9punkt - Die Debattenrundschau

Identitätszirkus

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2016. In Polen demonstrierten Hunderttausende Frauen gegen das Abtreibungsverbot - Vice und Standard berichten. Politico.eu porträtiert einen nordirischen Aktivisten, der fürchtet, dass die Versöhnungsarbeit der EU mit dem Brexit stoppt. Linkspartei und AfD haben doch eine Menge gemein, staunt die taz. In der SZ schildert Teju Cole sein atheistisches Erweckungserlebnis. Die SZ kritisiert das Jugendangebot der Öffentlich-Rechtlichen, das nur dazu diene, im übrigen Programm mit dem "Traumschiff" zu segeln.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.10.2016 finden Sie hier

Europa

Hunderttausende Frauen und Männer demonstrierten gestern in Polen gegen das barbarische Abtreibungsgesetz der Kaczynski-Regierung. Viele Frauen im ganzen Land trugen aus Protest schwarz. Die deutsche Presse bringt für das Thema so gut wie kein Interesse auf (in der taz ist ein kleiner Bericht). Bei Vice berichtet Isabella Mackie: "Die Streikaktion war von dem sogenannten  Women's Day Off inspiriert, den isländische Frauen im Jahr 1975 erfunden hatten: Sie verweigerten Hausarbeit und Kinderbetreuung um für ihre Rechte zu protestieren. Die Frauen wollen auf ihre Not in der Abtreibungsfrage hinweisen, eine Herausforderung in einem katholischen Land von 38 Millionen Einwohnern, in dem die Kirche das Verbot unterstützt."

Im Standard zitiert Gabriele Lesser die polnische Radiojournalistin Ewa Wanat: "'Fundamentalismus hat mit Religion nicht allzu viel zu tun', sagt die bekannte Radiojournalistin Ewa Wanat. 'Ob jemand nach einem Stein greift, um eine angebliche sündige Frau zu töten, oder im Sejm auf einen Knopf drückt, um eine Frau zu einer lebensbedrohlichen Geburt zu zwingen - in beiden Fällen handelt es sich um ein Todesurteil.'"


Manche Arbeitgeber sind mit den Protesten nicht einverstanden, wie der folgende Tweet zeigt:


Um die schockierenden Szenen in Dresden gestern in Erinnerung zu behalten. Michael Bartsch fasst in der taz zusammen: "Den fast tausend geladenen Gästen schlug ungezügelter Hass des harten Pegida-Kerns entgegen. Die sogenannte Volksinitiative 'Einprozent' hatte Trillerpfeifen gesponsert, die fast eine Stunde lang ertönten. Rufe wie 'Volksverräter' und 'Merkel muss weg' wurden vielfach intoniert. Zu den bekannten Sprüchen kamen 'Orbán, Orbán!'-Rufe und ein bemerkenswerter Slogan hinzu: 'Merkel nach Sibirien, Putin nach Berlin!''"

Das Rechte kommt im Osten auch vom Linken. Ulrike Herrmann hat in der taz auch die Ähnlichkeit der Positionen von Frauke Petry und Sahra Wagenknecht beobachtet, die in der Sonntags-FAZ ein Streitgespräch führten, das über weite Strecken keines war: "Ein weiteres AfD-Lieblingsthemen ist das 'Bekenntnis zum Nationalstaat', also die Ablehnung der EU. Wagenknecht distanziert sich zwar von diesem 'muffigen Nationalismus', aber faktisch will sie die EU auch abschaffen: 'Die Rückverlagerung der Kompetenzen auf die Staaten ist eine Frage der Demokratie.' Diese Position 'teilen wir', sagt Petry zufrieden. 'Demokratie und Transparenz funktionieren in kleinen Verbünden viel besser als in großen.'"

Stephen Brown porträtiert für politico.eu den nordirischen Aktivisten Raymond McCord, der gegen den Brexit klagen will und der Angst hat, dass die Nordiren Zugang zum europäischen Gerichtshof verlieren. Außerdem hebt er den Beitrag der EU zur Versöhnung in Nordirland hervor und "fürchtet, dass Opfergruppen in Nordirland Zugang zu Finanzierung aus der EU verlieren. Seit 1994 hat Brüssel mehr als zwei Milliarden Euro in Friedensprojekte in Nordirland gesteckt, und außerdem weitere Milliarden in Infrastrukturinvestitionen. 'Europa hat Millionen nach Nordirland gepumpt, um Opfern des Bürgerkriegs zu helfen, es hat auch Geld in Cross-Community-Gruppen gesteckt', sagt McCord. 'Die Bilanz der britischen Regierung in Sachen Menschenrechten ist dagegen eine Schande, es gab nur  Vertuschung nach Vertuschung.'"

Viktor Orbans Referendum gegen die EU-Flüchtlingsquoten ist gescheitert: Es hat nicht die nötigen Stimmen bekommen, weit mehr als 50 Prozent sind nicht zur Abstimmung gegangen. Orban sieht das allerdings ganz anders, berichtet Ivo Mijnssen in der NZZ: "Neun von zehn Ungarn hätten mit der Regierung gestimmt, betonte er, nun werde er dem 'Volkswillen' mit einer Verfassungsänderung nachkommen."
 
In der SZ warnt Cathrin Kahlweit schon vor der nächsten Attacke: Orban wolle nun "gegen Brüssel und den Lissabon-Vertrag reiten, mit dem die Europäische Union sich vor knapp zehn Jahren eine reformierte Arbeitsgrundlage gegeben hat. Orbán will eine Verfassungsänderung, mit der Budapest allein über die Aufnahme von Migranten entscheidet. Das Argument: Die gemeinsame Asylpolitik ist gescheitert, Brüssel schützt uns nicht, also schützen wir uns selbst. Die Visegrád-Staaten und, wenn man die jüngsten Äußerungen des österreichischen Außenministers richtig wertet, womöglich sogar Teile der Wiener Regierung hat er dabei schon hinter sich. Es wird ein heißer Herbst."
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Politik

Die drei Politologen Larry Diamond, Marc F. Plattner und Christopher Walker, Autoren des Buchs "Authoritarianism Goes Global", weisen in der FAZ auf die Medien- und Desinformationskrieg von Regimes wie Russland, Iran und China hin: "Russland zeigt sich besonders aggressiv beim Einsatz von soft power, und nicht alle führenden autoritären Regime setzen ihre Medien und andere Einflussinstrumente in derselben Weise ein. Doch alle neuen internationalistischen autoritären Regime investieren erhebliche geistige Arbeit und beträchtliche Mittel in die Einflussnahme auf die weltweiten öffentlichen Meinungen und Diskussionen. Diese Entwicklungen müssen von den Demokratien sehr viel ernster genommen werden als bisher."

Im Interview mit Zeit online verteidigt der Ökonom Marcel Fratzscher die geplanten Freihandelsabkommen TTIP und Ceta. Auch die Schiedsgerichte sieht er positiv: "Sie sollen frei von politischen und unternehmerischen Einflüssen entscheiden. Und sie helfen dabei, dass nationale Gerichte nicht zwischen den Interessen heimischer und ausländischer Unternehmen unterscheiden müssen und vielleicht am Ende nicht vollständig neutral sind. ... In Europa haben wir beispielsweise 28 verschiedene Rechtssysteme und darüber den Europäischen Gerichtshof. Wenn ein Unternehmen weiß, dass es noch eine unabhängige supranationale Klageinstanz gibt, schafft das notwendige Sicherheit."
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Medien

Den Streit zwischen Verlagen und öffentlich-rechtlichen Sendern um die Tagesschau-App findet der Blogger (und freie Mitarbeiter öffentlich-rechtlicher Sender) Christian Jakubetz albern. Die beiden hätten doch eine Menge gemein: "Tageszeitungen und ARD und ZDF, das ist im Regelfall inzwischen etwas für Menschen um die 60. Wollte man sich also ein Publikum verschaffen, das Optionen für eine längerfristige Zukunft bietet - man müsste Angebote machen, die den Bedürfnissen solcher Zielgruppen entgegenkommen. In dem Zusammenhang: Mich erstaunt, dass sich der BDZV beispielsweise beim neuen Angebot Funk eher ruhig hält. Das nämlich ist mittelfristig für die Verlage bedrohlicher als eine Nachrichten-App."

Katharina Riehl von der SZ ist jedenfalls mit funk.net nicht sehr zufrieden: "Es wäre die Verantwortung der Sender, ihr Programm zu reformieren und Inhalte zu wagen, die auch jene ansprechen, die längst zu Netflix oder Amazon geflohen sind. Genau das wollen ARD und ZDF aber nicht, weil Krimis, 'Traumschiff' und Quizfragen ihnen eine sehr solide Quote bescheren. Deshalb wurden schon vor Jahren munter Spartensender gegründet und nun eben für 45 Millionen Euro eine Kinderecke im Internet eingerichtet."
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Ideen

Für das Erstarken der Rechten ist laut Claus Leggewie, den  Ingo Arzt und Jan Feddersen in der taz interviewen, die Linke auch deshalb verantwortlich, weil sie die soziale Frage leichtfertig vernachläissgt habe: "Das Umschwenken von Klassenfragen und von sozialpolitischen Fragen hin zu Identitätsfragen, wie sie in den sechziger Jahren auch die sozialen Bewegungen betrieben haben, also der Wechsel von Klassenanalyse und Klassenkampf zu 'race-class-gender', fällt uns jetzt auf die Füße. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty warnte schon in den neunziger Jahren vor dem Identitätszirkus im akademisch-amerikanischen Raum und der damit verbundenen politischen Korrektheit."

Im Interview mit der SZ erklärt der amerikanische Autor Teju Cole, wie er sich mit 27 Jahren vom evangelikalen Paulus in einen Saulus verwandelte: "Innerhalb eines Tages wurde damals aus einem tiefgläubigen Fundamentalisten ein Atheist. Das war tatsächlich eine Art Epiphanie. Aber mit 33 ist mir dieser Mut zugewachsen, wirklich der zu sein, der ich bin. Nicht mehr so zu schreiben, dass es meinen Eltern gefällt. Dieser Moment, ab dem es dir wirklich egal ist, was die anderen denken. Wobei ich diese intellektuelle Freiheit nie erreichen hätte können, wenn ich nicht mit 27 die Religion hinter mir gelassen hätte."
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Gesellschaft

Dass die Religion, speziell der Islam, ein Integrationshindernis sein kann, hält die Religionslehrerin Lamya Kaddor im Interview mit dem Standard für einen "Laien-Diskurs", wie ihn die Medien pflegten: "Auch über Sinti und Roma oder Homosexuelle wurde und wird bisweilen nicht viel besser gesprochen. Auch sie werden verunglimpft. Integrationsprobleme haben vielleicht an dritter oder vierter Stelle etwas mit Religion zu tun, aber zuallererst sind es sozioökonomische Gründe und eben völkische Einstellungen. Und davon sind Muslime ebenso betroffen wie Deutschrussen oder Deutschitaliener oder Deutschdeutsche."

Bereits am Freitag hatte Kaddor in Zeit online Autoren wie Henryk Broder und Roland Tichy beschuldigt, eine Stimmung zu schaffen, die nun zu Morddrohungen gegen sie geführt hätten.
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Wissenschaft

Im "Blogseminar" der FAZ erklärt der Ethnologe Michael Oppitz in einem epischen, mit Videos und Bildern unterlegten Interview die Bedeutung der Schamanentrommeln in Nepal: "Sehr oft ging es um Depression. Bei allen Fällen, bei denen es um psychische Ursachen von physischem Leid ging, verzeichnet diese Praxis aus meiner Sicht große Erfolge. Das Gemeinschaftserlebnis 'Ritual' spielt hierbei eine große Rolle. Auch die Tatsache, dass sich Schamanen teilweise zwei bis drei Tage ganz einem Menschen widmen und dass die Patientenfamilie tief in die Tasche greifen muss, trägt zur Heilung bei."
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