Efeu - Die Kulturrundschau

Das mit dem Truthahn

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30.06.2022. Im Spiegel wütet Eva Menasse gegen den "diskursiven Reinigungsfuror eines publizistischen Bataillons aus Anti-Antisemiten", das sich einbilde, dieses Land antisemitenfrei zu kriegen. Das Taring-Padi-Werk hätte als Denkmal für die Unzulänglichkeiten des Postkolonialismus stehen bleiben sollen, meint Deniz Yücel in der Welt. Die Filmkritiker amüsieren sich mit Jöns Jönssons Komödie "Axiom", die so schön an den Stellschrauben der Klassengesellschaft dreht. Die Zeit stimmt zum Abgesang auf die Wagner-Dynastie in Bayreuth an. In der NZZ macht der türkische Schriftsteller Ismail Güzelsoy das wahre Problem der Türkei aus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.06.2022 finden Sie hier

Kunst

Im Spiegel (hinter Paywall) schimpft Eva Menasse über den "diskursiven Reinigungsfuror eines publizistischen Bataillons aus Anti-Antisemiten, die offenbar wirklich glauben, dass sie dieses Land bald, vielleicht schon übermorgen, antisemitenfrei kriegen". Ein "Hauch von McCarthy" wehe durch das Land: "Da man nach all den Jahren im eigenen Purgatorium vollumfänglich verstanden zu haben glaubt, was Antisemitismus ist, und sich selbst frei davon wähnt, möchte man ihn bei anderen umso allumfassender geahndet sehen. Ein deutscher Drang zur Übererfüllung blitzt auf. Genau diesem entsprang vor drei Jahren die so ungeheuer schädliche Anti-BDS-Resolution des Bundestags, eine Resolution, die ursprünglich auf die AfD zurückging. Im Jahr 2019 wusste hierzulande noch kaum einer, was BDS (...) eigentlich ist: nämlich die an sich vernünftige Idee der Palästinenser, eine gewaltlose politische Alternative für die Auseinandersetzung mit Israel zu finden. Aber BDS fuhr unter anderem deswegen gegen die Wand, weil es sich nicht mit dem Boykott von Produkten der israelischen Siedler (die jeden Boykott verdienen!) zufriedengab, sondern ihn auf israelische Künstler und Wissenschaftler ausgedehnt haben wollte. Das ist, Stichwort Meinungs- und Kunstfreiheit, in demokratischen Ländern die rote Linie, das muss man gar nicht Antisemitismus nennen."

Man hätte das Bild von Taring Padi verhüllt als Denkmal stehen lassen sollen, meint Deniz Yücel in der Welt: Als Denkmal für die "Unzulänglichkeiten des Postkolonialismus, der für Linke in aller Welt Fragen nach Eigentums und Klassenverhältnissen abgelöst hat und zu dessen Leerstellen der Antisemitismus und der Holocaust gehören. Für die identitäre Romantik, die mit dem Gerede vom 'globalen Süden' einhergeht, die mit dem Reishüttenkitsch des indonesischen Kuratorenteams Ruangrupa diese Documenta prägt und die, wie alle reaktionäre Kritik an der Moderne, immer nur einen Fuß breit von einer imaginierten Volkstümlichkeit und somit vom Antisemitismus entfernt ist - wenn überhaupt. Einem Denkmal dafür, wie der Hass auf den Staat Israel nach Auschwitz den Platz der Rede vom 'Weltjudentum' eingenommen hat - und wie er eine weitere Metamorphose später nicht mehr im altbackenantiimperialistischen Gewand daherkommt, sondern postkolonial, antirassistisch, genderbewusst."

"Jetzt die gesamte Ausstellung in die Tonne zu treten, wäre auch ein Fehler", sagt Meron Mendel, der für die Documenta begutachten soll, ob dort weitere antisemitische Kunstwerke gezeigt werden und den Leitern das Erkennen "antisemitischer Codes" beibringen soll, im Zeit-Gespräch mit Tobias Timm: "Es muss aber am Ende auch eine Verantwortlichkeit geben, die hier eine bewusste und begründete Entscheidung trifft. Wenn sich für eine solche Entscheidung niemand verantwortlich fühlt, ist das eine Verwahrlosung und Verantwortungslosigkeit."

Weitere Artikel: "Selbst wenn die auf der Documenta 15 präsentierte Kunst nicht sonderlich charismatisch oder interessant sein mag - und selbst wenn es keine 'Kunst' im klassischen Sinn des Wortes ist -, sind die Fragen, die diese Ausstellung aufwirft, zweifellos essenziell wichtig ist", meint Shany Littman in einem Artikel für Haaretz. Im Tagesspiegel resümiert Birgit Rieger eine Podiumsdiskussion in Kassel zum Thema "Antisemitismus in der Kunst". Im Standard denkt Katharina Rustler über das Pro und Contra von Kollektiven nach. In der FR erinnert Arno Widmann an die erste Documenta von 1972.

Besprochen wird die Ausstellung "Balance" im Hamburger Bahnhof in Berlin (Berliner Zeitung).
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Film



Jöns Jönssons Komödie "Axiom" erzählt von Julius, einem notorischen Lügner, der immer wieder die Geschichten anderer für seine eigene ausgibt. Man erkennt es, aber begreift nicht die Absicht dahinter, schreibt ein beeindruckter Daniel Kothenschulte in der FR: "'Axiom' - so nennt man jene Offensichtlichkeit, die keines Beweises mehr bedarf. Das Spiel mit derart unumstößlichen Vorurteilen ist das Brot der Hochstapler, aber es ist auch das Fett auf den sozialen Stellschrauben der Klassengesellschaft. Carl Zuckmayers verwandelter Uniformträger, der 'Hauptmann von Köpenick', kam gar nicht in die Verlegenheit zu schwindeln, so überzeugend wirkte das Axiom, das ihn umgab. ... Jönsson hat aber nicht einfach eine moderne Köpenickiade über die immer komplexeren sozialen Codes des heutigen Klassismus geschrieben. Auch als Theaterautor tätig, verortet er mit seinen geschliffenen Dialogen ein Wertesystem, in dem sich Menschen in einer Art Dauer-Bewerbungsgespräch befinden. Die Wechselwirkungen von Selbstdarstellung und Vertrauensvorschuss liefern den idealen Nährboden für Soziopathen."

Auch Bert Rebhandl ist in der FAZ voll des Lobes: "Jönsson, gebürtiger Schwede, der nach einem Studium an der HFF Potsdam-Babelsberg im deutschen Film eine künstlerische Heimat gefunden hat, setzt nicht auf eine Dramaturgie der Eskalation, sondern lässt seinen Protagonisten und dessen Geschichten zirkulieren. Selten hat man Sozialität so bei der Arbeit sehen können wie in diesem auf allen Ebenen großartigen Film: Kamera, Musik (im Abspann gibt es eine fantastische Nummer von Yung Lean), Sound, Schauspiel, alles greift wie von selbst ineinander, nichts wirkt dabei jemals deterministisch."


Penelope Cruz, Antonio Banderas, Oscar Martínez, eine phantastische Lockenperücke - was kann das anderes sein, als "Der beste Film aller Zeiten", den Cruz als skrupellose Regisseurin mit ihren zwei Hauptdarstellern Banderas und Martinez dreht? Ein Film über das Kino also, den das argentinische Regisseurduo Gastón Duprat und Mariano Cohn hier zum besten gibt. Tagesspiegel-Kritikerin Jenni Zylka hat sich bestens unterhalten: "Die gemeinsamen Proben der drei Alphatiere in einer architektonisch kühnen Prunkvilla werden schnell zum Fegefeuer der Eitelkeiten: Lola wickelt die Schauspieler in Folie, so dass sie sich nicht mehr regen können, als sie vor ihren Augen deren Trophäen-Sammlung schreddert - als 'Übung für das Ego'. Für eine Szene mietet die Regisseurin einen Kran, an dem sie einen Felsen über den Männern baumeln lässt, um den 'Spieldruck zu erhöhen'. Es knallt ständig zwischen dem sich bescheiden gebenden Ivan mit seiner angestrengt-ausgestellten Menschlichkeit, der methodisch an seine Rollen herangeht, und der laxen Arbeitsmoral des Frauenhelden Felix, in dessen Sportwagen allmorgendlich ein anderes Starlet posiert."   

Hochamüsant, versichert im Standard auch Bert Rebhandl: "Wer mit Hirn an die Sache herangeht, wird ein bisschen mehr Freude daran haben, aber auch in diesem Fall sind die bescheuertsten Witze einfach die besten - zum Beispiel, als ein Nachbar mit Hammer für einen Moment als Avantgardemusiker missverstanden wird." "Es ist eine Freude, explizit auch eine Schadenfreude, Größenwahn auf der Leinwand beim Platzen beizuwohnen", bekennt in der taz Carolin Weidner. Und Zeit-Kritikerin Anke Leweke erkennt nach viel Gelächter: "Womöglich ist Eitelkeit auch eine existenzielle Form der Ehrlichkeit."

Besprochen werden die Doku "I Am A Cliché" über die schwarze britische Punkmusikerin Poly Styrene (taz), der Zeichentrickfilm "Minions: The Rise of Gru" (taz, SZ), Ronny Trockers "Der menschliche Faktor" (taz), Emmanuel Carrères Film "Wie im echten Leben" mit Juliette Binoche als Putzfrau undercover (taz, perlentaucher) und die Diana-Doku "The Princess" (FR).
Archiv: Film

Literatur

In der NZZ hat der türkische Schriftsteller Ismail Güzelsoy einen Traum: Die englischsprachige Welt nennt die Türkei nicht mehr Turkey, also Truthahn, sondern Türkiye und er zuckt nur die Schultern. Prompt wird er verhaftet und sitzt George Orwell gegenüber, der eine Spritze in der Hand hält. Der Verdächtige wimmert und bekennt seinen Irrtum. Doch Orwell will mehr: "Es genügt nicht, dass du dich damit abfindest. Du musst wirklich daran glauben. Solange du nicht voller Inbrunst hinausschreist, dass du kein Truthahn bist, kann dir dein Unterbewusstsein immer noch einen Streich spielen. Du denkst zwar, dass du kein Truthahn bist, aber vor deinem inneren Auge siehst du den wirtschaftlichen Niedergang, die zubetonierten Städte, die Gewalt gegen Frauen, den autokratischen Herrscher, die Rechtlosigkeit, die bis ins Lächerliche getriebene Zensur, und dabei frage ich dich: Was ist das größte Problem dieses Landes? Darauf musst du ohne den geringsten Zweifel im Herzen antworten: 'Das mit dem Truthahn.' Genau so musst du das sagen. Voller Überzeugung, ohne einen Funken von Zweifel."

In der Zeit ist Sophie Passmann nicht amüsiert von der "hysterischen Lässigkeit" der "Entscheider" des Bachmann-Preises. Die Jury spielt da auch noch voll mit: "Die Rucksäcke nehmen sie mit an den Platz, die Handtaschen werden auf den Tischen platziert, als wolle man schnell im Bordbistro des ICE 508 eine Currywurst essen, bevor man in Hannover Hbf aussteigen und weiter die eigene traurige Existenz fristen muss, als gebe es in ganz Klagenfurt nicht eine Garderobe, als sei der 'Mittelpunkt' des literarischen Jahres, wie es bei der Eröffnung des Preises hieß, halt so eine Sache, die man schnell abhakt. ... Würde der Betrieb, das System, dieser Preis sich wirklich wertschätzend mit seinen armen Talenten auseinandersetzen, die sich schweigend die süffisanten Diskussionen über ihre Texte anhören müssen, dann würde mehr genervt beim Bachmann-Preis."

"Einen neuen Spitznamen hat der Club jedenfalls schon", höhnt Roswitha Quadflieg im Tagesspiegel über den neuen PEN Berlin, "sowas geht in Berlin immer schnell: PENnY." Und auch sonst bleibt es bei Sticheleien: "Von Deniz Yücels Dauermobbing - vor allem seines Schatzmeisters -, dem die MitarbeiterInnen im Darmstädter Büro und die Verantwortliche für das Ressort 'Writers in Exile' ausgesetzt waren, war bisher in keinem der vielen Berichte die Rede. Wie merkwürdig, wo dieses Gebaren doch kein Geheimnis mehr ist". Das hätte sie in ihrem Artikel konkretisieren können. Tut sie aber nicht.

Besprochen werden eine Gesamtausgabe der Werke von Mechtilde Lichnowsky (NZZ), Gabriele Riedles "In Dschungeln" (NZZ), die Tagebücher von Ror Wolf (Tsp), Gabriele Riedles Band "In Dschungeln" (SZ), Rafael Seligmanns Roman "Rafi, Judenbub" (FAZ), Ann Petrys Roman "The Narrows" (FAZ) und Wolfgang Matz' Erinnerung an André du Bouchet, Yves Bonnefoy und Philippe Jaccottet, "Vom Glück des poetischen Lebens" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Die Zeit eröffnet ihr Feuilleton mit einem Abgesang Christine Lemke-Matweys und Florian Zinneckers auf Bayreuth. Katharina Wagners Vertrag läuft noch bis 2025, soll er verlängert werden? Dafür sprechen die Autoren mit Wagner, aber auch mit vielen Experten, die nicht namentlich genannt werden wollen und umso lauter schimpfen - über den "berserkinnenhaften Führungsstil" etwa. Dem Haus laufen die Angestellten davon, die Sanierungskosten belaufen sich derzeit auf 180 Millionen Euro - finanziert vom Bund und vom Freistaat Bayern - aber dafür wollen der Bund und die Bayern das Festspielhaus. Kaufen können sie es nicht, da steht Siegfried Wagners Testament vor, aber für 99 Jahre ein Erbbaurecht erwerben, das ihnen eigentümerähnliche Rechte sichern würde: "Der Bund und die Bayern wären also die neuen Besitzer und würden als solche - Achtung, noch ein Gremium - die Richard-Wagner-Stiftung ablösen. Das wiederum käme einer Entmachtung der Familie gleich, die in der Stiftung den Ton angibt, und würde auch deren Mitbestimmungsrecht in Sachen Festspielleitung aushebeln." Und das wäre dann das "Ende der Dynastie".

Die Met und indirekt auch die USA sind im Krieg mit Russland, sagt Peter Gelb, Intendant der New Yorker Metropolitan Opera, im großen VAN-Interview, in dem er auch erklärt, wann die "rote Linie" für die Zusammenarbeit mit Anna Netrebko überschritten war: "Was Putin vorhat, ist meines Wissens nach mit nichts zu vergleichen, was jemals zuvor geschehen ist. Ich hatte den Eindruck, dass es keine Möglichkeit gibt, weiter mit Russland und in diesem Fall mit dem Bolschoi-Theater zusammenzuarbeiten, obwohl ich den Leiter des Bolschoi, Wladimir Urin, schätze. Aber weil es sich um eine staatlich geförderte Organisation handelt und Netrebko eine enge persönliche Verbündete Putins ist, sowohl was ihre Handlungen als auch ihr Mindset angeht - und das weiß ich aus persönlicher Erfahrung, weil ich mit ihr gesprochen habe und sie seit vielen vielen Jahren kenne -, ist das, was ich lange toleriert habe, jetzt nicht mehr hinnehmbar."

Weiteres: Im Standard zieht Margarete Affenzeller eine Zwischenbilanz der ersten drei Jahre von Martin Kusej als Burgtheaterdirektor: "Insgesamt ist das Burgtheater heute verwechselbarer geworden als noch 2019/20." Besprochen werden Simon Stones Inszenierung von Krzysztof Pendereckis "Der Teufel von London" bei den Münchner Opernfestspielen (Welt)
Archiv: Bühne

Musik

In der Welt vermisst Gabriel Fischbacher jede Originalität in der Popmusik: jetzt wird nicht mal mehr gesampelt, sondern oft nur noch interpoliert, also Lieder wiederverwendet, bei denen man nur den Klang neu aufmotzt. Dirk Peitz unterhält sich für die Zeit mit Jochen Distelmeyer über Blues und Country, Punk und den deutschen Schlager, in dem sich für Distelmeyer vor allem die Angst vor Emotionen ausdrückt. Sänger R. Kelly ist wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger, Kidnapping und Bestechung zu 30 Jahren Haft verurteilt worden, meldet der Tagesspiegel. In der FAZ gratuliert Jan Brachmann dem polnischen Pianisten Adam Harasiewicz zum Neunzigsten und würdigt ihn als großen Chopin-Interpreten.

Besprochen werden ein Konzert der Staatskapelle Berlin unter Christian Thielemann (Tsp), ein Konzert von Rufus Wainwright in Wien (Standard), ein Konzert von Pearl Jam in Frankfurt (FR) und ein Konzert des Austropop-Künstler Voodoo Jürgens in der Kantine am Berghain (taz).
Archiv: Musik

Architektur

Der Belgier Bas Smets hat mit einem Team aus Urbanisten, Denkmalschützern und Ingenieuren den Landschaftsarchitekturwettbewerb gewonnen, der zur Neugestaltung des Areals rund um Notre Dame ausgeschrieben worden war. Grüner und offener soll es werden. In der Welt ist Martina Meister von dem Entwurf ganz hingerissen: "Wer vom Seineufer kommend durch das Untergeschoss die Treppe zum Vorplatz der Kathedrale hochsteigt, muss sich auf einen ästhetischen Schock oder ein religiöses Erweckungserlebnis gefasst machen. 'NotreDame wird sich majestätisch vor einem erheben, was eine Perspektive sein wird, wie man sie nur im Mittelalter hatte, als die Kathedrale ringsherum zugebaut war', erklärt eine Mitarbeiterin Smets. Die Grünfläche um Notre Dame wird um ein gutes Drittel auf viereinhalb Hektar anwachsen. 131 Bäumen sollen zusätzlich zum vorhandenen Bestand gepflanzt werden. Den Vorplatz der Kathedrale sieht Smets als eine Art 'Lichtung'. Im Osten wird die zerstückelte Stadtlandschaft in einen weiträumigen Park verwandelt sein, wo man von großen Rasenflächen aus die Rückseite Notre Dames mit den Seitenbögen und Rosetten wird bewundern können."

Außerdem: In der FAZ begutachtet Matthias Alexander den neuen Hauptsitz des Deutschen Fußball-Bundes in Frankfurt.
Archiv: Architektur