9punkt - Die Debattenrundschau

Singt nicht den Koran bei meiner Beerdigung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.01.2023. Die FR bringt Navid Kermanis Frankfurter Neujahrsrede - eine Hommage auf die Hingerichteten der iranischen Freiheitsbewegung. Die FAZ berichtet von der Gründung einer "Kulturfront Russlands" durch einige putinistische Kollaborateure aus der Kulturwelt wie den Schauspieler Nikolai Burljajew, den Filmemacher Andrei Kontschalowski und den Dirigenten Valery Gergiev. In der taz erklärt die Feministin Maren Smith, warum sie gegen das schottische Selbstbestimmungsgesetz ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.01.2023 finden Sie hier

Politik

Die FR bringt Navid Kermanis Frankfurter Neujahrsrede. Er widmet sie gewissermaßen der kommissarischen Oberbürgermeisterin Frankfurts, Nargess Eskandari-Grünberg, die selbst vor den Mullahs nach Deutschland floh. Kermani liest den zutiefst bewegenden Abschiedsbrief des Hingerichteten Mohammad Hosseini vor. Und er denkt an eine andere Hinrichtung, die nebenbei die Perfidie dieses religiösen Regimes zeigt - die das Opfer selbst benennt: "Majidreza Rahnavard wurde vor etwa zwei Wochen hingerichtet, es wurde im iranischen Fernsehen übertragen. Unter einer Maske, so einer Stofftüte, sagte er in die Kamera: 'Trauert nicht um mich und singt nicht den Koran bei meiner Beerdigung. Ich möchte das nicht'. Das wurde zur Abschreckung gezeigt, um zu zeigen, wie schlimm dieser Bursche ist - doch faktisch haben es Iraner verstanden. Ein Affront, eine Absage an die eigene schiitische Kultur des Leidens, des Weinens. Jeder hat das verstanden." Sehen und hören kann man die Rede hier, ab Minute 41 dieses Youtube-Videos.
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Europa

Im November 2022 hat der Schauspieler Nikolai Burljajew, bekannt aus einigen Tarkowski-Filmen, zusammen mit dem Ausschuss für die Entwicklung der Zivilgesellschaft der Staatsduma der Russischen Föderation die Kulturfront Russlands gegründet. Die Bewegung ist so nationalistisch und homophob wie ihr Gründer, berichtet in der FAZ Konstantin Akinscha. Mit dabei der Filmemacher Andrei Kontschalowski, der Ideologe Alexander Dugin, der Dirigent Valery Gergiev und der Schriftsteller Sachar Prilepin. Ihr Ziel? Eine radikale Veränderung der Kulturpolitik Russlands: "Die Front befürwortet die Einführung der Zensur - die Einrichtung sogenannter 'künstlerischer Räte', ein vergessener Bestandteil der sowjetischen Kulturpolitik. Solche Räte, die von Filmen bis zu Gemälden alles genehmigen oder missbilligen sollten, gab es praktisch in allen Kultureinrichtungen. Burljajew und seine Gefolgsleute glauben, dass die Kultureinrichtungen den Rat von 'Experten' einholen müssen, die die patriotische Substanz der Kunst beurteilen können. Im Unterschied zu den glücklichen Tagen der UdSSR müssen den wiedererstandenen 'Kunsträten' indes auch Vertreter der orthodoxen Kirche und der staatlichen Sicherheitsdienste angehören, um das Urteil zu präzisieren. ... Burljajews Rede ließ keinen Zweifel daran, was die neue Bewegung für die russischen Museen und die bildende Kunst plant. Er verkündete: 'Die Zeit der ,Schwarzen Quadrate' ist vorbei.'" Für die Ukrainer sind das gute Nachrichten: Sie können Malewitsch jetzt endlich als einen der ihren eingemeinden.

Unterdessen hat der Direktor der Petersburger Eremitage, Michail Piotrowski, sich unter der Überschrift "Unterm Banner der Politkorrektheit" in den Sankt Petersburger Nachrichten gegen die Rückgabe von Raubkunst ausgesprochen, meldet Kerstin Holm in der FAZ.
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Wissenschaft

Warum macht eigentlich heute jede kulturwissenschaftliche Strömung was Kritisches? Kritische Soziologe, kritische Weißseinsforschung, kritische Menstruationsforschung, kritische Migrationsforschung? Für Lucas Rudolph ist das reines Marketing. "Mainstream sind immer die anderen", spottet er in der Jungle World. "Der Konformismus des 21. Jahrhunderts heißt Selbstüberhöhung, und die ist am leichtesten zu haben, wenn man sich in Opposition zu übermächtigen Gegnern wähnt. Darum bauschen Dr. Hinz und Dr. Kunz ihre austauschbaren Lieblingstheoretiker zum dringend notwendigen und kritischen Korrektiv auf. Unter der Hand schwindet dabei Kritik, die den Namen verdient hätte. Auch das verrät schon die Selbstbezeichnung. Wer kritische Soziologie oder kritische Ökonomie betreibt, hat nämlich keine Kritik der Soziologie vor Augen und keine Kritik der Ökonomie. Stattdessen schielt man auf eine irgendwie andere, irgendwie linke und natürlich höchst innovative, also bessere Soziologie oder Ökonomie. Der kleine sprachliche Unterschied zwischen dem Substantiv 'Kritik' und dem Adjektiv 'kritisch' ist inhaltlich entscheidend: Eine Kritik der Naziphilosophie Heideggers ist etwas ganz anderes als eine kritische Heidegger-Lektüre. Das eine Mal kommt so etwas wie der 'Jargon der Eigentlichkeit' dabei heraus, das andere Mal der Poststrukturalismus."
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Gesellschaft

Das schottische Parlament hat im Dezember eine Reform des Gesetzes zur Geschlechtsumwandlung beschlossen. Danach soll jeder ab 16 Jahre sein Geschlecht selbst bestimmen können, ohne Einschränkung oder Voraussetzung. Im Interview mit der taz erklärt die Feministin Maren Smith, warum sie und ihre Mitstreiterinnen strikt gegen dieses Gesetz sind: Frauen würden damit alle Schutzräume verlieren. "Die schottische Regierung hat im Parlament gesagt, dass die Änderung des Personenstands keinen Unterschied machen würde. Wir haben aber gerade eine Verfassungsklage gegen die schottische Regierung verloren, wo sie  genau mit dem Gegenteil argumentierte, nämlich, dass die Änderung des Personenstands alles ändere. Mit der Reform sind in Schottland zum Beispiel reine Frauen- und Lesbenvereine nicht mehr möglich, weil wir jeden Mann, der seinen Personenstand geändert hat, reinlassen müssen. Das Gleiche gilt für Mädchenschulen. Schon 2012 hat die schottische Regierung die Bedingungen für staatliche Förderung geändert: Das Programm 'Equally Safe' fordert von Organisationen, die Frauen Schutzräume anbieten, etwa zur Beratung für Opfer sexueller Gewalt und Frauenhäuser, einen Nachweis, wie sie Männer versorgen, die sich selbst als Frau bezeichnen - und das sind nicht einmal unbedingt Männer, die ihren Personenstand geändert haben. Die schottische Regierung sagt: Ihr dürft sie legal ausschließen, ihr müsst uns aber trotzdem sagen, wie ihr die Leute unterbringt, oder ihr kriegt keine Gelder. Das ist natürlich ein Problem für uns. Frauenschutz und Freiräume sind gefährdet."

Linda Gerner blickt in der taz kritisch auf die Bilanz, die Kardinal Marx zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs durch Kirchenleute im Erzbistum München gestern gezogen hat: "Sie hätten den Blick für die Betroffenen nicht wirklich gehabt, gibt Marx am Dienstag zu. 'Das war unser größtes Defizit.' Auch Christoph Klingan, Generalvikar des Erzbischofs, sagt, dass der Kontakt mit den Betroffenen zu kurz gekommen ist. Und trotzdem: Bei der Vorstellung der Aufarbeitungsbilanz kommen keine Vertreter*innen des Betroffenenbeirats des Erzbistums München und Freising zu Wort." Und: "die Täter bleiben ein Jahr später unerwähnt. Auch zu einem Verfahren vor dem Landgericht Traunstein halten sich Marx und Co bedeckt. Ein Missbrauchsopfer hatte im Juni 2022 eine Feststellungsklage gegen den inzwischen verstorbenen Ex-Papst Benedikt XVI., gegen den ehemaligen Münchner Erzbischof Kardinal Friedrich Wetter sowie den Ex-Priester H. eingereicht. Am 28. März soll im Verfahren ein erster mündlicher Verhandlungstermin stattfinden. Weiterer Streitpunkt sind Entschädigungszahlungen an Betroffene. Bei diesem Thema will man für mehr Transparenz sorgen."

Die Schweizer sind stark mit Erben beschäftigt. Nadine A. Brügger erzählt in der NZZ die Geschichte einiger Schweizer, die nebenbei mal ein paar Millionen bekommen, für die sie nicht gearbeitet haben. "Auch in der Schweiz ist mittlerweile jeder zweite Vermögensfranken nicht selber verdient, sondern vererbt. 2020 wurden hier 90 Milliarden Franken von einer Generation an die nächste weitergegeben... Das reichste Prozent der Schweizer Bevölkerung erbt einen Fünftel der gesamten Erbmasse. So kommt es, dass die reichsten zwei Prozent der Schweizer Bevölkerung so viel Vermögen besitzen wie der gesamte Rest der Bevölkerung zusammen."

Georg Diez diagnostiziert in der taz bei einigen Altersgenossen "Grünenhass". Wer den pflegt oder wieviele erfahren wir nicht: "Ich beobachte das Phänomen vor allem bei Männern über 50, sehr oft Männer mit einem nach außen hin großen Ego. Ein paar davon sind journalistische Kollegen - bei denen ist es schade, weil der Grünenhass dazu führt, dass man mit ihnen schlecht argumentieren kann, sie werden ungenau und bequem in ihrem Denken und heizen ein eh schon überhitztes Diskursklima für billigen Applaus nur weiter an." Genauer wird es nicht, und über den in Lützerath gerade sehr konkret auftretenden Grünenhass der Jungen verliert er kein Wort.
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Medien

ZDF-Intendant Norbert Himmler fordert im Gespräch mit Claudia Tieschky von der SZ höhere Gebühren: "Die Inflation betrifft die gesamte Gesellschaft, aber auch alle Unternehmen. Wir sind als ZDF der größte Auftraggeber auf dem Fernseh- und Produktionsmarkt mit einer Größenordnung von 800 Millionen Euro im Jahr. Die Produzentinnen und Produzenten fordern zu Recht, dass die Preiserhöhungen, die in unserer Branche massiv sind, in den Verträgen nachvollzogen werden." Nach dem Preis für die Rechte an den Olympischen Spielen, die das ZDF gerade zusammen mit der ARD gekauft hat, fragt Tieschky leider nicht.
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Stichwörter: ZDF, ARD, Inflation

Geschichte

In der taz blickt Klaus Hillenbrand auf eine interessante Wende der Arolsen Archives, die etwa etwa 30 Millionen Akten über Vertreibung, Folter und Mord in Nazi-Deutschland verwalten. "Über Jahrzehnte verschlossen wie eine Auster", hat man sich jetzt geöffnet und produziert sogar kurze Videos für Tiktok und Facebook. "Dazu nutzen die Arolsen Archives den eigenen wertvollen Fundus. Da werden kleine Geschichten erzählt, die um ein Objekt kreisen, das dort archiviert ist. Das ist etwa der Ehering von Karl Bruckmann, der dort verwahrt wird. Er musste bei seiner Einlieferung ins KZ Sachsenhausen den Ring abgeben. Viermal hat Bruckmann versucht, aus der Haft auszubrechen, beim letzten Mal gelang es ihm. Doch was aus ihm geworden ist, weiß man nicht, trotz der fünf Kinder in seiner Familie. Jetzt bittet eine weibliche Stimme die Jugendlichen darum, doch dabei zu helfen, Nachkommen des Verfolgten zu finden, damit der Ring an sie gegeben werden kann. Es sind Geschichten wie diese, die eine lange zurückliegende Zeit lebendig und greifbar machen können, auch wenn das Video nur eine Minute und 25 Sekunden dauert. Das Interesse am Thema sei bei den jungen Leuten hoch, sagt Münster, man müsse es aber auf eine andere als die gewohnte Weise bedienen."

Nun also wieder eine Preußen-Debatte, weil mehr über den Namen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gestritten wird als über die dringende Strukturreform. Gustav Seibt erinnert in der SZ an die Preußen-Debatten der alten Bundesrepublik, die Protagonisten wie Sebstian Haffner, Hans-Ulrich Wehler und Joachim Fest hatten. Und er findet einen Satz von Fest, den er als Leitschnur empfiehlt: "Anders als viele meinen, besteht die Vergangenheit überwiegend nicht aus Trümmern, auf denen Botschaften an die Nachwelt verzeichnet sind; mitunter sind es einfach nur Trümmer." So empfiehlt Seibt, auch den Namen der Stiftung verwittern zu lassen: "Ist das nebenbei nicht auch eine schöne Rechtfertigung für den Namen 'Preußischer Kulturbesitz'? Hier wurde das materielle kulturelle Erbe eines untergegangenen Staates, seine Trümmer also, zusammengefasst. Der Name dafür ist ein wenig nostalgisch, aber vor allem ein Hinweis auf die Provenienz. Dass Namen historisch altern können und dabei ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren, ist kein unüblicher Prozess."

Werner J. Marti erzählt in der NZZ in einem nützlichen Hintergrundartikel die chaotische Zeitgeschichte Brasiliens, das 1964 von einem linkspopulistischen Regime in eine brutale Militärdiktatur stolperte, das zunächst aber wirtschaftliche Erfolge (wenn auch auf Kosten der Armen) hatte: "Mit der wirtschaftlichen Krise verlor das Militärregime zunehmend auch in jenen gesellschaftlichen Kreisen den Rückhalt, die es bisher noch unterstützt hatten. Das Militär versuchte, mit einer beschränkten Liberalisierung dem gesellschaftlichen Druck entgegenzuwirken. Doch es konnte die wachsende Opposition aus dem Bürgertum und der Arbeiterklasse nicht mehr aufhalten. 1978 wurden neue Parteien zugelassen - unter anderem auch die linke Arbeiterpartei von Lula da Silva, der dann 2003 das Präsidentenamt erobern sollte. Zur Absicherung erließ das Regime 1979 ein Amnestiegesetz, welches seine Exponenten vor späterer Strafverfolgung schützte." Das Militär scheint seine fatale Rolle weiter spielen zu wollen, wie jüngste Meldungen zeigen: "Lula entlässt vierzig Soldaten aus Präsidentenresidenz", meldet unter anderem Spiegel online. Die Sicherheitsleute haben beim Putschversuch vor einigen Tagen dem Mob die Türen geöffnet.

Claus-Peter Clostermeyer, langjähriger Leiter der Vertretung des Landes Baden-Württemberg in Berlin, plädiert in der NZZ dafür, den 175. Jahrestag der gescheiterten Revoilution von 1848 zum Anlass zu nehmen, dass sich Deutschland auf seine demokratischen Impulse auch vor dem Ersten Weltkrieg besinnt - etwa mit einem Feiertag am 18. März. "Bemerkenswert ist, dass das historische Ereignis bislang in erster Linie von politischen Kräften rechts außen in Anspruch genommen wird. Ein solcher Gedenktag sollte indes die ganze Gesellschaft verbinden. 1848 bedeutet mehr als den deutschen Nationalstaat, die Revolution steht zugleich für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit."
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