der Flüchtlinge ist sogar geringer als im Jahr 1992. Trotz der Hysterie verhält es sich auch nicht so, dass die meisten Migranten nach Europa wollen. Über 75 Prozent der afrikanischen Migranten gehen zum Beispiel in andere afrikanische Länder. Der groteskeste Aspekt australischer oder europäischer Politik ist die Ansicht, dass vorwiegend ärmere Länder sich um das Problem mit Migranten und Flüchtlingen kümmern sollen. Man stelle sich vor, jede Nation würde sich so verhalten wie Britannien, Australien oder die EU. Was wären die folgen? Massenlager und Massendeportationen in globalem Umfang."
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Stichwörter: Malik, Kenan, Syrien, Australien

Internet

Carolina Schwarz stellt in der taz #WeAreTwitter vor, eine internationale Bewegung von Nutzern, die das zum Verkauf stehende Twitter zu einer Genossenschaft machen wollen: "In organisierten Gruppen kommen Stimmen aus den USA, Kanada, Großbritannien und Deutschland zu Wort. Die gemeinsame Motivation: Bei der Übernahme durch einen großen Konzern fürchten sie nicht nur um ihre Daten, sondern um den Charakter des Dienstes. In einer Welt, in der einige wenige immer mehr Firmenanteile besitzen und die Regeln diktieren, wird der Wunsch nach einem Dienst in Selbstverwaltung immer größer. Dezentral organisierte Plattformen, die eine Alternative zum kapitalistischen Modell bieten. Twitter in Nutzerhand ist für die Bewegung die bessere Alternative."
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Medien

Das Ende der Népszabadság, der wichtigsten Oppositionsstimme auf dem ungarischen Zeitungsmarkt, scheint besiegelt, meldet Björn Czieslik in turi2. Der österreichische Eigentümer Heinrich Pecina hat den Verlag Mediaworks, zu dem die Zeitung gehört, an die ungarische Firma Optimus Press verkauft. "Der neue Eigentümer soll zum Geschäftsimperium des ungarischen Oligarchen Lörinc Meszaros gehören, einem engen Vertrauten des rechtskonservativen Ministerpräsidenten Viktor Orbán." Mehr beim ORF.
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Europa

Alex Rühle interviewt in der SZ Emmanuel Carrère zur Räumung des Flüchtlingslagers von Calais und fragt unter anderem, warum in dieser Region der Front national so populär ist: "Weil der Front National den Menschen sagt: Ihr seid arm dran, die Eliten haben euch verraten, wir werden uns um euch kümmern. Mit den ersten beiden Aussagen haben sie ja recht, sie sind arm dran, und die politische Elite hat sich nicht gekümmert. Ich denke inzwischen manchmal, sollen sie doch mal gewinnen. Dann werden die Leute nach einem halben Jahr sehen, dass der FN die Probleme auch nicht lösen kann. Und der FN würde endlich diese Aura verlieren, dass er es wäre, der sich wirklich um die Menschen kümmert."
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