9punkt - Die Debattenrundschau

Links sein und dennoch denken

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.04.2015. Libération kann sich den griechischen Reparationsforderungen an Deutschland ganz und gar nicht anschließen. Die taz warnt unterdessen vor russischen Kreditbedingungen. Während alle anderen Regionen nach Fortschritt suchen, fragen sich die Araber, wer das höhere Recht hat zu hassen oder zu morden - Schiiten oder Sunniten? -, ächzt Najem Wali in der SZ. Die FAZ feiert Ayaan Hirsi Ali. In Amerika wird weiter über den GAU beim Rolling Stone diskutiert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.04.2015 finden Sie hier

Europa

Jean Quatremer von Libération kann sich mit den griechischen Reparationsforderungen an Deutschland in Höhe von 278,7 Millarden Euro ("die Cents müssen vergessen worden sein") nicht anfreunden: "Ich habe schon gesagt, was ich von dieser Forderung halte. Sie stößt ein Land in seine Vergangenheit zurück, das wesentlich mehr als Griechenland getan hat, um sich selbst in Zweifel zu stellen und ein Kapitel der Geschichte endgültig zuzuschlagen. Vor allem widerspricht diese Forderung dem Geist der europäischen Konstruktion: Syriza vergisst ein wenig zu schnell, wie sehr Griechenland (wie alle europäischen Länder) von der Union profitiert hat. Nur in Strukturfonds hat es seit 1988 Gelder erhalten, die 4 Prozent seines Bruttosozialprodukts entsprachen und die zu einem guten Teil von Deutschland gezahlt wurden, also wesentlich mehr als der Marshall Plan. Wo wäre Griechenland ohne die Union heute?"

Klaus-Helge Donath beschreibt in der taz, was Griechen und Russen seit dem Kampf gegen das Osmanische Reich miteinander verbindet, vielleicht aber auch schon seit Leonidas die Thermopylen gegen die Perser verteidigte. Die Größe ist bei beiden allerdings dahin: "Jetzt aalen sich beide in Ressentiments. Großer Einfluss und geringes Interesse sind eine explosive Mischung. Bevor Griechenland sich für Russland entscheidet, sollte Alexis Tsipras bei den Georgiern nochmals nachfragen, wie sich das Leben an russischer Leine anfühlt. Auch wäre es sinnvoll, bei den Kollegen auf Zypern anzuklopfen und sich nach den russischen Kreditbedingungen zu erkundigen. Sie sind härter als die der westlichen Finanzinstitutionen. Der Philosoph Kostas Axelos würde dem Moskaureisenden den Rat geben: "Wir sollten links sein und dennoch denken.""

Weiteres: Ralf Leonhard besucht für die taz die Ausstellung zum Wiener Kongress im Belvedere.
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Kulturpolitik

Joseph Hanimann berichtet in der SZ von der Misere, die nun auch die Kulturpolitik in der französischen Provinz einholt. Bereits über einhundert Festivals wurden in diesem Jahr abgesagt, wie diese Karte zeigt. In der FAZ meldet Gina Thomas, dass die stark kritisierte Chefin der Tate Britain, Penelope Curtis, das Haus verlässt und das Gulbenkian-Museum in Lissabon übernimmt.
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Stichwörter: Lissabon, Tate Britain

Politik

Najem Wali rauft sich in der SZ die Haare beim Blick auf den Nahen Osten, wo sich Saudi-Arabien, Sudan und Katar zu einer echt fortschrittlichen Allianz zusammengefunden haben, um den jahrhundertealten Konlfikt mit dem Iran noch einmal anzustacheln: "Es ist paradox: Die Welt im 21. Jahrhundert ist mit dem Konflikt des Kapitals, der Definition neuer Mächte und dem Wettstreit wissenschaftlicher Entdeckungen beschäftigt. Aber im Nahen Osten müssen sich die Menschen mit der Frage herumschlagen, wer das Recht hat, mehr zu morden, schlimmer zu unterdrücken, in Syrien, in Libanon, im Irak, in Jemen, in Bahrain und anderen ethnisch und konfessionell gemischten Gegenden. Wer darf die Region tyrannisieren - Iraner oder Araber? Sunniten oder die Schiiten? Huthi oder Wahhabiten?"

Noch ohne von den jüngsten tödlichen Polizeischüssen auf einen Schwarzen in South Carolina zu wissen (mehr bei Slate oder in der New York Times), sammelt Konrad Ege in der taz Belege dafür, dass die Ungerechtigkeit des amerikanischen Justizsystems nicht eine Frage der Hautfarbe, sondern des Geldes ist: "Die Polizei habe im Jahr 2013 11,3 Millionen Menschen festgenommen, informiert das FBI. Die allermeisten wegen nicht gewalttätiger Vergehen, wie Trunkenheit, Diebstahl, Drogen, Ruhestörung. Ins polizeiliche Fadenkreuz geraten vor allem Leute mit wenig Geld. Beinahe 80 Prozent der rund 12 Millionen US-Amerikaner, die pro Jahr vor Gericht erscheinen, könnten sich keinen Anwalt leisten, erklärte der Gründer vom Rechtshilfeverband Gideon"s Promise, Jonathan Rapping." Aber klar: "Spricht man in den USA von "einkommensschwach", sind oft Minoritäten gemeint."

Weiteres: In der SZ fordert die deutsche Amnesty-Leiterin Selim Caliskan einen stärkeren Kampf für die Rechte der Frauen in der Welt.
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Ideen

Der Psychoanalytiker Jacques-Alain Miller antwortet in La Règle du Jeu auf den neomarxistischen Philosophen Jacques Rancière, der im Nouvel Obs (nicht online) geklagt hat, dass die universellen Werte vom Kapitalismus gekapert worden seien. Miller will Rancière die mutige Résistant- und Minderheitenposition, die er dabei für sich reklamiert, nicht abnehmen: "Es gibt sehr viele, die wie du glauben, dass die "großen universellen Werte", wie du sie nennst, nur der neue Anstrich des westlichen Imperialismus seien. In den Vereinten Nationen stellen sie die Mehrheit. Denn in diesem Punkt sind sich Putin und seine slawophilen Vordenker, die Herren Chinas, Saudi Arabiens, des Irans, das neue islamische Kalifat, nicht zu vergessen Lee Kuan Yew, Gott hab" ihn selig, der Erfinder Singapurs, nämlich einig."

Regina Mönch feiert in der FAZ Ayaan Hirsi Alis neues Buch "Reformiert euch! Warum der Islam sich ändern muss", das nun auch auf deutsch erscheint: "Mutig wie immer durchbricht Hirsi Ali das schematische Muster für Islamismuserklärungen. Sie besteht darauf, dass Extremisten den Islam nicht einfach "gekapert" haben für ihre unguten Zwecke, sondern dass dieser Religionskrieg ein Teil des unhinterfragten islamischen Großkonzeptes sei, das auch darum eine grundstürzende Reform brauche." Jetzt online: In der Sonntags-FAZ verteidigte Claudius Seidl das Recht der Frauen aufs Kopftuch.
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Gesellschaft

Und hier ein Tweet aus Kyoto:

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Stichwörter: Kyoto

Medien

In Amerika wird weiter über den GAU beim Rolling Stone diskutiert: Dort hat die Reporterin Sabrina Rubin Erdely eine nicht verifizierte Geschichte über eine Vergewaltigung an der West Virginia University gebracht (unser Resümee). Am Sonntag erschien ein Report von Studenten der Columbia Journalism School dazu, den Clay Shirky in der New Republic allerdings für überflüssig hält, weil die Sache zu simpel sei und schlicht ins Muster der Geschichte, die "zu schön ist, um sie nachzuprüfen", falle: "Wie mein Kollege Jay Rosen schon ausgeführt hat, entschied sich Erdely nach dem "richtigen" Vergewaltigungsopfer zu suchen. Sie hatte zuvor mehrere Frauen an unterschiedlichen Colleges interviewt, fand aber deren (zweifellos zutreffende) Berichte über sexuelle Gewalt nicht emblematisch genug. Dieser Wunsch nach dem perfekten Opfer trieb Erdely, Dutzende von Frauen, die die Wahrheit erzählten, zu übergehen, bis sie die eine Fabuliererin gefunden hatte." In der FAZ berichtet heute Patrick Bahners ausführlich über die Geschichte.

In der NZZ erzählt Jannis Hagmann von der wachsenden Comedy-Szene in Saudi-Arabien, deren großer Star gerade Ibrahim Khairallah ist: "Khairallahs Live-Auftritte sind besonders bei den "shabab", den jungen Leuten, beliebt, denn die Ausgehmöglichkeiten sind in dem ultrakonservativen Königreich begrenzt. "In Saudiarabien mangelt es an Unterhaltung", erklärt der Gründer des Comedy Club, Yaser Bakr. "Hier heißt Unterhaltung, mit Freunden abzuhängen oder mit der Familie essen zu gehen." ... Zu scharfe Kritik an der Regierung vermeidet Bakr allerdings. Witze über die Königsfamilie sind in seinem Klub tabu. "Wir kennen unsere Grenzen und belassen es bei Alltagsthemen.""

In ihrer taz-Kolumne ist Silke Burmester gar nicht gut auf Kollegen wie Deniz Yücel zu sprechen, die zur Welt wechseln. Dazu passt eine Kolumne von Welt-Redakteur Alan Posener auf starke-meinungen.de über " das Schreiben für die "Springer-Presse"".
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