9punkt - Die Debattenrundschau

Ohne Illusion oder Sentimentalität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.07.2022. Maxim Biller wirft in der SZ Eva Menasse vor, nicht links und eigentlich auch nicht jüdisch zu sein. In der Welt wirft Kathleen Stock den Trans-Aktivisten vor, reaktionär und eigentlich auch kapitalistisch zu sein. In der NZZ will der ukrainische Schriftsteller Wolodimir Rafejenko die Schuld am Krieg nicht Putin allein geben: Die Russen haben ihn erschaffen. Die FAZ widerspricht vehement der Vorstellung eines gespaltenen Amerikas: Es seien die Republikaner, die an der Schwächung des Systems arbeiteten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.07.2022 finden Sie hier

Ideen

In der SZ nimmt Maxim Biller seine Schriftstellerkollegin Eva Menasse ins Visier, die im Spiegel die Documenta gegen den "diskursiven Reinigungsfuror eines publizistischen Bataillons aus Anti-Antisemiten" verteidigt hatte (unser Resümee). Biller wirft Menasse eine neurechte Verdrehung von Gut und Böse vor, und fragt, ähnlich wie bei Max Czollek (unser Resümee), wie jüdisch sie eigentlich sei oder sich fühle: "Warum redet sie über Juden und Israelis und ihre deutschen Freunde plötzlich wie jemand, dem sie selbst nie die Hand geben würde? Und warum trug sie im 'Literarischen Quartett' ihren Davidstern nicht mehr, der viele Jahre zu ihr gehörte wie zu Kardinal Woelki die rote Robe, diesen großen, schiefen Stern, auf den sie früher so stolz war, dass sie ihn einmal sogar demonstrativ in die Kamera eines Standard-Fotografen hielt? Ja, und warum war der Stern auch schon im letzten Herbst nicht mehr da, als sie auf dem 'Blauen Sofa' des ZDF saß und über ihren seltsam konstruierten Vergangenheitsbewältigungsoman 'Dunkelblum' redete? Anders gefragt: Wann genau hatte sie sich für eine Abkehr von ihrem jüdischen Weg entschieden?"

Die britische Philosophin und Feministin Kathleen Stock, die nach einer Kampagne von Trans-Aktivisten ihre Universität verlassen musste, pariert im Welt-Interview die Vorwürfe der LGBTQ-Community ebenso entschieden wie manche Fragen der Interviewer. Vor allem betont sie, dass sie im Trans-Aktivismus eine reaktionäre Tendenz sieht, wenn er aus allen Mächen mit kurzen Haaren, die gern Fußball spielen, Jungen machen möchte: "Wenn ich von Aktivismus spreche, meine ich damit nicht Trans-Menschen. Aber hier ist wieder der Kapitalismus am Werk, denn wenn es all diese Identitäten gibt, dann kann man sie auch vermarkten. Das Ganze ist nicht gerade links oder progressiv, aber es wird so präsentiert. Es ist bezeichnend, dass diese progressiven Organisationen sich sehr wohl der Grenzen bewusst sind, die das alles hat. Es ist viel einfacher, hier eine Trans-Fahne aufzuhängen, als gegen Hinrichtungen von Schwulen im Iran vorzugehen."
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Europa

In einem NZZ-Interview mit der Historikerin Marci Shore berichtet der ukrainische Schriftsteller Wolodimir Rafejenko, wie er die ersten Kriegswochen im Donbass erlebte und wie er schließlich der Soldateska entkam. Sein Blick auf die Lage ist hart: "Es tobt hier ein Krieg - ein Krieg mit dem Ziel, das ukrainische Volk auszulöschen. Die Russen wollen uns als Nation zerstören, als Volk, das sich getraut hat, seinen eigenen Weg zu gehen, welcher von den imperialen Ambitionen des Kreml abweicht und den Revanchismus des russischen Volkes nicht widerspiegelt. Die schreckliche Wahrheit ist, dass eine erdrückende Mehrheit der Russen die Vernichtung des ukrainischen Staates und der ukrainischen Kultur befürwortet. Auf dem Schlachtfeld sind die Russen erbarmungslos ... Der Westen muss begreifen, dass nicht einzig Putin der Schuldige an diesem Krieg ist. Nicht er hat die Russen erschaffen. Die Russen haben ihn erschaffen. Er ist ihr Instrument, ihr Alter Ego. Er ist das Fleisch und Blut der russischen Kultur, so wie sie ist, ohne Illusion oder Sentimentalität. Und dieser Bestie muss Einhalt geboten werden."

In der taz möchte der frühere Brigadengeneral Helmut W. Ganser einen vorsichtigen Kurs gegenüber Russland sehen und den Europäern eine "stabile Koexistenz" bewahren: "Die Nato und Russland rutschen absehbar in eine anhaltende Konfrontation, die gravierender sein wird, als dies zum Höhepunkt des Kalten Krieges war. Es ist anzunehmen, dass Moskau angesichts der erheblichen Verstärkung der Nato-Kräfte an der Ostflanke und mit Blick auf seine durch den Krieg auf Jahre geschwächte Armee künftig noch stärker auf seine zahlreichen taktischen Atomwaffen setzen wird."

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Man könnte zwar denken, dass ganz Italien durch Mario Draghis erzwungenen Rücktritt verlieren werde, aber nein, seufzt Oliver Meiler in der SZ, es gibt ja doch Gewinner: "Giorgia Meloni, Chefin der postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia, gilt als Nutznießerin des politischen Schmelzdramas und als Favoritin bei der Neuwahl im Herbst. Man nennt die Römerin auch 'Kaiserin der Umfragen'. Die meisten Institute sehen die Brüder Italiens bei 21 bis 24 Prozent." Zur Abschreckung empfiehlt Meiler die letzte Minute dieses Videos, in dem Meloni bei einer Kundgebung der spanischen Vox in Marbella ihre diabolische Demagogie unter Beweis stellt.

Im taz-Interview mit Sabine am Orde wirft der Politikwissenschaftler Fabio Wolkenstein den europäischen Christdemokraten vor, ihrem Verbündeten Viktor Orban keinen Einhalt geboten zu haben: "Ein ganzes Jahrzehnt haben führende europäische Christdemokraten zugesehen, wie Orbán den ungarischen Staat umgebaut hat, sie haben ihn als Alliierten angesehen und immer wieder in Schutz genommen. In CSU und ÖVP hieß es zum Teil ganz offen, dass man viele grundlegende Ziele Orbáns gutheißt. Es gibt einfach eine sehr konservative Achse von Bayern über Österreich bis nach Ungarn, in der es auch eine intellektuelle Übereinstimmung gibt. Kurz und Seehofer haben Orbán eingeladen. Die Europäische Volkspartei, die Organisation der christdemokratischen Mitte-rechts-Parteien im Europäischen Parlament, hat ihn bis 2018 geschützt, obwohl er den Verfassungsstaat und die Demokratie unterminiert hat."
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Politik

In der SZ gibt Christian Zasche die USA fast schon verloren: Die Gesellschaft sei unrettbar gespalten, die Demokratische Partei ein dysfunktionaler Polittrupp, und wenn Donald Trump nicht wieder kandidiert, stellen die Republikaner Ron DeSantis auf, den man sich als "Trump mit Hirn" vorstellen müsse: "Aus dem amerikanischen Traum ist für viele längst ein nicht enden wollender amerikanischer Albtraum geworden."

Nein, von einer Spaltung des Landes, an der beide Parteien ihren Anteil hätten, könne keine Rede, widerspricht Frauke Steffens in der FAZ nach der letzten Sitzung des Ausschuss zum 6. Januar 2021. Sie bezieht sich vor allem auf die Aussagen des ehemaligen Bundesrichters Michael Luttig, der eigentlich den Republikaners nahesteht, aber hinter dem Sturm auf das Kapitol ein gefährliches Spiel sieht: "Luttig wie auch andere Zeugen erklärten vor dem Ausschuss, es gebe ein strategisches Vorgehen antidemokratischer Kräfte im Land. Die von vielen Beobachtern als 'Spaltung' beschriebene Lage sei vielmehr der Versuch einer Seite, das System zu schwächen und letztlich auszuhebeln. Dabei liefe es für die Republikaner demographisch auf eine Herrschaft der Minderheit hinaus - der Anteil ihrer Wähler an der Bevölkerung nimmt ab."
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Stichwörter: Trump, Donald, Desantis, Ron