9punkt - Die Debattenrundschau

Mittelalterliche Ordnungsmuster

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.07.2014. In einem wütenden Text reagiert der israelische Autor Nir Baram in der FAZ auf den Mord an einem palästinensischen Jungen und spricht Israel jede moralische Überlegenheit ab. Zugleich meint der  Politikwissenschaftler Yagil Levy in der taz, dass Israel mit der Hamas wird verhandeln müssen. Ein neuer Faschismus regt sich nicht in der Ukraine, sondern eher in der EU, meint Richard Herzinger in einem Essay für die Internationale Politik. In der NZZ untersucht der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze den Kalifat-Anspruch der irakischen Terrortruppe Isis. In Welt und SZ wird weiter über die Burka diskutiert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.07.2014 finden Sie hier

Politik

Der junge israelische Autor Nir Baram reagiert in einem wütenden Text in der FAZ auf den Mord an dem palästinensischen Jungen Mohammed Abu Chedir, dessen Familie und Freunde er getroffen hat. Auch die Kinder, die bei israelischen Militäraktionen ums Leben kamen sieht er als Ermordete: "In den israelischen Nachrichten heißt es immer wieder, dass Israels Heer "keine Kinder ohne Grund tötet". Die Israelis nicken mit moralistischen Mienen. Wie kann man das heute behaupten, angesichts der Tatsache, dass im vergangenen Jahrzehnt mehr als dreizehnhundert palästinensische Kinder durch die israelische Armee getötet wurden? Das roboterhafte Rezitieren solcher Unwahrheiten und die vermeintliche moralische Überlegenheit, an der ein Großteil der israelischen Bevölkerung festhält, verhüllt die Wirklichkeit und verursacht ein falsches, gefährliches Gefühl, ausschließlich Opfer und Verfolgter zu sein."

Die Israelis sind im Konflikt mit der Hamas derzeit in einer "Lose-lose"-Situation, meint der Politikwissenschaftler Yagil Levy Im Interview mit der taz. Dennoch habe Netanjahu keine Wahl als mit der Hamas zusammenzuarbeiten: "Die Hamas ist vorläufig die einzige politische Bewegung, die den Gazastreifen verwalten kann, wobei die noch radikalere Opposition stärker wird. Die Hamas verliert ja gerade an politischer Macht, weil sie die noch radikaleren Extremisten bislang an Angriffen gegen Israel hinderte. Für uns ist ganz wichtig, dass die Hamas eine starke Macht bleibt. Der Aufbau eines Hamas-Staates in Gaza ist für Israel von fundamentalem Interesse."

Der chinesische Ministerpräsident Xi Jinping mag gern den starken Mann markieren, aber in Wirklichkeit ist er ein Getriebener, schreibt in der taz die Sinologin Kristin Shi-Kupfer. Zum Beispiel des Militärs: "Die Armee fordert nicht nur ein größeres Budget für moderne Waffensysteme, sondern sie verlangt auch Projektionsflächen für die chinesischen Potenzfantasien. Zudem hat die politische Loyalität der Generäle ihren Preis. Einen teuren Kompromiss musste Chinas Staatschef Ende Juni offenbaren: Durch die beschlossenen Änderungen des "Gesetzes zum Schutz militärischer Einrichtungen" gewährt Xi der Armee de facto ein Mitbestimmungsrecht bei lokalen Investitionen und Bauvorhaben - und damit auch neue Bereicherungsmöglichkeiten."
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Europa



(Dieter Zirnigs Foto aus der U-Bahn in Kiew ist unter CC-Lizenz bei Flickr veröffentlicht.)

Der Faschismusvorwurf gegen die ukrainische Demokratiebewegung, der im Westen vor allem von linken Putinisten weiterverbreitet wurde, ist eher verstummt. Richard Herzinger veröffentlicht in seinem Blog einen Essay aus der Zeitschrift Internationale Politik, in dem er über die Situation nachdenkt: "Die wahren Brutstätten für das Erstarken von Rechtsradikalismus und Neo-Nationalismus liegen, wie sich nun herausgestellt hat, keineswegs in der um ihre Freiheit kämpfenden Ukraine... Die Quellen dieser Gefahr für den Fortbestand einer auf universalistischen Freiheitswerten beruhenden europäischen Ordnung finden sich vielmehr im Inneren der EU selbst. Und durch die Herausbildung einer Achse von nationalpopulistischen und rechtsnationalistischen Kräften in Europa mit der Autokratie Wladimir Putins hat diese Gefahr eine neue Qualität gewonnen."

Die FAZ bringt außerdem einen Essay Claudio Magris" über die Essenz des Europäischen, die er in der Verteidigung des Individuums und universaler Prinzipien sieht.
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Internet

Es ist immer noch nicht klar, wer mit einem blauen Brief von der VG Media rechnen muss, um für das neue Leistungsschutzrecht Schutzgeld zu bezahlen. Das deutsche Urheberrecht war schon diffizil genug, meint Till Kreutzer bei rights.info: "Da diese Aspekte in der Debatte von verschiedensten Seiten unzählige Male hervorgehoben wurden, sollte erwartet werden können, dass der Gesetzgeber besonders sorgfältig arbeitet, um zumindest soweit wie möglich Rechtssicherheit zu gewährleisten. Dieses Ziel wurde jedoch gründlich verfehlt. Die Neuregelungen zum Leistungsschutzrecht enthalten eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe mit großem Auslegungsspielraum."
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Gesellschaft

Der britisch-kanadische Journalist Doug Saunders erklärt Katja Kullmann im Gespräch für den Freitag, dass Deutschland das einzige Land ist, in dem sich Hiphopper über die Langeweile einer Festanstellung beschweren: "Den Deutschen geht es gut - und sie lieben ihre Festanstellungen. Schauen Sie sich um: Es gibt kaum ein anderes Land mit so viel Wohlstand. Da ist also diese Sicherheit im Rücken, aber sie wird nicht genutzt für Wagnisse oder Ideen. Erstaunlich, ein globaler Spezialfall. Ein Vergleich von 24 Ländern mit ähnlichen Strukturen hat gezeigt: In anderen Ländern sind viel mehr Menschen selbstständig, gründen ihre eigenen Geschäfte. Deutschland liegt da abgeschlagen auf dem 20. Platz. Ein Land voll von Menschen, die am liebsten für andere arbeiten."
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Religion

Einen wichtigen und selten thematisierten Aspekt in der Kopftuch- und Burka-Debatte spricht Susan Vahabzadeh in der SZ an: Viele verteidigen das Recht muslimischer Frauen auf Totalvermummung. Aber in ihr stecke ein Vorwurf und eine Behauptung moralischer Überlegenheit gegenüber westlichen Frauen. Darum sei auch "das Recht westlicher Frauen zu verteidigen, nicht in die Defensive zu geraten": "Es gibt durchaus Argumente gegen den Nikab, den Vollschleier mit Augenschlitz und die Burka, wo auch die Augen noch hinter Gittern verschwinden, die weder fremdenfeindlich sind noch intolerant, sondern so gemäßigt feministisch, dass sie auch für weite Teile der islamischen Welt gelten."

Wieso der Entscheid des Europäischen Gerichtshof zum Burka-Verbot in Frankreich mehr als kontraproduktiv und obendrein ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft ist, erklärt Khola Maryam Hübsch in der Welt. "Denjenigen Frauen, die dazu gezwungen werden, eine Burka zu tragen, sind nun vermutlich die letzten Chancen auf ein Ausbrechen durch Kontakt mit der Außenwelt genommen. Wem nützt also ein Burka-Verbot? Ist eine pluralistische, liberale Gesellschaft nicht in der Lage die wenigen Grenzfälle auszuhalten, die am Rande auftauchen?"

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Überwachung

Warum empören sich im neuesten Geheimdienstskandal deutsche Politiker mal wieder nur in "homöopathischer Dosis"? Weil sie von Spähsucht befallen sind, diagnostiziert Sascha Lobo bei Spon: "Der baden-württembergische Verkehrsminister Hermann schlug als Lösung der Maut-Debatte ernsthaft vor, sämtliche Pkw mit GPS-Sensoren zu überwachen - der Fairness halber. Nach einem Jahr Diskussion über die Totalüberwachung als Politiker derart blind für Bürgerüberwachung zu sein, erfordert schon genau die Art von Verdrängung und Verklärung, die so typisch ist für Suchterkrankungen."
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Geschichte

Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze untersucht in der NZZ die historischen Bezüge auf das Kalifat, das die irakische Terrortruppe Isis anstrebt: "Schon die Wahl des Nom de guerre Abu Bakr ließ vermuten, dass Ibrahim Großes im Sinn hatte, war doch Abu Bakr der erste Nachfolger, das heißt der erste Kalif, des Propheten Mohammed gewesen. Al-Baghdadis Vorstellung vom Kalifat kann als eine Neuerfindung gelten; sie deutet eine ultrareligiöse Heilsherrschaft mit mittelalterlichen Ordnungsmustern, die auf die islamische Frühzeit projiziert werden."
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Stichwörter: Irak, Isis, Kalifat, Schulze, Reinhard