9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Weichei, wer sich gegen Chili entscheidet

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2016. Weltfrauentag, auch in der taz, die die Pinkifizierung der weiblichen Kindheit anprangert und Frauen auffordert, aus Solidarität, das Kopftuch abzulegen. In lorientlejour.com beschreibt der Journalist David Thomson die immer schwierigere Lage in Tunesien. Bernard-Henri Lévy setzt in seiner jüngsten Kolumne seine Hoffnung auf die deutsch-französische Achse. In der CJR warnt die Medienwissenschaftlerin Emily Bell: Facebook frisst den Journalismus auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.03.2016 finden Sie hier

Politik

Die taz hat heute einen Schwerpunkt zum Weltfrauentag. Almut Schnerring und Sascha Verlan zeichnen ein bestürzendes Bild von der Festschreibung angeblicher Geschlechtereigenschaften schon im Kinderalter. Das wird seit Jahren immer schlimmer, wie jeder leicht feststellen kann, der auf einem Kinderspielplatz Horden langhaariger kleiner Mädchen in rosa und violett sieht: "Waren in den 1980ern Gummistiefel überwiegend gelb und für Kinder da, gibt es sie heute vor allem in Blau und Violett, irgendein Fahrzeug auf dem einen, Feen und Käfer auf dem anderen Paar - als wäre das Geschlecht wichtiger als die Schuhgröße. Es gibt für Mädchen und Jungen unterschiedliche Klebestifte, Zahnbürsten und Rätselbücher. Es gibt Hähnchenschnitzel für sie und ihn, Männersalz, Frauenchips und Currysauce in den Schärfegraden Mädchen, Junge und Kerl … Ein Weichei, wer sich gegen Chili entscheidet? Aber nein, ist doch nur lustig gemeint."

Die hannoveranische Journalistin Sineb El Masrar erklärt im Interview mit der taz, warum es überhaupt kein Problem sein sollte, konservativ, muslimisch und tolerant zu sein. Und zum tolerant sein gehört ihrer Ansicht nach auch, das Ablegen des Kopftuchs zu akzeptieren: "Nehmen Sie etwa die Juristin, die angeblich wegen ihres Kopftuchs in Neukölln ihr Rechtsreferendariat nicht antreten konnte. Sie hat Frauen dazu aufgefordert, sich symbolisch ein Kopftuch aufzusetzen. Warum gibt es nicht mal eine Aktion, bei der Kopftuchträgerinnen symbolisch ihr Kopftuch abnehmen - aus Solidarität mit den Frauen und Mädchen, die es nicht freiwillig tragen? Aber ich bin mir sicher: Es gibt diese Frauen. Sie sind nur noch nicht sichtbar."

Um den Feminismus, der zwischen Aggressivität und neuen Tabus schwankt, steht es nicht zum besten, meint Meike Lobo bei Zeit online und kritisiert auch die Autorinnen des #ausnahmslos-Aufrufs: "Eine Analyse sowohl der Auslöser als auch der strukturellen und kulturellen Ursachen der Übergriffe unterblieb auch hier, während paradoxerweise gleichzeitig die Wichtigkeit einer differenzierten Debatte betont wurde."

Gestern meldeten die Medien eher routiniert, dass die tunesische Grenzstadt Ben Guerdane von IS-Milizen überfallen wurde und dass bei den Kämpfen mehr als 50 Menschen getötet wurden. Auf der Seite lorientlejour.com interviewt Caroline Hayek den Journalisten und Spezialisten für die Region David Thomson, der sich Sorgen um Tunesien macht: "Der Vorfall von Ben Guerdane ist ein Indiz für die nachlassende Sicherheit in Tunesien seit Ende 2012, ein Prozess, der sich meiner Meinung nach in den folgenden Monaten und Jahren noch verschlimmern wird. Ich glaube, es schwebt eine wirklich große Gefahr über Tunesien, ein Aufstand könnte drohen, und die Rückkehr der Dschihadisten."
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Europa

Europa ist in Gefahr, meint Bernard-Henri Lévy in seiner jüngsten Kolumne mit Blick auf die Flüchtlingskrise, es sei denn es folgt "erstens der von Angela Merkel gezogenen Linie über die Pflicht zur Gastfreundschaft, die moralisch unendlich ist und politisch Bedingungen unterliegt und die wir unseren Brüdern schulden, die an die Pforte des gemeinsamen Hauses pochen. Und zweitens der von François Hollande gezogenen Linie über die syrische Frage und die doppelte Barbarei, die das Land von seinen Einwohnern leert und sie auf die Straßen des Exils wirft - sie ist die wirkliche Wurzel der aktuellen Tragödie. Die beiden Politiker sollten sich über ihre jeweiligen Wahrheiten verständigen. Nur ihre Kombination wird die deutsch-französische Achse wiederbeleben, ohne die alles kaputtgeht."

Kamel Daoud hat nicht nur einen Roman Albert Camus' fortgeschrieben, die beiden haben auch als Intellektuelle eine Menge gemein, meint die französische Politikerin Naïma Charaï bei huffpo.fr. Zur Zeit der kommunistischen Hegemonie über das französische Geistesleben "sieht Camus klar und hebt sich von Jean-Paul Sartre ab. Camus' Schriften wehren sich mit Vehemenz gegen alle Formen des Einverständnisses mit dem als Kollektivismus verkleideten Faschismus. Die Verteidiger des Gulags, die das französische Geistesleben terrorisieren, fallen über ihn her. Wie Kamel Daoud hatte Albert Camus eine Menge Feinde. Im großen und ganzen all jene, die über Gut und Böse im letzten Jahrhundert nichts verstanden haben und die um ihrer Ideologie willen die Augen abwandten."

Vor einigen Jahren war es in der EU noch üblich, in der Türkei die Einhaltung von Menschenrechten anzumahnen. Damit ist es vorbei, bedauert Karen Krüger in der FAZ. Man braucht Erdogan, um die Flüchtlingsströme nach Europa aufzuhalten. "Die Europäische Union und die deutsche Bundeskanzlerin schauen weg, während die türkische Regierung im Osten des Landes wieder Krieg gegen die Kurden führt, bei dem schon mehr als hundert Zivilisten getötet worden sein sollen. Die türkische Justiz schaltet die auflagenstärkste Zeitung des Landes aus - und abermals ist nichts aus Berlin oder Brüssel zu hören. Sicherlich, die EU ist in der Flüchtlingsfrage auf die Unterstützung der Türkei angewiesen. Genauso aber braucht sie eine rechtsstaatliche Türkei. Auf einen Unrechtsstaat ist kein Verlass."

Europa ist nicht die EU, ruft im britischen Onlinemagazin spiked Brendan O'Neill, der sich als Europaliebhaber bekennt, aber den Brexit unterstützt: "Die EU ist anti-democratisch und illiberal. Ihre Unterstützter sagen uns, dass sie die europäischen Völker inspiriert. Unsinn. Sie ist eine Union europäischer Eliten, die ihre Völker scheuen. Die EU ist der Mechanismus, durch den nationale Regierungen bestimmte Befugnisse an entfernte, meist nicht rechenschaftspflichtige Körperschaften wie die Europäische Kommission oder den Europäischen Gerichtshof outsourcen. Die Brüssel-Maschine will nicht Europa zusammenbringen, sie will nationale Regierungen von der Bürde befreien, uns, das Volk, in wichtigen politischen und sozialen Themen zu konsultieren."
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Internet

In der SZ erklärt Evgeny Morozov, warum das Silicon Valley das "bedingungslose Grundeinkommen" propagiert. Weil es ein schlimmer Finger ist: "Das Grundeinkommen würde Tech-Firmen ein progressives, soziales Image geben, während sie den Weg frei machen zu weiteren Expansionen."
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Medien

Hilfe, Facebook frisst den Journalismus auf, schreibt die Journalismusprofessorin Emily Bell in einem kurzen, aber prägnanten Kommentar der Columbia Journalism Review, der die aktuellen Tendenzen sehr schön zusammenfasst: "Erstens haben die Nachrichtenproduzenten die Kontrolle über den Vertrieb verloren. Soziale Medien und Plattform-Unternehmen haben übernommen, was Medien kaum hätten aufbauen können, selbst wenn sie es gewollt hätten. Nun werden Nachrichten durch Algorithmen und Plattformen gebündelt, die undurchsichtig und unvorhersagbar sind. Die Medienindustrie folgt diesem Trend und digitale Natives wie Buzzfeed, Vox und Fusion haben ihre Präsenz auf der Prämisse aufgebaut, dass sie innerhalb dieses System, nicht gegen es arbeiten. Zweitens ist die unvermeidliche Folge davon die Machtsteigerung der Scial-Media-Companies."

Außerdem: In der SZ porträtiert Jens Schneider den taz-Chefredakteur Georg Löwisch.
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