9punkt - Die Debattenrundschau

Wahrscheinlich zur Bewährung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2021. In der FAZ erzählt der chinesische Künstler Badiucao, wie ihn die chinesische Regierung bis hin nach Italien, wo er heute lebt, verfolgt. Hubertus Knabe bespricht in seinem Blog Freya Kliers Buch über Stasi-Morde. In der SZ zieht Ronen Steinke eine bittere Bilanz der deutschen Rechtsprechung zum Holocaust. Im Interview mit der FR wird der Soziologe Heinz Bude kategorisch bei Impfverweigerern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.11.2021 finden Sie hier

Politik

Immer wieder versucht die chinesische Regierung, die Arbeit von Kritikern oder Dissidenten in Europa zu torpedieren. Im FAZ-Interview mit Karen Krüger berichtet der in Italien lebende Künstler Badiucao, mit welch fiesen Methoden Peking gegen ihn und seine aktuelle Ausstellung vorgeht: "In Brescia erzählte mir ein Chinese, die Führungspersönlichkeiten der dortigen Community fühlten sich verpflichtet, die Schau zu stoppen. Er selbst habe eine Spende geleistet, mit der ein Zwischenfall organisiert werden solle. Und als ich am Sonntag in der Schau war, trat ein älterer Chinese auf mich zu. Er war sehr bewegt und hatte Tränen in den Augen. Er sagte, er sei während des Tiananmen-Massakers 1989 in Peking gewesen. Er meinte, ich sei nicht sicher. Das Museum hätte keine Sicherheitskontrollen, und es käme vor, dass in Italien Menschen erschossen werden. Ich solle das Land schnellstmöglich verlassen. Mich hat das sehr verstört. Entweder er wusste tatsächlich etwas, oder es war eine versteckte Drohung."
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Europa

An der ukrainischen Grenze konzentriert Russland von Neuem massive Truppen, berichtet unter anderem Friedrich Schmidt in der FAZ: "Über den Invasionssorgen gerät aber aus dem Blick, wie Moskau zugleich vorantreibt, was als 'schleichende Annexion' der 'Volksrepubliken' beschrieben wird. Schon sind Hunderttausende Ukrainer, die in den ostukrainischen Gebieten leben, von Russland eingebürgert worden. Viele dieser 'neuen Russen' haben im vergangenen September in den Wahlen zur Duma, dem russischen Unterhaus, ihre Stimme abgegeben, online und in organisierten Reisen ins benachbarte südwestrussische Rostower Gebiet."

Hubertus Knabe bespricht in seinem Blog das Buch "Unter mysteriösen Umständen - Die politischen Morde der Staatssicherheit" der ehemaligen Bürgerrechtlerin Freya Klier, die sich auf die Spur von Stasi-Morden begeben hat. Auslöser waren für sie die vielen frühen und rätselhaften Tode vieler Dissidenten. "Selbst nach der Wiedervereinigung wurden noch bei mehreren Stasi-Aufklärern - zum Beispiel bei Jürgen Fuchs und dem Autor dieser Zeilen - am Auto Radmuttern gelockert oder Bremsschläuche zerschnitten. Beklemmend liest sich jedoch vor allem die lange Liste von Bürgerrechtlern, die ungewöhnlich früh an Krebs starben. Klier vermutet, ihr Tod könnte eine Folge radioaktiver Vergiftungen sein, deren Wirkung in einer von der Stasi in Auftrag gegebenen 'TOXDAT-Studie' detailliert beschrieben worden war."

Unbekannt haben am Wochenende an der Gethsemane-Kirche in Berlin Prenzlauer Berg Gedenktafeln für Holocaustopfer zerstört, meldet die Jüdische Allgemeine: "Die zwanzig Schilder waren anlässlich des Pogromgedenkens am 9. November am Grundstückszaun befestigt worden, wie die Evangelische Kirchengemeinde Prenzlauer Berg Nord heute mitteilte. Auf den ein Meter breiten Schildern stehen die Namen von Juden aus der Nachbarschaft. Sie alle lebten bis zu ihrer Vertreibung oder Deportation durch das NS-Regime in dem Viertel." Ebenfalls in der Jüdischen Allgemeinen die Meldung, dass "AfD-Anhänger antisemitischen Aussagen besonders oft zustimmen".
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Gesellschaft

In der SZ haben Nele Pollatschek und Laura Hertreiter nur begrenzt Sympathie für die Philosophin Svenja Flaßpöhler, aber den Umgang mit ihr während und nach ihrem Auftritt bei "Hart aber Fair" lässt sie nachdenklich werden. Flaßpöhler, die selbst zwei mal geimpft ist, als Impfgegnerin zu bezeichnen, wie es der Tagesspiegel getan hat, ist einfach falsch, finden die zwei. Und eine Querdenkerin sei sie auch nicht: "Vielleicht ist es tatsächlich so, dass sie sich in Talkshows zu Themen setzt, in denen sie kein Experte ist, weil sie es für wichtig hält, dass jemand eine Gegenposition vertritt. Weil das ihrem Demokratieverständnis entspricht. Weil es zurzeit, ganz konkret, schwer ist, jemanden zu finden, der kein Querdenker ist, der geimpft ist, und dennoch bestimmten Maßnahmen gegenüber öffentlich eine kritische Haltung zu vertreten bereit ist - weil die Gefahr lauert, dass auch ein Doppeltgeimpfter als Impfverweigerer bezeichnet wird und Dinge unterstellt bekommt, von denen dann behauptet wird, sie wären nie unterstellt worden."

Im Interview mit der FR wird der Soziologe Heinz Bude kategorisch bei Impfverweigerern: "Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft ist nicht mehr von der Hand zu weisen. Mario Draghi hat als italienischer Ministerpräsident daraus die Konsequenz einer strengen Verhaltensregulierung zum Nachteil der Ungeimpften gezogen, was offenbar, wenn man auf die Inzidenzen in Italien schaut, zum Wohl der Leute ist."
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Geschichte

In der SZ kritisiert Ronen Steinke scharf den Umgang der deutschen Rechtsprechung mit dem Holocaust. Verübt wurde er nur von drei Tätern: Hitler, Himmler und Heydrich, so die Rechtssprechung bis ganz nach oben. Alle anderen waren nach Auffassung der Gerichte höchstens Helfer. "Man vergisst heute leicht, wie weit neben der Spur die deutsche Rechtsprechung zu den NS-Verbrechen jahrzehntelang gewesen ist, wenn man sich jetzt, da vereinzelt über 90-Jährige vor Gericht stehen, vor allem in kleinen Nahaufnahmen mit einzelnen, mitunter auch positiven Entwicklungen der jüngeren Rechtsprechung beschäftigt. Man übersieht auch leicht, wie weit neben der Spur sie im Großen und Ganzen bis heute ist. Auch wenn man nach Itzehoe blickt, wo eine mutmaßliche ehemalige KZ-Sekretärin angeklagt ist, Irmgard F. Die 96-Jährige muss sich vor dem Landgericht in Schleswig-Holstein verantworten. Der Vorwurf: Sie soll als Assistentin des Lagerkommandanten das Morden mitorganisiert haben." Angeklagt ist sie dennoch nur wegen Beihilfe, "zu rechnen ist mit ein, zwei Jahren Gefängnis, wahrscheinlich zur Bewährung".

Ebenfalls in der SZ erinnert Kurt Kister an die Eröffnung der überarbeiteten Wehrmachtsausstellung vor zwanzig Jahren, die einem größeren Publikum erstmals aufzeigte, dass "Verbände und Einheiten der Wehrmacht - und eben nicht nur der SS - systematisch und in großer Anzahl an der Deportation von Zwangsarbeitern, an der Ermordung von Offizieren, Kommissaren, Kriegsgefangenen, Zivilisten und Geiseln beteiligt waren - und sie unterstützten den Holocaust." Dass dies heute Konsens ist, ist nicht zuletzt den Kritikern der Ausstellung wie Peter Gauweiler zu verdanken ist, wie Kister leicht süffisant anmerkt.
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Ideen

Jule Govrin, Spezialistin für die "politische Dimension von Körpern und die Verwundbarkeit als Modus der Gleichheit",  ist bei geschichtedergegenwart.ch nicht sehr zufrieden damit, wie der Fall Kathleen Stock wahrgenommen wurde, die ihren Posten an der Uni Sussex aufgab, weil sie die Proteste der Transbewegung nicht mehr ertrug: "Ihr Fall ist aufschlussreich, weil die Rahmung des Konflikts als Frage der Meinungsfreiheit verdeckt, dass die Rhetorik des biologischen Geschlechts, wie sie Stock betreibt, einer reaktionären Schlagrichtung folgt." Die Gemengelage an der Uni Sussex sei schwer zu beurteilen: "Wenn Stock bedroht wurde, ist dies nicht hinnehmbar.  Das gilt allerdings für beide Seiten." TransMenschen seien Gewalt ausgesetzt: "Diese Gewalt wird durch transfeindliche Rhetorik verstärkt. Dazu gehört auch, dass Stock Transgeschlechtlichkeit als Fantasiegebilde verzerrt und im Schulterschluss zur LGB Alliance steht, die  Transgeschlechtlichkeit mit Pädophilie und Bestialität assoziiert. Man kann demnach von einer beidseitigen Bedrohungslage ausgehen. Die Studierenden hatten jedes Recht, gegen Stocks politische Polemik zu protestieren."
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Wissenschaft

Es gibt etwa 600 Millionen weniger Vögel in Europa als noch vor vier Jahrzehnten, berichtet Enno Schöningh unter Bezug auf verschiedene Berichte in der taz. Besonders schlimm haben die Spatzen gelitten, deren Bestand um 247 Millionen zurückgegangen sei. "Der Spatz verschwindet sogar sowohl auf dem Land als auch in der Stadt. Das Forschungsteam vermutet, dass der Rückgang des städtischen Bestands auf Nahrungsmangel, Luftverschmutzung und Krankheiten wie Vogelmalaria zurückzuführen ist. Dies sei aber noch nicht abschließend geklärt. Außerdem beschneide die 'stärkere Verbauung und Flächenversiegelung' den städtischen Lebensraum der Spatzen und verhindere Nistmöglichkeiten, sagt Magnus Wessel, Experte für Naturschutzpolitik und -koordination beim Naturschutzverband BUND. 'Es braucht mehr kleinteilige Strukturen, mehr Brachen und mehr Randstreifen, die Vögeln als Refugium dienen können.'"
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Stichwörter: Spatzen