9punkt - Die Debattenrundschau

Waffen gegen Butter

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.12.2014. Im Guardian schreibt Timothy Garton Ash eine Hommage auf Schildkrötenbändigerin Merkel, die den Bären Putin besiegte. Die Russlandfreundlichkeit der Deutschen ist laut Zeit online aber so groß, dass sehr viele von ihnen den Medien lieber nicht mehr glauben. In der SZ erstellen Heinz Bude und Ernst-Dieter Lantermann eine Psychologie der Islamfeindlichkeit. Motherboard erzählt, wie Sony die weitere Verbreitung geleakter Mails bekämpft. In der Welt fragt Wolf Lepenies, ob Deutschland überhaupt "Abendland" ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.12.2014 finden Sie hier

Europa

Die harte Sparpolitik, die Angela Merkel in der europäischen Krise diktiert hat, hält Timothy Garton Ash im Guardian für einen Fehler. Aber vor ihrer klaren Haltung gegenüber Putin zieht er den Hut: "Auf der einen Seite der russische Mann: Macho, Militarist, Verfechter der Lüge nach sowjetischer Art (Russische Soldaten auf der Krim? Was für Soldaten?), ein nachtragender, postimperialer Nationalist. Auf der anderen die deutsche Frau: Abwägend, auf Konsens bedacht, ruhig, Klartext sprechend, stark durch ihr ökonomische Macht, steuert sie die langsame, multinationale, Souveränität teilende europäische Schildkröte. Die Methoden des 19. Jahrhunderts stoßen auf die des 21. Jahrhunderts: Mars, der Gott des Krieges, gegen Merkur, den Gott des Handels, Waffen gegen Butter. In der ersten Hälfte des Jahres 2014 schien der Bär das Rennen zu machen, doch jetzt, da die russische Wirtschaft vor dem Zusammenbruch steht, scheint die Schildkröte doch zu gewinnen."

Claus Stephani antwortet in der NZZ auf Vorwürfe Markus Bauers, er habe mit einem (gewonnenen) Prozess gegen die ihm unterstellte IM-Tätigkeit unter Ceaușescu die Aufklärung historischer Sachverhalte erschwert.
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Politik

Der Affekt gegen Politik und Medien findet sich nicht nur bei Pegida-Anhängern, hat Zeit online herausgefunden: "Ein erheblicher Teil der Bevölkerung scheint die Ansicht der Pegida-Demonstranten zu teilen, dass die Medien in Deutschland voreingenommen sind. In einer repräsentativen Umfrage von YouGov für Zeit online unterstützten 47 Prozent der Befragten die Aussage, dass die Medien einseitig berichten und von der Politik gelenkt würden. 40 Prozent hingegen glauben, dass sie objektiv und unabhängig berichten." Die Frage ist allerdings mit Bezug auf den Russland-Ukraine-Konflikt gestellt worden.

In der SZ analysieren die Soziologen Heinz Bude und Ernst-Dieter Lantermann die drei Gruppen, die für Islamfeindlichkeit besonders anfällig sind: Neben den "grundsätzlich Enttäuschten" und den "panischen Mittelständlern" sind dies die "verhärtet Selbstgerechten": "Sie wünschen sich eine Gesellschaft zurück, in der die tradierten Werte wieder zählen: Sicherheit, Disziplin und Leistungswille. Sie sehnen sich nach klaren Lebensverhältnissen zurück, die nicht länger gestört werden von Menschen, die anders denken und leben als sie... Verhärtete Selbstgerechtigkeit ist ein wesentliches Motiv für das, was der amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset den "Extremismus der Mitte" nannte."

Weitere Artikel: In Slate lässt sich Steven Pinker auch durch die verschärfte politische Weltlage nicht von seiner positiven Einschätzung abbringen: "Niemals haben wir in solch friedfertigen Zeiten gelebt."
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Ideen

Bernard Henri-Lévy hat Eric Zemmour verteidigt, der Frankreich mit ähnlichen Thesen in Wallung vesetzt wie Sarrazin einst Deutschland. Zemmours Sender RTL wird bedrängt, den Jornalisten zu schassen. In seinem Blog erklärt sich BHL: "Ich verabscheue die Ideen des Autors von "Le Suicide français". Aber ich glaube, dass diese Ideen, so lange sie nicht gegen Gesetze verstoßen, bekämpft, demontiert, disqualifiziert oder auch lächerlich gemacht werden müssen - nicht verboten." In der FAZ schreibt heute Jürg Altwegg über Zemmour und die Folgen.

Einen sehr interessanten Hintergrund zum Begriff des Abendlands und zur Frage, ob Deutschland überhaupt dazugehört, liefert Wolf Lepenies in der Welt: "Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sahen patriotische Europäer das Abendland bedroht. Nicht vom Islam. Von Deutschland. Dies behauptete der Franzose Henri Massis in seinem Buch "Défense de l"Occident", das 1927 erschien und als "Verteidigung des Abendlandes" ins Deutsche übersetzt wurde. Die Niederlage, das Friedensdiktat von Versailles und das Scheitern aller Bemühungen, eine europäische Friedensordnung zu errichten, hatten Deutschland zur Abkehr vom Westen und damit vom Abendland geführt."
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Medien

Michael Calderone stellt auf Huffingppost den neuen New Republic-Chefredakteur Gabriel Snyder vor, der nach der Explosion der Redaktion (unsere Resümees) in einer internen Mail verspricht , an die Traditionen des Blattes anzuknüpfen: "The New Republic wird wie stets eine Heimstatt für ehrgeizigen Journalismus, scharfe Argumente, provokative Ideen und innovative Geschichten sein."

Paul Berman erinnert im Tablet Magazine daran, dass nicht allein die Liberalität The New Republic so bedeutend gemacht hat, sondern seine Intellektualität: "An den Nachrufen hat mich eine Sache besonders gestört, und das war die Tendenz vieler Kommentaren, das Magazin als ein politisches Journal zu beschreiben. Es war immer ein Politik-und-Kultur-Journal, was eine ganz andere Sache ist."
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Internet

Sony will "The Interview" nun möglicherweise auf Youtube veröffentlichen meldet heise.de mit dpa und bezieht sich auf ein CNN-Interview mit dem Chef von Sony Entertainment, Michael Lynton: "Seine Firma prüfe im Moment alle Möglichkeiten dafür und ziehe beispielsweise eine Veröffentlichung auf der Online-Plattform YouTube oder Video-on-Demand in Betracht. Eine endgültige Entscheidung darüber gebe es aber noch nicht."

(Via The Verge) Motherboard, ein Blog der Vice-Gruppe präsentiert eine Brief von Sony an Twitter, in dem der Konzern dem Dienst mit Klagen droht, falls Links zu Leaks aus dem Sony Hack nicht gelöscht werden. "Sonys Schlacht zur Eindämmung der Leaks aus Mails hat sich von Nachrichtenmedien auf individuelle Twitter-Nutzer und nun auf Twitter selbst ausgedehnt."

In der FAZ fragt Patrick Bahners, ob Amerika den Cyberkrieg verloren hat. Und der Suchmaschinenexperte Marcus Tandler befürchtet, dass der Vorsprung von Google als Suchmaschine nicht mehr eingeholt werden kann.
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Religion

In der NZZ erzählt Klaus Bartels, wie zwei Weihnachtslegenden lange nach der Geburt Jesu höchst erfinderisch die augusteische und die christliche Friedensordnung verknüpften.
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Geschichte

Sabine Vogel porträtiert in der taz die amerikanische Künstlerin Elana Katz, die in Bukarest den verblassenden Spuren jüdischer Geschichte nachgeht. "Noch 1985 ließ Ceausescu ganze Stadtviertel abreißen, das jüdische war eines davon. Mit einer Liste der Gemeinde, auf der die ehemaligen Synagogen und Gemeindehäuser verzeichnet sind, geht Elana Katz voran: Rund 300 Adressen sind verzeichnet. "Die kommunistische Zeit war der Holocaust nach dem Holocaust", sagt Elana Katz. "Was die vierziger Jahre überlebte, wurde in den Achtzigern zerstört.""

Im Tagesspiegel schaltet sich der Rechtshistoriker Helmut Kramer in einen Expertenstreit um den großen Frankfurter Generalstaatsanwalt im Auschwitz-Prozess, Fritz Bauer, ein.
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