9punkt - Die Debattenrundschau

Das Spiel der Wellen in den Medien

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.02.2016. Nach der "Islamophobie"-Attacke von 19 Akademikern erkärt Kamel Daoud nun in Le Monde, dass er mit dem Journalismus aufhört. Bei Zeit online wendet sich Najem Wali an die Flüchtlinge, besonders die männlichen: "Zu Hause wart ihr Paschas, hier werdet ihr nichts sein." Der Tagesspiegel macht sich Sorgen um den Prenzlauer Berg, wo die einstigen Verdränger verdrängt werden. In der Berliner Zeitung empfiehlt Götz Aly dringend, Jan Gross zu lesen. In der Washington Post fordert die Publizistin Danielle Allen einen journalistischen Trump-Boykott.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.02.2016 finden Sie hier

Ideen

Sehr scharf wendet sich Kamel Daoud in einem Briefwechsel mit dem New Yorker Journalisten Adam Shatz, den Le Monde abdruckt, gegen eine Petition von 19 Akademikern, die ihm nach zwei Texten über Köln "Islamophobie" vorwarfen (unsere Resümees). "Sie leben nicht in meiner Haut und meinem Land, und ich finde es illegitim, wenn nicht skandalös, dass einige von ihnen mich der Islamophobie beschuldigen - von Terrassen westlicher Cafés aus, wo Komfort und Sicherheit herrschen." Nun beschließt er zu schweigen: "Ich höre mit dem Journalismus auf und werde mich nur noch mit Literatur befassen. Ich werde den Bäumen und den Herzen lauschen. Lesen. Selbstvertrauen und innere Ruhe zurückgewinnen. Forschen. Nicht abschwören, aber weiter gehen als das Spiel der Wellen in den Medien." In der NZZ resümiert Marc Zitzmann die jüngste Debatte.

Außerdem: In der taz schreibt Micha Brumlik zum 60. Geburtstag Judith Butlers. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath.
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Europa

Niemand darf den Menschen den Glauben an ein besseres Leben nehmen, meint der serbische Schriftsteller Vladimir Arsenijevik in einem kurzen Text im Tagesspiegel: "Schmerz, Furcht und Ohnmacht reisen im Gepäck von Millionen Flüchtenden, die seit undenklichen Zeiten über den Globus ziehen. Und auch die blinde Hoffnung, welche der Titan Prometheus der Menschheit zugleich mit dem Geschenk des Feuers vermachte. Dieses ganz spezielle Gut ist den Flüchtenden weder zu nehmen noch zu rauben. Es ist schlichtweg unveräußerlich."

Auf Zeit online fasst der deutsch-irakische Schriftsteller Najem Wali das etwas konkreter. Er konstatiert einen mangelnden Realitätssinn vieler Flüchtlinge: die Erwartungen an Deutschland seien oft viel zu hoch. "Vor ein paar Tagen etwa habe er zwei Landsleute getroffen, die aus ihrer Asylbewerberunterkunft im weißen Ostberlin ins multikulturelle Kreuzberg gekommen waren, weil hier eine irakische Zahnärztin praktiziert, erzählt Wali. Als sie ihn im Wartezimmer um Rat baten, nahm er kein Blatt vor den Mund: 'Zu Hause wart ihr Paschas, hier werdet ihr nichts sein', sagte er den beiden Männern ins Gesicht. Die einzigen Gewinner ihrer Flucht seien ihre Kinder. Diese würden Deutsch lernen, Selbstbewusstsein tanken und ihnen rasch den Rang ablaufen. 'Du bist sehr hart', habe der Jüngere erwidert. So sei das aber, gab Wali zurück."

Jörg Häntzschel reflektiert in der SZ die Schwierigkeit, einem Ereignis wie dem von Clausnitz, sprachlich gerecht zu werden: "Begriffe wie 'Barbaren' distanzieren die Gewalttäter von den Leuten, die bald als AfD-Abgeordnete in die Parlamente einziehen, dabei gibt es zwischen den geistigen und tatsächlichen Brandstiftern größte Nähe. Die Pegida-Frau Tatjana Festerling etwa lobte die Busblockade von Clausnitz und sprach vom 'Mut der Bürger' - von Wut war nicht die Rede. Begriffe wie 'Krawall' und 'Exzess' lassen die Taten unkontrolliert und spontan erscheinen, tatsächlich stecken hinter ihnen Pegida, AfD und die Köpfe aus ihrem Umfeld."
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Kulturpolitik

Londons ehemaliger Rotlichtbezirk King's Cross wird seit einigen Jahren gentrifiziert, berichtet in der NZZ Marion Löhndorf, die das tatsächlich gar nicht so schlecht findet. Denn das alte Viertel mit seinen Drogenbanden und notorisch verschmutzten Luft war auch nicht so toll. Zumal man sich heute Mühe gibt, alte Gebäude zu renovieren statt abzureißen: "Die wichtigsten historischen Gebäude - die Stars des Viertels - wie die Güterhalle und die Gaskessel blieben erhalten und wurden einer neuen Bestimmung zugeführt. In den ehemaligen Getreidespeicher und in die Güterhalle zog Central Saint Martins, eine der weltbesten Designschulen, ein. Modestudenten sind von dort aus in weniger als drei Stunden in Paris."

In Berlin frisst die Gentrifizierung gerade ihre Kinder, kann man einem Tagesspiegel-Interview mit Irina Liebmann und Anne Jelena Schulte entnehmen. Die beiden Autorinnen haben Mieter eines Hauses in Prenzlauer Berg 1980 und 2015 befragt und festgestellt: die ehemaligen Verdränger haben jetzt selbst Furcht, verdrängt zu werden. "Im Vergleich zu derzeitigen Neumieten wohnen sie günstig. Eine Bewohnerin erzählte, dass der Vermieter ihr gesagt habe, dass er ständig Angebote von Interessenten bekommt, die die doppelte Miete bezahlen würden", erzählt Anne Jelena Schulte.
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Geschichte

Wer Polen und die Schrecken des 20. Jahrhunderts verstehen will, muss Jan T. Gross lesen, empfiehlt Götz Aly in der Berliner Zeitung. Er hat den von seiner konservativen Regierung scharf kritisierten polnischen Historiker gerade im Lesesaal von Yad Vashem in Jerusalem getroffen, wo Gross an einem neuen Buch arbeitet: "Jan Gross interessiert sich für das Verhalten der Menschen, nicht für glatte Nationalpädagogik, er wechselt gerne die Perspektiven. Anders als die meisten seiner deutschen Kollegen schreibt er wundervoll klar, knapp und dennoch quellenstark. Wer die Schrecken des 20. Jahrhunderts besser verstehen will, der lese Jan Gross und mache sich mit ihm über den Warschauer Politikzirkus lustig."

Die regierende PiS-Partei in Polen arbeitet derweil an einem neuen Zensurgesetz zum "Schutz des guten Rufs Polens", das jenem ähnelt, das als "Lex Gross" 2007 vom Verfassungsgericht kassiert worden war, berichtet Gabriele Lesser in der taz. "Dieses Mal kann Gross nicht auf die Verfassungshüter vertrauen. Diverse PiS-Gesetze haben das Verfassungsgericht weitgehend gelähmt, sodass das neue Wissenschaftszensurgesetz rechtskräftig werden könnte. Im Namen des 'guten Rufs Polens' könnten Gross und die Forscher des Warschauer Zentrums zur Erforschung des Holocaust ins Gefängnis gehen, weil sie sich mit Themen wie Pogromen, Kollaboration und Antisemitismus beschäftigen. Die PiS will einen längst überwunden geglaubten Mythos beleben: die Polen als 'ewige Opfer und Helden der Geschichte'."
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Politik

Viel retweetet, erstaunlicher Weise auch von Medienhierarchen, wird ein Denkstück der Politologin und Kolumnistin Danielle Allen, die in der Washington Post kritisiert, dass Journalisten dazu beitragen, das Publikum an die Ausfälle Donald Trumps zu gewöhnen und eine Selbstbeschränkung für Medien fordert: "Vielleicht sollten wir unsere Scheinwerfer nicht auf Beleidigungen richten, das Mikrofon ausmachen, wenn jemand andere niederschreit, Standards wieder einführen, die festlegen, was als ein akzeptabler Beitrag zur Debatte gilt. Das scheint journalistischen Normen zu widersprechen, ja, aber warum soll Trump nicht Amzeigen bezahlen, um seine faulen und aufrührerischen Ideen zu verbreiten? Auch so hat er noch einen großen Zugang zu freier Meinungsäußerung. Es ist Zeit, eine klare Linie zu ziehen."
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