9punkt - Die Debattenrundschau

Grundrechte, die alle besitzen sollten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.07.2021. Die Grünen möchten das Transsexuellengesetz ändern. Susan Vahabzadeh fürchtet in der SZ, dass die Kategorie Frau aus der Statistik verschwindet. In seinem Blog erklärt Kenan Malik, warum der Begriff "White Privilege" keinen Sinn ergibt.  Der österreichische Bundespräsident hat seinem iranischen Kollegen Ebrahim Raisi zur Wahl gratuliert - Mina Ahadi und Nasrin Amirseghi protestieren in einem offenen Brief. Noch ist Polen nicht verloren, jedenfalls nicht ganz, notiert die NZZ mit Blick auf die Pressefreiheit im Land.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.07.2021 finden Sie hier

Politik

Die Bundeswehr zieht aus Afghanistan ab, viele Ortskräfte, die die Rache der Taliban zu fürchten haben, bleiben zurück. "Das Phlegma in Sachen zügiger Hilfe hat indes nicht die Bundeswehr zu verantworten", schreibt Bernd Mesovic von Pro Asyl in der taz: "Die Parlamentsarmee ist angewiesen auf Beschlüsse von Regierung und Parlament. Doch weder die Parlamentsmehrheit noch die zuständigen Ministerien trugen dem Ernst der Lage Rechnung. Stattdessen dröselten die Parlamentarier*innen in den letzten Tagen vor der Sommerpause an Interpretationen des Aufnahmeprogramms herum, und von der SPD kam die Forderung an den Bund, die Kosten für die Flugtickets zu übernehmen, als sei das in der zugespitzten Lage die entscheidende Frage. Und ja: Es muss über den Afghanistaneinsatz und seine Folgen diskutiert werden. Jetzt aber gilt es, zuallererst die zu retten, die mit dem Schlimmsten zu rechnen haben."

Wie gering der Einsatz der Bundesregierung für die Helfer in Afghanistan ist, beschreiben Daniel Brössler und Tobias Matern in einer Reportage für die SZ: "Dazu passt, dass die Bundesregierung zwar eine Verantwortung und 'Fürsorgepflicht' gegenüber den Ortskräften nicht bestreitet, sich ihnen gegenüber aber nicht juristisch in der Pflicht sieht. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des FDP-Bundestagsabgeordneten Wieland Schinnenburg hervor. 'Eine Nachsorgepflicht gegenüber Ortskräften gibt es weder im Arbeits-, noch im Aufenthalts- noch im Völkerrecht', heißt es dort. Schinnenburg sagt, es sei 'beschämend, wie Deutschland seine Verantwortung gegenüber seinen ehemaligen Mitarbeitern in Afghanistan kleinredet'."

Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat seinem iranischen Kollegen Ebrahim Raisi tatsächlich zu seine Wahl gratuliert - Raisi ist ein Hardliner des Systems, der persönlich für Hinrichtungen verantwortlich ist und sich darüber bis heute voller Stolz äußert. Die beiden Exil-Iranerinnen Mina Ahadi und Nasrin Amirsedghi richten einen empörten Offenen Brief an Van der Bellen, der bei mena-watch.com veröffentlicht ist: "Er massakrierte Tausende, die danach in Massengräbern begraben wurden. Sehr geehrter Herr Van der Bellen, haben Sie schon einmal von 'Khavaran' gehört? Das ist jener Ort, wo die Massengräber dieser jungen Menschen sich befinden. Hier graben die Familien der Ermordeten mit bloßen Händen nachts den Boden um, um ihre Lieben zu identifizieren, unter den Drohungen des Regimes und im Widerstand gegen das Regime. Bis heute dürfen sie wegen der Repression des Regimes nicht einmal um ihre Angehörigen trauern oder Blumen auf die Massengräber in Khavaran niederlegen."
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Ideen

Der Begriff "White Privilege" gibt keinen Sinn, findet Kenan Malik in seinem Blog. Rassismus sei der bei weitem treffendere Begriff: "Im Kampf für Gleichheit ist ein 'Privileg' etwas, das man beseitigen oder reduzieren möchte. Die Frage ist also: Worin besteht das zu beseitigende Privileg von jemand, der arm und weiß ist? In nichts. Was man eigentlich will, ist doch die Beseitigung von Diskriminierung, der viele Minderheitengruppen ausgesetzt sind, nicht die Reduzierung des Privilegs von jemandem, der keins besitzt. Nochmals, deshalb ist es besser, das Problem als eines des Rassismus und nicht des weißen Privilegs zu formulieren. Es ist kein 'Privileg' zu leben, ohne ungleich behandelt zu werden oder der Unterdrückung ausgesetzt zu sein. Das sind Grundrechte, die alle besitzen sollten. Die Abwesenheit von Unterdrückung, Diskriminierung oder Fanatismus als 'Privileg' zu bezeichnen, bedeutet, den Begriff der Gerechtigkeit auf den Kopf zu stellen." Malik antwortet mit seinem Artikel auf ein BBC-Video des Psychologenj John Amaechi über den Begriff des "White Privilege".

Leider ist die Behauptung "die Sprache sei ja immer im Wandel, deshalb seien gezielte Eingriffe ganz normal", im Bezug auf das Gendern nicht ganz wahr, schreibt der Sprachwissenschaftler Horst Haider Munske in der Welt. Denn die Strukturen der Sprachen sind sehr stabil, was sich wandelt ist in der Regel der Wortschatz. Wer die Sprache also modernisieren will, muss pragmatisch vorgehen: "Die Linguistik ist nicht per se Gegner der Geschlechtersensibilität, sie hat die Aufgabe aufzuklären und Wege des Möglichen aufzuzeigen. Dazu haben bereits viele Empfehlungen beigetragen. Wir befinden uns zurzeit in der Phase des Testens. Was ist praktikabel, was hilfreich, was geht nicht? Jeder hat das Recht sich zu entscheiden."

Die Amerikaner erfinden gerade das Auto neu, erzählt in der SZ ein faszinierter Andrian Kreye. Nicht Tesla, Ford ist die Marke der Stunde. Die hat das meistverkaufte Auto Amerikas, den Pickup Truck Ford F-150, so als E-Auto umgebaut, dass es auch Cowboys gefällt: Der elektrische F-150 ist nämlich nicht nur ein Auto, er soll "ein Einfamilienhaus drei Tage lang mit Strom versorgen" können. "Es geht um die Erkenntnis, dass ein Elektro-Auto kein schlichtes Fahrzeug ist, sondern auch ein rollendes Kraftwerk sein kann. Das schließt die immer häufigere Erfahrung der Amerikaner ein, dass Naturkatastrophen ganze Landstriche lahmlegen. Wirbel- und Schneestürme, Feuersbrünste, Erdrutsche, Fluten, Schwerwetterphänomene aller Art. Das ist die neue Wirklichkeit. Ob die nun von Gott, der Technologie oder dem Kapitalismus geschaffen wurde, ist erst einmal egal, solange man sich mit so einem F-150 von den Launen dieser Naturgewalten unabhängig machen kann." Hier kann man sehen, wie das läuft.
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Gesellschaft

Die Grünen möchten das Transsexuellengesetz dahingehend ändern, dass jeder eintragen darf, was er oder sie sein möchte. Es soll zugleich verboten werden, den Geschlechtswechsel zu benennen. Das wäre fatal, meint in der SZ Susan Vahabzadeh, die sich sorgt, dass dieses Gesetz mit der SPD und der Linken tatsächlich durchgesetzt werden könnte. Denn es würde einzig dem Patriarchat nützen: "Wenn die Kategorie Frau aus der Statistik verschwindet, lässt sich keinerlei strukturelle Benachteiligung mehr nachweisen, keine Altersarmut und keine schlechtere Bezahlung. Diskriminiert werden Frauen und Mädchen nicht aufgrund irgendeiner Gesetzeslage, sondern aufgrund ihres biologischen Geschlechts."

Seit dem Attentat von Würzburg wird über psychisch kranke Gewalttäter diskutiert, die ihre Taten mit extremistischen Diskursen begründen. Der Psychiater Manfred Lütz erläutert in der FAZ: "Man hat im Fall von Hanau über Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit debattiert. Gewiss nehmen Wahnkranke den Inhalt ihres Wahns aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten, und ohne Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit in unserer Gesellschaft hätte der Täter diese Ideen nicht in sein Wahnsystem integriert. Deswegen sind die engagierten Initiativen der Angehörigen gegen Rassismus und Rechtsextremismus völlig berechtigt. Aber unter Präventionsaspekten reicht das nicht aus. Denn sowenig jemand, der vor hundert Jahren unter dem Wahn litt, der Kaiser von China zu sein, ein Monarchist war, so wenig war der Hanauer Täter genuin rechtsradikal und ausländerfeindlich."
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Geschichte

Keine Kommunistische Partei war je so erfolgreich wie die chinesische, schreibt der Sinologe Klaus Mühlhahn in der FAZ. Vielleicht kam ihr bei der Gründung vor hundert jahren ihre Ignoranz zugute, denn der Marxismus war "bei den Chinesen kaum bekannt. In chinesischer Übersetzung lagen lediglich ein kurzer Auszug aus dem 'Kommunistischen Manifest' sowie eine Übersetzung von Friedrich Engels' Vorwort zu dessen englischer Ausgabe aus dem Jahr 1888 vor. Dies war für lange Zeit der einzige marxistische Text, der vollständig vorlag." Ebenfalls in der FAZ erzählt der Sinologe Wolfgang Kubin, der in China lehrt, von seinen Schwierigkeiten bei der Wiedereinreise.
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Überwachung

In Berlin haben sich das in London vom Architekten Eyal Weizman gegründete Investigativkollektivs Forensic Architecture und Wolfgang Kalecks European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) zusammengetan, um international staatliche Verbrechen und Bespitzelungen nachzuweisen, berichtet Jörg Häntzschel in der SZ. Auch für "residents" aus anderen Organisationen hält man einige Schreibtische bereit: "Die bekannte Recherchegruppe Bellingcat und die Berliner Initiative Mnemonic, die sich auf die Dokumentation und Archivierung von Menschenrechtsverletzungen unter anderem in Syrien und im Sudan spezialisiert hat, sind schon an Bord, das HKW ebenfalls. Weizman schwebt ein 'Ökosystem von Rechercheuren und Juristen' vor, wie es sich bei einem Projekt zum Bürgerkrieg im Jemen bewährt hat. Der syrische Journalist Hadi al Khatib von Mnemonic lieferte Videos von Luftangriffen, Forensic Architecture ordneten sie mit ihrer Software zeitlich und räumlich ein. Und die Juristen von ECCHR gingen gegen die westlichen Hersteller vor, von denen die Munition teils stammte."
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Medien

Um die Pressefreiheit in Polen ist es nicht allzugut bestellt, wie man inzwischen weiß. Aber abgeschafft ist sie nicht, erzählt Daniel Imwinkelried in der NZZ und beruft sich dabei auf mehrere polnische Journalisten, darunter auch Boguslaw Chrabota, Chefredakteur von Rzeczpospolita. "'Die Regierung mag davon träumen, den unabhängigen Journalismus zu zerstören', sagt er. 'Die Verhältnisse sind aber komplizierter.' Mit einer Justizreform übt die Regierung zwar großen Druck auf die Richter aus, aber längst nicht alle von ihnen haben die Unabhängigkeit verloren. Das hilft den Medien in Konflikten mit dem Staat, etwa bei Verleumdungsklagen."
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