9punkt - Die Debattenrundschau

Statt sich mit vagen Zielen zu schmücken

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2021. In der Jungle World erklärt der Ideenhistoriker Bruno Chaouat, warum es wichtig ist, eine Archäologie auch des linken Antisemitismus zu betreiben. Der Bericht des Weltklimarats muss Auswirkungen auf den Wahlkampf haben, fordert die taz. Es wird weiter über die Begriffe "Ehrenmord" und "Femizid" gestritten. In der SZ rät Lothar Müller, Impfgegner nicht durch Sanktionen erziehen zu wollen. Und die Welt konstatiert: Das Auto abschaffen zu wollen, ist nun wirklich mal ein Elitenprojekt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.08.2021 finden Sie hier

Ideen

Anna Pollmann unterhält sich in der Jungle World mit Bruno Chaouat, Professor für Französisch- und Jüdische Studien und Direktor des Center for Holocaust and Genocide Studies an der Universität von Minnesota. Chaouat befasst sich in seinen Büchern mit dem Versagen der Intellektuellen vor den Phänomenen des muslimischen und linken Antisemitismus. Den gibt es entgegen den Behauptungen von Aleida Assmann nicht nur - er hat eine lange Vorgeschichte:  "Für die revolutionäre Linke hat die Frage des Judentums historisch immer ein Problem dargestellt. Seit Proudhon und Marx' 'Zur Judenfrage' hat es zudem immer eine starke Verknüpfung von Jüdinnen und Juden mit dem Kapitalismus gegeben. Der Universalismus, der von der revolutionären Linken imaginiert und propagiert wird, ist problematisch für das Verständnis eines 'rooted universalism', wie er das Judentum kennzeichnet, aber auch die Ideale des französischen Republikanismus ausmacht. Dies bedeutet, dass das Universelle nur über eine konkrete kulturelle und historische Erfahrung erreicht werden kann."

In der NZZ hat Slavoj Zizek keine Lust irgendeine Kultur zu respektieren, weder fremde noch die eigene. Die angemessene linke Kultur heute sei nicht woke. Sie laute vielmehr: "Arbeite die versteckten Antagonismen deiner eigenen Kultur heraus, verbinde sie mit den Widersprüchen in anderen Kulturen. Trete dann in den gemeinsamen Kampf derer ein, die gegen die Unterdrückung und Knechtschaft in der eigenen Kultur vorgehen, und derer, die dasselbe in anderen Kulturen tun."

Hans Ulrich Gumbrecht denkt in der NZZ darüber nach, wie sich unser Wissen durch Suchmaschinen verändert hat: "Unter dem Impuls heutiger elektronischer Rechenkapazitäten haben sich die Gottesbegriffe als traditioneller Horizont des Unmöglichen in konkrete Möglichkeiten des Alltags verwandelt. Abgesehen von der berechtigten Frage, ob uns so eine Entwicklung eher inspiriert oder überlastet, werden in den gegenwärtigen Modalitäten globaler Kommunikation klassische Vorstellungen von göttlicher Allgegenwart und Allwissenheit wirklich. Dies eröffnet einen neuen, kontrastiven Blick auf das früher Menschen-Unmögliche. Die Allwissenheit zumal der monotheistischen Götter sollte Besitz definitiven Wissens sein und war mit der Allweisheit dessen Gebrauchs verbunden. Dagegen befindet sich die Allwissenheit des World Wide Web in beständiger Erneuerung und hat nichts mit der Frage zu tun, wie wir sie verwenden."
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Gesellschaft

In Berlin-Kreuzberg träumt die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann davon, den Autoverkehr in Berlin ganz abzuschaffen (mit wenigen Ausnahmen). Vorerst zumindest mal im Wrangelkiez. Dort sollen dann auch die Straßen zurückgebaut werden, berichtet Boris Pofalla in der Welt. Nachdem er sich die Umfragen dazu angeschaut hat, stellt er fest: Das ist wirklich mal ein Elitenprojekt. Es sind fast nur Akademiker, die dem zustimmen. Die Mehrheit, vor allem Migranten, sind strikt dagegen. Die dürfen allerdings oft nicht mitwählen, weil viele keine deutsche Staatsbürgerschaft haben und auch nicht aus einem EU-Land kommen. "Wenn nun die Mehrzahl der Migranten im Wrangelkiez am motorisierten Verkehr festhalten möchte oder muss, dann kann das Monika Herrmann und den Kreuzberger Grünen relativ egal sein. Ihre Stimmen kommen von Ärztinnen und Lehrern, die alles mit dem Rad erledigen können. Umso leichter kann man die Stadt im Sinne der eigenen Klientel umgestalten und sich zugleich erzählen, man tue es für alle. Ein Berliner Kiez ist eben vieles - in Kreuzberg ist er vor allem auch eine Herrschaftsform."

Carolina Schwarz plädiert in der taz sehr dafür den Begriff "Ehrenmord" zu meiden, der ohnehin nur die Täterperspektive übernehme, und die wenigen Ehrenmorde, die in Deutschland verübt werden, in den großen Behälter "Femizid" zu stecken, der ein vage benanntes Patriarchat anprangert. Ihre Sorge: "Wenn Morde im Namen der vermeintlichen Ehre verübt werden, folgt darauf meist eine rassistisch konnotierte Debatte. Anstatt über die nötigen Schutzmaßnahmen für Frauen, wie den Ausbau von Frauenhäusern, bessere Gewaltschutzverfahren oder die Stärkung von präventiven Maßnahmen für gewalttätige Männer zu diskutieren, dreht die Debatte sich weg von den Betroffenen hin zu Fragen von Integration und Asylrecht."

Im Tagesspiegel sieht Frank Bachner das ganz anders: "Der sogenannte Ehrenmord ist eine spezielle Form des Femizids, und man kann ihn nicht einfach unter diesem Oberbegriff verschwinden lassen", wenn man gezielt etwas dagegen tun möchte. Die Täter stammen oft aus extrem patriarchalischen Gesellschaften, in denen sie die Frauen kontrollieren. "Wenn nun Männer, die so sozialisiert wurden, diese anerzogenen Gewissheiten hierzulande ausleben, spielt die Herkunft für die Problemanalyse sehr wohl eine Rolle. Und auch dafür, wie man dagegen vorgehen will und kann. Das ist umso wichtiger, als die archaischen Wertvorstellungen auch hierzulande noch weitergegeben werden. Es gibt genügend Lehrkräfte, die auf hiesigen Schulhöfen beobachten, wie Mädchen von ihren Brüdern eingeschüchtert oder drangsaliert werden."

Impfgegner hat es gegeben, seit es Impfungen gibt. Daraus sollte man lernen, meint Lothar Müller in der SZ. "Wenn in der aktuellen Diskussion über die Regeln, denen künftig Geimpfte und Ungeimpfte unterliegen sollen, die moralisch-pädagogische Disziplinierung der Impfunwilligen in den Vordergrund gestellt wird, ist das schlechte Aufklärung. Worauf immer die Ministerpräsidentenkonferenz sich einigt, sie kann - auch als Lehre aus der Vergangenheit - etwaige Nachteile für Ungeimpfte nicht deshalb beschließen, um diese 'zur Raison zu bringen'. Sie kann vollständig Geimpften und Genesenen Rechte zubilligen, deren Beschränkung sich für diese nicht mehr dauerhaft begründen lässt. Die Einschränkung der Rechte Ungeimpfter kann sie nur im Blick auf den Status quo der Pandemie mit plausiblen Argumenten der Risikominimierung vornehmen, nicht aber als Erziehungsmaßnahme."

Aber eine staatlich verordnete Impfpflicht oder Strafmaßnahmen sind ja vielleicht auch ganz unnötig. Die Wirtschaft könnte es richten, hofft Tilman Steffen bei Zeit online: "Immer mehr Unternehmen entscheiden sich für eigene Regelungen. Der Reisekonzern Alltours machte den Anfang, der Kreuzfahrtanbieter Hapag Lloyd folgte und auch der 1. FC Köln will nur noch Geimpfte oder Genesene Fans Platz nehmen lassen. Privatrechtlich wird so möglich, was der Staat nicht verordnen kann: Die Impfung wird zur Bedingung für die Inanspruchnahme einer Dienstleistung. Womöglich steigt die Impfquote so aber trotzdem, ganz ohne ordnungspolitische Maßnahmen".
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Europa

Der Weltklimarat hat einen überaus alarmierenden Bericht vorgelegt. Er muss auch Konsequenzen für den Wahlkampf haben, fordert Susanne Schwarz in der taz: "Die nächste Regierung muss überfällige Entscheidungen treffen, statt sich mit vagen Zielen zu schmücken. Ihr Zeitplan sollte eigentlich noch strenger sein als der globale. Als reiches Industrieland hat Deutschland mehr Verantwortung für die Klimakrise als die meisten anderen Staaten und außerdem mehr finanzielle Möglichkeiten. Aber selbst die Halbierung der Emissionen in knapp zehn Jahren ist eine große Aufgabe, die ohne die nötige Vorarbeit für die übernächste Regierung unerreichbar sein wird."

Wenn Jaroslaw Kaczynski behauptet, er wolle im Streit mit der EU über die nicht mehr gewährleistete Unabhängigkeit der Justiz in Polen nachgeben, ist das reine Augenwischerei, meint Florian Hassel in der SZ. "Viel zu lange hat die EU-Kommission, haben Berlin und Paris gewartet, bis sie gegen die Regierungen in Polen und Ungarn vorgegangen sind. Ob nun endlich Greifbares passiert, muss sich erst herausstellen. Das effektivste Mittel wären nicht nur hohe tägliche Strafzahlungen gegen Polen, sondern ein generelles Einfrieren Dutzender Milliarden der EU: so lange, bis Kaczyński und seine Mitstreiter nicht nur die Disziplinarkammer, sondern ihr gesamtes Auswahl- und Disziplinarregime für Richter und Staatsanwälte abgeschafft haben. Dass Brüssel, Berlin und Paris dazu bereit sind, ist unwahrscheinlich - bisher sind die Institutionen dort sämtlich nicht als konsequente Verteidiger rechtsstaatlicher EU-Prinzipien aufgefallen."

CDU/CSU und SPD haben die Wahlgesetze nur halbherzig reformiert. Nun könnte in bestimmten Konstellationen bei den Wahlen 2021 ein noch viel größerer Bundestag zustandekommen. Entscheidend für solche Ausgänge sind nicht nur die Zweitstimmen, sondern vor allem gesplittete Stimmen, berichtet dpa (hier in der taz) unter Bezug auf eine Studie des Wahlrechtsexperten Robert Vehrkamp für die Bertelsmannstiftung: "So könnten beispielsweise die Grünen etwa doppelt so viele Zweitstimmen bekommen wie bei der Wahl 2017. 'Wir wissen aber nicht, wie dann das Splittingverhalten der Grünen-Wähler aussieht.' Würden etwa 20 Prozent von ihnen - etwa aus alter Verbundenheit - ihre Erststimme der Union geben, habe das 'einen enormen Hebeleffekt', sagte Vehrkamp. 'Dann ist man je nach Szenario schnell bei 880, 950 oder im Extremfall sogar bei über 1.000 Mandaten. Das muss nicht so kommen, ist aber möglich.'"

Der Menschenrechtler Sergei Kowaljow ist im Alter von 93 Jahren gestorben. Barbara Oertel schreibt einen Nachruf in der taz: "1993 ernannte ihn der damalige Präsident Boris Jelzin zum ersten Ombudsmann für Menschenrechte in der russischen Föderation. 1996 war dieses Intermezzo beendet - Kowaljow trat aus Protest gegen die Politik in der Nordkaukasusrepublik Tschetschenien zurück. Für die Eskalation des kriegerischen Konflikts machte er die russische Regierung verantwortlich. Im März 2020 veröffentlichte der Moskauer Kommersant ein langes Interview mit Kowaljow. Sein Fazit fiel pessimistisch aus. Seine Vorhersagen seien traurig, die Welt sei ins Schwanken geraten."
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Überwachung

Apple will mit Eingriffen in private Daten Kinderpornografie bekämpfen. "Nun ist der Kampf gegen die Verbreitung von Missbrauchsbildern ein ehrenwerter und wichtiger", kommentiert Markus Reuter bei Netzpolitik, "doch Apple schafft mit dem System eine weltweite Infrastruktur für Überwachung und Zensur. Direkt auf den Smartphones und Rechnern seiner Kund:innen. Denn dort will der Konzern auf den digitalen Speichern nach Bildern suchen und diese mit einer Datenbank abgleichen. Schlägt das System bei mehreren Bildern an, sendet es die inkriminierten Inhalte an Apple, dort schaut ein Mensch über die Ergebnisse und meldet den Fall gegebenenfalls an eine zuständige Stelle, welche dann die Polizei einschaltet."
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