9punkt - Die Debattenrundschau

Zorn der Ahnen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2022. In der Welt prangert Navid Kermani das "dramatische Versagen" nicht nur von SPD und Merkel, sondern aller Parteien an. Den Russen steht nicht nur Putin im Weg, sondern ihre eigene Geschichte, schreibt Artur Becker in der FR. In Frankreich stehen Parlamentswahlen an. Mit der neuen Linkspartei unter Jean-Luc Mélenchon hat der Putinismus gute Chancen, analysiert Le Monde. Im Guardian beschreibt Joan Nyanyuki vom "African Child Policy Forum" Gewalt gegen Kinder in Afrika.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.06.2022 finden Sie hier

Europa

Wie konnten Größen wie Alexander Kluge oder Gerhard Polt diesen arroganten, "niveaulosen" Emma-Brief (Unsere Resümees) unterschreiben, fragt Navid Kermani im Welt-Gespräch mit Martin Scholz. Ebenso fassungslos ist er über das "dramatische Versagen" nicht nur von SPD und Merkel, sondern aller Parteien: "Wir waren schon einmal weiter mit der Erkenntnis, dass wir unseren Frieden, unseren Wohlstand, unsere Sicherheit nur bewahren können, indem wir sie im Zusammenhang mit der Welt sehen. Insofern ist der Krieg in der Ukraine auch die Konsequenz eines Wahrnehmungsverlustes, einer kollektiven Ignoranz. Vor etwas mehr als einem halben Jahr hatten wir schon einmal so ein Wachauf-Erlebnis, als uns die Bilder vom Flughafen Kabul aufschreckten. Und was ist passiert? Wir sind schon längst wieder eingeschlafen. Dass Afghaninnen unter die Burka gezwungen und Mädchen aus den Schulen ausgeschlossen werden, dass sich Hunger, Gewalt und Verzweiflung ausbreiten - wen im Westen interessiert das noch?"

"Der Mord an der ukrainischen Bevölkerung hat natürlich klare Anzeichen eines 'Genozids', schreibt der polnische Schriftsteller Artur Becker in einem zweiseitigen Essay in der FR, in dem er auch das russische imperiale Denken - eine Mischung aus "Selbstverliebtheit, gepaart mit fehlender Selbstkritik und Distanz zur eigenen Geschichte" zu ergründen versucht: "Die nationale Megalomanie ist eine Krankheit, die viele osteuropäische Länder terrorisiert - das Gefühl, das ewige Opfer der Geschichte und ewiger Feinde zu sein, ist in Russland schon eine Tradition, während Polen sich im Zuge der Säkularisierung nach 1989 aus diesem Teufelskreis mühselig befreit hat und schon einiges an Erfolgen verbuchen konnte. Wenn auch nur bedingt, da nationalkonservative Kräfte den Prozess bremsten. Ich weiß auch, worum es bei dieser Emanzipation und Megalomanie geht: Man will sich in Osteuropa von der eigenen Geschichte befreien und fällt dabei stets in die alten Verhaltensmuster - darin sind die Russen Weltmeister, oder anders ausgedrückt, kostet es sie große Kraft, sich selbst zu überwinden und neue Entwicklungen zu akzeptieren. Es ist also nicht nur Putin, der ihnen im Wege steht, sondern auch die eigene Geschichte, gepaart mit der Unfähigkeit, sich mit ihr kritisch auseinanderzusetzen."

Tatjana Milimko berichtet für die taz über die Blockade des Hafens von Odessa, die Zerstörung des zweitgrößten Getreidespeichers des Landes durch die Russen und die Befürchtung, dass befreite Seewege von den Russen zur Landung benutzt werden. "Und noch ein Problem ist aufgetaucht: die neue Ernte. Denn trotz der Kriegshandlungen haben ukrainische Landwirte Getreide angebaut, und wollen das natürlich auch ernten. Wenn aber die Getreidevorräte nicht verschifft werden, kann man die neue Ernte nirgendwo einlagern. Ukrainische Experten meinen, dass es nur einen Ausweg aus dieser Situation gibt: Es ist absolut notwendig, die Infrastruktur dahingehend auszubauen, dass man zusätzliche Getreidesilos baut und Transportmöglichkeiten auf dem Landweg einrichtet."

"Frisst dieser Mann Kinder?" Auch Libération bekennt sich heute zu Jean-Luc Mélenchon. 
Dass Marine Le Pen eine Magd Putins ist, weiß jede, aber auch Jean-Luc Mélenchon ist sein Knecht - und Mélenchon hat in Frankreich nach der Präsidentschaftswahl die Trümmer der verbliebenen Linken eingesammelt und hofft als Chef der "Nouvelle alliance populaire écologique et sociale (Nupes)" unter Emmanuel Macron Premierminister zu werden - ohne sich überhaupt nur bei den anstehenden Parlamentswahlen in die Nationalversammlung wählen zu lassen. Jean Birnbaum lässt in Le Monde nur einige seiner putinistischen Äußerungen Revue passieren: "Im selben Jahr als Präsident François Hollande auf die Lieferung von Mistral-Kriegsschiffen an Russland verzichtete, prangerte der ehemalige Senator des Departements Essonne 'einen unerträglichen Verrat' an. Als 2015 der russische Oppositionspolitiker Boris Nemzow in Moskau ermordet wurde, beklagte er, dass Wladimir Putin 'das erste Opfer dieses Mordes' sei. 2016 erklärte er, der sich gegen jede französische Intervention in Syrien ausgesprochen hatte, dass der russische Präsident mit seinen Bombern 'das Problem lösen' werde. Zwei Jahre später erklärte er bei einem Besuch in Moskau, er befinde sich 'auf einem Feldzug gegen die Dämonisierung Putins' und traf sich mit Propagandisten, die sich an der Seite der pro-russischen Separatisten in der Ukraine engagierten." Weitere putinistische Äußerungen des Linkspopulisten finden sich hier, bei France Inter und hier bei Desk Russie.

In der FAZ beschreibt Jürg Altwegg die politische Landschaft in Frankreich so: "Die Linke schluckt die SPD, und die CDU geht in der AfD auf: Dieser Vergleich kann einen Eindruck vom Umbruch in der französischen Politik vermitteln."

Heute endet in Paris der monumentale Prozess zu den Bataclan-Attentaten von November 2015. La Règle du Jeu druckt das Plädoyer Patrick Klugmans nach, der im Prozess die Stadt Paris vertrat: "Paris ist eine Caféterrasse, auf der gelacht wird; Paris ist ein überfüllter Konzertsaal. Der 13. November ist kein Anschlag in Paris. Es ist ein Anschlag auf Paris. Diese Stadt wurde im Herzen, in ihren Eingeweiden getroffen... Sie schossen und sprengten sich in die Luft, ohne genau zu wissen, wen sie töten würden, aber sie wussten sehr wohl, was sie ermorden wollten. Das Ziel wurde in der Erklärung zu den Anschlägen genannt: Paris, Hauptstadt der Abscheulichkeiten und der Perversion. In einem kurz darauf verbreiteten Videoclip wurde das militärische Ziel dieses Terrorunternehmens festgelegt: Target Paris. Meine Damen und Herren des Gerichts, ich plädiere für Paris." In der FAZ berichtet Michaela Wiegel über den Prozess.

In der SZ skizziert der ungarische Historiker Krisztián Ungváry das ganze Ausmaß prorussischer und westeuropafeindlicher Propaganda in Ungarn. Auf internationaler Bühne werde die russische Aggression zwar verurteilt, jüngst wurde gar ein Hilfspaket mit 500 Litern Messwein (!) in die Ukraine geschickt. Aber neben einer "Uns-darf-es-nichts-kosten"-Politik und Hetze gegen Brüssel werden Fake News durch die staatlichen Medien verbreitet. Und es fruchtet: "Wenn es um das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine geht, zeigen ungarische Umfragen eine erschreckende Ukrainefeindlichkeit und ein unkritisches Russlandbild. Kombiniert mit der Tatsache, dass die EU seit mehr als zwölf Jahren als Bösewicht dargestellt wird, ist zu erwarten, dass diese Politik Früchte tragen wird. Vor einigen Tagen wurde in Ungarn ein Sonderpreis für Treibstoff für nicht-ungarische Staatsbürger eingeführt: Sie zahlen doppelt so viel wie die mit einem ungarischen Nummernschild. Der Verstoß gegen EU-Regeln ist offenkundig, Reaktionen aus Brüssel sind prognostizierbar. Bald wird 'Brüssel' erneut verdammt werden können; Forderungen nach einem möglichen Huxit sind bereits jetzt nicht zu überhören.

Ist es "klug, die Staaten des Westbalkans dauerhaft in der Warteschleife zu halten?", fragt Karl-Markus Gauß ebenfalls in der SZ mit Blick auf einen möglichen EU-Beitritt Albaniens. Angesichts des Werbens von Russland, China, und auch der Türkei um jene Staaten sicher nicht, meint er. Aber: "Auf der anderen Seite kann die Union nicht ignorieren, dass sie bereits Mitglieder hat, die sich um geltendes Recht nicht scheren - von der trotzigen Missachtung der 'europäischen Werte' gar nicht zu reden. Nach 18-jähriger Zugehörigkeit zur EU ist aus Ungarn ein rundum korrupter Staat geworden, wie er heute nie und nimmer würde aufgenommen werden können. In Polen wiederum ist die Unabhängigkeit der Justiz, auf die man die Beitrittswilligen zu Recht verpflichtet, methodisch abgeschafft worden. Kann eine Union, der es so schwer fällt, den inneren Zusammenhalt zu sichern, neue Erweiterungen überhaupt verkraften? Wird womöglich gar die in ihrer Existenz bedrohte Ukraine an den Kandidaten vom Westbalkan vorbei in die Union geführt werden?"

Ganz pazifistisch waren die Grünen nie, und nicht selten irrten sie, schreibt Hubert Kleinert, Mitbegründer der Grünen im Aufmacher des SZ-Feuilletons. "Natürlich haben viele Tausende die pazifistische Losung vom 'Frieden schaffen ohne Waffen' wörtlich genommen. Aber schon die Gründerzeit war auch von einem selektiven Blick auf die Gewalt mitgeprägt. Gewalt war eben doch zu rechtfertigen, wenn sie als antikoloniale und antiimperialistische Gewalt auftrat. Es war die Welt des Antikapitalismus und des Antiamerikanismus, dem diese Vorstellungen entsprangen. Im Antiamerikanismus verbanden sich ökosozialistische und nationalneutralistische Traditionen älteren Ursprungs. Deshalb hatten die Realos der 80er-Jahre auf keinem Gebiet so wenig Mehrheitschancen wie in der Außen- und Sicherheitspolitik."
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Politik

Im amerikanischen Kongress fand ein großes Hearing zum Putschversuch vom 6. Januar 2021 statt. Twitter ist auch ein Medium, um historische Sätze festzuhalten, etwa von der republikanischen Dissidentin Liz Cheney:
Im SZ-Gespräch mit Nicolas Freund zerlegt die amerikanische Juristin Carol Sanger - letztes Buch "About Abortion: Terminating Pregnancy in the 21st Century" - die Argumente amerikanischer Konservativer für das Kippen von Roe gegen Wade. Und sie erklärt, weshalb das Thema gerade jetzt wieder verhandelt wird: "Die Rechten haben sich jahrelang sehr angestrengt, dass Roe gegen Wade gekippt werden kann. Sie haben seit 1992 daran gearbeitet, aber die Politik dahinter hat sich inzwischen geändert. Es geht jetzt weniger um eine moralische, als um eine politische Frage und das liegt an der Zusammenführung katholischer Abtreibungsgegner mit evangelikalen Gruppen. Die Bewegung ist stärker geworden, sie ist angeschwollen, wie eine Welle. Dann kam noch Trump dazu, und was das Thema auch angefeuert hat, war die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, denn das ist eines der Dinge, die man wirklich hassen kann, wenn man konservativ ist. Jetzt bleibt nur noch die Abtreibung übrig und sie wurde immer wichtiger für die Politik, um die konservativen Kernwähler zu befrieden."

Joan Nyanyuki leitet das "African Child Policy Forum", das Gewalt gegen Kinder in vielen afrikanischen Ländern untersucht und Regierungen überzeugt, dagegen vorzugehen. Im Guardian resümiert sie den jüngsten Bericht der Organisation und beeilt sich zunächst zu versichern: "Es liegt mir fern, die Überzeugungen zu kritisieren, die den traditionellen afrikanischen Heil- oder Religionspraktiken zugrunde liegen. Hexerische Heilkunst ist in vielen Kulturen und Gemeinschaften in Afrika südlich der Sahara tief verwurzelt und übt einen starken Einfluss auf das Leben von Millionen von Menschen aus." Aber im Namen dieser Kultur werden zahllose Verbrechen begangen. Neben der Verfolgung von Frauen als bösen Hexen gebe es auch rituelle Attacken gegen Kinder, besonders bei Albinos. Sie seien oft "durch Habgier, Machtstreben oder den Glauben motiviert, dass ihre Körperteile den Zorn der Ahnen abwehren und alles von männlicher Impotenz bis hin zu Armut heilen können. Mädchen mit Albinismus und Mütter von Kindern mit Albinismus sind extremer Gewalt ausgesetzt, zuweilen werden ihnen Arme und Beine bei lebendigem Leib abgehackt."

In Afrika herrscht weithin Sympathie für Putin, besonders natürlich in autokratischen oder korrupten Regimes, schreibt Pjotr Sauer im Guardian: "Obwohl afrikanische Länder wegen ihrer starken Abhängigkeit von russischem und ukrainischem Weizen wohl unverhältnismäßig stark von der drohenden Nahrungsmittelkrise betroffen sein werden, geben einige afrikanische Staats- und Regierungschefs dem Westen die Schuld für die Knappheit und den Preisanstieg und folgen damit Russlands Narrativen. Am Freitag machte Senegals Präsident Macky Sall, der derzeitige Vorsitzende der Afrikanischen Union, bei einem Treffen mit Putin in Sotschi die EU-Sanktionen gegen russische Banken und Produkte für die Verschärfung des Problems verantwortlich und wich einer Kritik an Russlands Maßnahmen, einschließlich der Blockade ukrainischer Häfen, aus."
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Gesellschaft

Bereits als zweitgrößte Bedrohung für amerikanische Frauenrechte - nach häuslicher Gewalt und Vergewaltigung - sieht Ayaan Hirsi Ali im NZZ-Gespräch mit Claudia Mäder den Transgender-Aktivismus. Beängstigend findet sie vor allem, dass biologische Männer, die glauben, eine weibliche Geschlechtsidentität zu haben, in Frauenhäuser und Frauengefängnisse vordringen. Das Problem seien allerdings nicht die Transgender-Personen, sondern die Aktivisten, die in deren Namen sprechen und canceln. Dem Feminismus wirft sie fehlende Positionierung hinsichtlich der Frauenunterdrückung in anderen Kulturen, vor allem in der muslimischen Welt vor: "Es gibt Feministinnen, die sich nicht gegen das Kopftuch oder die Burka stellen, weil sie meinen, dass jede Kultur ihre eigenen Werte habe und man den westlichen Feminismus nicht überallhin exportieren solle. Mit dieser Haltung habe ich ein Problem: Man nennt sich dann zwar Feministin, ist aber nicht bereit, sich für Frauen einzusetzen, die anderswo unter schwierigsten Bedingungen leben."
Archiv: Gesellschaft