9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Falle, in die wir nicht gehen dürfen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.01.2015. Es geht nicht darum, dass sich die Muslime distanzieren, sondern dass sie ihre Solidarität ausdrücken, meint Bernard-Henri Lévy in Le Monde. Die reformistische Muslimin Irshad Manji betont im Spectator, dass der Islam sehr wohl modernisierungsfähig ist und auch Mohammed-Karikaturen aushalten kann. Ihr extremistischer Kollege Anjem Choudary kann ihr in USA Today nicht zustimmen. Französische Medien staunen über ihre amerikanischen und britischen Kollegen, die lieber keine Zeichnungen zeigen möchten. Die Zeit zeigt die umstrittenen Karikaturen aus Charlie Hebdo ebenfalls nicht und erklärt warum. Die SZ erklärt nicht, warum. In Amerika wird über das "Recht auf Blasphemie" gestritten. Und der Guardian spendet 100.000 Pfund.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.01.2015 finden Sie hier

Europa

Einer der Kouache-Brüder soll von Al-Qaida trainiert wordenen sein, berichtet die Huffpo.fr mit AFP (mehr auch bei Spiegel Online): "Auf Frage von CNN hat Justizministerin Christiane Taubira bestätigt, dass sich einer der beiden Brüder zweimal in den Jemen begeben hat. Said sei durch ein Mitglied von Al-Qaida an Waffen trainiert worden, bevor er nach Frankreich zurückgekommen sei, präzisiert ein amerikanischer Offizieller, der damit eine Information der New York Times bestätigt." Le Monde zeigt unterdessen eine alte Fernsehreportage, in der einer der beiden Kouachi-Brüder als reuiger Sünder präsentiert wird und rappt und tanzt, mehr hier.

Einschätzungen

Ja, die Muslime sollten sich schon regen, findet Bernard-Henri Lévy in einem Text aus Le Monde (wir übernehmen die Übersetzung der heutigen FAZ, die den Text nachdruckt): "Die Muslime Frankreichs sind es nicht leid, sich zu rechtfertigen, wie allzu oft behauptet wird: Sie sind - und auch dies ist das genaue Gegenteil - dazu aufgerufen, ihre konkrete Brüderlichkeit mit ihren massakrierten Mitbürgern zum Ausdruck zu bringen und dadurch ein für alle Mal die Lüge einer geistigen Gemeinschaft zwischen ihrem Glauben und dem der Mörder auszurotten." Allerdings haben die muslimischen Verbände einhellig das Attentat verurteilt, berichtete schon gestern die taz.

Tahar Ben Jelloun nennt das Attentat in Le Monde einen Anschlag auf "jene Institutionen und Gesetze, die einen republikanischen Islam möglich machen". Und "es ist ein Krieg gegen die Freiheit zu schreiben, zu zeichnen und gegen künstlerische Arbeit. Ein gesichtsloser Krieg gegen Säkularismus, Satire, Humor, Spott und ätzende und fruchtbare Kritik. Sie hätten auch Voltaire, Montaigne und Rabelais ausgraben und ihre Werke in Brand stecken können."

Die reformistische Muslimin Irshad Manji zeigt in ihrem Blog im Spectator unter Aufbietung einer Menge Koran-Verse, dass der Islam sehr wohl fähig ist, sich mit verschiedenen Weltsichten zu arrangieren, und sie weist auf die fatale Dialektik der Auseinandersetzung hin, wenn sie als ein Kampf der Kulturen aufgefasst wird: "Islamophobie existiert, und es macht mich wütend, wenn jemand, der den Islam eigentlich von der Karte wischen will, glaubt, er helfe damit den Reform-Muslimen. Das tut er nicht. Wenn sie den Islam in denselben dogmatischen Begriffen beschreiben, wie extremistische Muslime es tun, dann geben die Islamophoben den Extremisten die Autorität, über den Islam zu entscheiden."

Nach erstem Entsetzen tritt in Frankreich wieder die ungute politische Stimmung zutage, die schon zuvor herrschte: "Dieses Attentat hat die dreckige Fresse von Renaud Camus, Eric Zemmour und Marine Le Pen", schreibt in einem Gastkommentar der Anwalt Nicolas Garderes in Libération: Das Attentat sei zugleich "extrem verstörend und zutiefst erwartet, angekündigt, retrospektiv voraussgesagt. Er ist die enorme Gelegenheit, auf die das kommende Paradigma wartete, das des Hasses."

Islam und radikaler Islam

Der Islam hat nichts mit dem radikalen Islam zu tun? Dieser Unsinn muss endlich aufhören, fordert Ayaan Hirsi Ali in der Welt: "Wir können nicht länger so tun, als sei es möglich, die Taten zu trennen von den Idealen, die sie inspiriert haben. Das muss der Ausgangspunkt sein für den Westen, der auf die dschihadistische Gewalt zu oft mit Appeasement geantwortet hat. Wir beschwichtigen die muslimischen Regierungschefs, die uns drängen, unsere Presse zu zensieren, unsere Universitäten, unsere Geschichtsbücher, unsere Lehrpläne. Sie bedrängen uns, und wir machen das mit. ... Und was bekommen wir dafür? Kalaschnikows im Herzen von Paris. Je mehr wir mitmachen, je mehr wir uns selbst zensieren, je mehr wir beschwichtigen, desto dreister wird der Feind."

In einem Kommentar für USA Today gibt ihr der in Britannien lebende, islamische Extremist Anjem Choudary hundertprozentig Recht: "Im Gegensatz zu einem populären Irrglauben bedeutet Islam nicht Frieden, sondern Unterwerfung einzig unter die Gebote Allahs. Daher glauben Muslime nicht an das Konzept der freien Meinungsäußerung. Ihr Reden und Handeln werden von der göttlichen Offenbarung bestimmt, nicht von den Wünschen der Menschen."

Daniel Cohn Bendit meint dagegen im Interview mit der Welt: "Der Anschlag ist eine Falle, in die wir nicht gehen dürfen, indem wir Islam und Terrorismus gleichsetzten. Die NSU, das sind ja auch nicht die Deutschen."

In der taz wehrt sich Deniz Yücel gegen alle Versuche der "Spackos" von links, rechts oder muslimischer Seite, die Toten für sich zu vereinnahmen: "Es sind nicht alle Katzen grau. So wie Pegida eben kein gesamtdeutsches, sondern ein ostdeutsches Phänomen ist. Aber, auch diese Differenzierung muss sein, rassistische Dumpfbacken sind nicht dasselbe wie kaltblütige Killer. Die Entsprechung der Mörder von Paris ist nicht Pegida, sondern Anders Behring Breivik. Doch faschistische Killer entstehen in einem geistig-politischen Umfeld, das Mord und Terror zwar ehrlich verurteilt, aber grundlegende Ansichten und Gefühlslagen mit den Mördern teilt."

Die Frage der Bilder

Anders als noch bei den dänischen Karikaturen haben fast alle deutschen Zeitungen Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo gezeigt, teilweise sogar auf ihrer Titelseite (mehr dazu hier). Die FAZ hat heute in ihrem Feuilleton sogar eigene Mohammed-Karikaturen von deutschen Zeichnern. Andreas Platthaus erzählt dazu die Geschichte der französischen Karikatur, die er am 14. November 1831 beginnen lässt, als mit Charles Philipon erstmals ein Zeichner wegen Majestätsbeleidung vor Gericht stand: "Nun wird es darauf ankommen, dass diese Linie nicht abbricht."

Nur zwei deutsche Zeitungen verzichten auf den Abdruck der Karikaturen: Zeit online und die Süddeutsche. Auf Zeit online schildert Chefredakteur Jochen Wegner die etwas exponierte Situation seiner Redaktion, die ebenerdig zur Straße hin in einem gläsernen Kasten sitzt. Außerdem haben ihm die Zeichnungen eh nie gefallen: "Wir beschlossen auch, nicht gleich das Naheliegende zu tun und mit zweifellos ehrenvoller Solidaritätsgeste sofort eine umfassende Sammlung von Karikaturen zu publizieren, die wir vor den grauenhaften Anschlägen nicht gut gefunden hätten. Dafür kritisieren uns viele Leser scharf und wir diskutieren dies weiter in der Print- und Onlineredaktion." Auch die SZ veröffentlicht keine Karikaturen, obwohl Chefredakteur Kurt Kister in einem Kommentar erklärt, "dass wir alle nur leben können, wenn wir gemeinsam das großartige Recht auf die Freiheit der Meinung verteidigen".

Das Pariser Attentat bringt auch einige gravierende Unterschiede zwischen Frankreich und den angelsächsischen Ländern zutage, die zwar stolz sind auf ihre Meinungsfreiheit, aber nicht, wenn es um die verschiedenen Versionen des lieben Gottes geht. Viele Zeichungen aus Charlie Hebdo werden nur verpixelt gezeigt. Nur drei amerikanische Medien veröffentlichten die Zeichnungen: The Daily Beast, die Washington Post und Slate, berichtet die Welt: "Die New York Times, das Wall Street Journal, Reuters und Associated Press hingegen verzichteten darauf, die Bilder zu zeigen, die nach allem, was man weiß, der Grund für das Massaker waren. Ihren Entschluss begründeten sie damit, dass man durch eine solche Veröffentlichung Gefahr laufe, religiöse Gefühle zu verletzen. "Nach sorgfältigen Überlegungen haben die Herausgeber der Times beschlossen, dass eine Beschreibung der Karikaturen ihre Leser ausreichend informieren würde", erklärte die Sprecherin der New York Times Company, Danielle Rhoades Ha, in einer E-Mail."

Claire Levenson zeichnet bei Slate.fr die Debatte amerikanischer Kollegen über das Recht auf Blasphemie nach. Kurioserweise sei es gerade ein konservativer Kolumnst der New York Times, Ross Douthat, der die deutlichsten Worte zu ihrer Verteidigung findet, notiert sie, und zitiert aus seinem Artikel: "Wenn eine einigermaßen große Gruppe dich umbringen will, weil du etwas gesagt hast, dann muss es wohl etwas gewesen sein, das gesagt werden musste, denn sonst hätten die Gewalttätigen eine Vetomacht über die freie Zivilsation." Le Monde präsentiert hier einige Beispiele verpixelter Karikaturen aus CNN und anderen Medien. (Das Foto aus Mediaite ist ein Screenshot aus den New York Daily News, mehr hier.)

Ähnlich schreibt Jonathan Chait im NYmag: "The right to blaspheme religion is one of the most elemental exercises of political liberalism. One cannot defend the right without defending the practice."

Auch in Britannien werden die Mohammed-Karikaturen nicht gezeigt, meldet der Standard: "Keine einzige der großen Londoner Zeitungen nahm die Charlie Hebdo-Karikaturen auf die Titelseite. Das Risiko sei "zu hoch", teilte der Chefredakteur des Independent, Amol Rajan, mit. ... Das Einknicken, so der einflussreiche Kolumnist David Aaronovitch, habe Tradition. Auch als es 2006 um die kruden Mohammed-Karikaturen in Jyllands Posten ging, bildeten britische Presse und Politik eine fast beängstigende Einheitsfront in Beschwichtigung."

Ja, die Demokratie braucht Blasphemie, denn sie stellt Dogmen in Frage, meint auch Markus Becker bei Spiegel Online: "Zur Erinnerung: Wenn von westlichen Werten die Rede ist, spielen sich die christlichen Kirchen gern als deren Geburtshelfer auf. Doch das Gegenteil ist der Fall. Jene Werte der Aufklärung, auf die sich auch Deutsche heute gern berufen - Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung - wurden nicht von den Kirchen, sondern meist gegen sie durchgesetzt."

Die deutschen Karikaturisten

Die Karikaturisten Greser & Lenz erklären im FAZ-Interview, warum sie niemals Mohammed zeichnen würden: "Es gibt keinen Gottesbeweis und keinen für seine Nichtexistenz. Die Leute sollen sich selbst verhalten. Wir wollen ja auch keinem Kind den Glauben an den Weihnachtsmann oder den Osterhasen nehmen."

Im Standard sieht Georg Haderer das ganz anders: "Wenn die Aufklärer vor 250 Jahren solche Grenzen akzeptiert hätten, würden bei uns noch heute die Scheiterhaufen brennen. Satire darf alles; es ist ganz klar, dass wir immer aufgefordert sind, diese Grenzen neu zu definieren. ... Ich erwarte, dass die Zeichnungen von Charlie Hebdo auf den Titelseiten der Zeitungen auftauchen."

Weitere Interviews gibt es mit den Karikaturisten Klaus Stuttmann (Tagesspiegel), Heiko Sakurai (Berliner Zeitung) und Emmanuel Letouzé (SZ).
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Medien

Eine Anregung für Springer, Holtzbrinck und alle weiteren! Auch der Buchreport ruft zu Spenden für Charlie Hebdo auf.

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