9punkt - Die Debattenrundschau

Aus der Rumpelkammer der Phrasen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.06.2021. Die Hohenzollern  haben im Streit um die Entschädigungsforderungen viele Historiker und Journalisten mit Unterlassungsaufforderungen und Klagen bekämpft - diese wehren sich nun mit einer Website, die diese Klagen dokumentiert, berichtet Zeit online. A. Dirk Moses äußert sich in The New Fascism Syllabus sehr zufrieden über die Debatte, die er auslöste und tritt nochmal für die "rassifizierten" Minderheiten ein, deren Leid mit Hinweis auf die Holocaustopfer ignoriert werde. In der FR tritt Aleida Assmann für Carolin Emcke ein und attackiert den Springer-Verlag. In den Sehepunkten antwortet Hedwig Richter auf ihre Kritiker.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.06.2021 finden Sie hier

Geschichte

Die Hohenzollern wollen Geld vom Staat, das sie nur kriegen sollen, falls sich zur allgemeinen Überraschung herausstellt, dass sie den Nazis keinen erheblichen Vorschub geleistet haben. Auf dem Weg dahin überziehen sie Forscher und Journalisten bei kleinsten Fehlern mit teuren Klagen und Aufforderungen zur Unterlassung (auch der Perlentaucher war betroffen). Die Historiker wehren sich nun mit einer Dokumentationsseite im Internet, berichtet Christian Staas bei Zeit online und erinnert an die Auseinandersetzung: "Die Klagen des Prinzen folgten in ähnlich hoher Schlagzahl wie die Pressebeiträge und Interviewäußerungen kritischer Historiker. Und mittlerweile sind sie längst nicht mehr nur ein Ärgernis für die Betroffenen und jene, die Sorge haben, bei einem falschen Wort abgemahnt zu werden. Sie sind auch zum Problem für die Klagenden selbst geworden: zu einem Politikum in den außergerichtlichen Verhandlungen."

Die Historikerin Hedwig Richter, die mit "Demokratie- Eine deutsche Affäre" einen Besteller gelandet hatte und auf Twitter bestens vernetzt ist, ist von einigen Kollegen in äußerst scharfen Kritiken abgewatscht worden (unser Resümee). Jetzt antwortet sie im geisteswissenschaftlichen Rezensionsmagazin Sehepunkte auf ihre Kritiker, darunter besonders Andreas Wirsching (hier) und Christian Jansen (hier). Historiker seien zu sehr in den Begriffen der alten Bundesrepublik verhaftet, schreibt sie: "Das gilt auch für die Unterscheidung von 'Demos' und 'Ethnos', die beide Rezensenten bei mir vermissen. So wichtig für heutige Demokratien diese Differenz ist, so wenig prägte sie die Demokratiegeschichte. Die französischen Revolutionäre verstanden die viel gepriesene egalitäre 'Nation' keineswegs als ein Gleichheitskonzept für alle Menschen. Die USA blieben bis weit ins 20. Jahrhundert eine zutiefst rassistische, häufig dezidiert fremdenfeindliche Demokratie. Anders als die rechtsstaatlich schwache US-Demokratie des 19. Jahrhunderts setzte der starke Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs hingegen die garantierten Rechtsgleichheiten für Männer immer wieder durch: Trotz aller Diskriminierungen etwa konnten die als fremde 'Nation' geltenden Polen ihr Wahlrecht ausüben und mit eigenen Kandidaten ins Parlament einziehen."
Archiv: Geschichte

Ideen

In der NZZ plädiert der Schriftsteller Klaus-Rüdiger Mai in einem Essay für einen neuen tätigen Liberalismus, der die Freiheit des Bürgers in den Mittelpunkt stellt: "Der Liberalismus erneuert sich nicht, indem er zum Sammelsack für alle auf dem Markt befindlichen Ideen wird, sondern indem er die Freiheit aus der Rumpelkammer der Phrasen holt und sie zum politischen Anker macht. Denn die Freiheit ist der Genius Europas. Das Konzept der Freiheit beruht auf dem mündigen Bürger, der weder der 'Wahrheitssysteme' noch der 'Interpretationseliten' bedarf."

Ziemlich happy über die Debatte, die er auslöste, aktiviert A. Dirk Moses jetzt in The New Fascism Syllabus ein zweites Mal und resümierend die Walsersche Moralkeule, um dem deutschen Publikum eine Linke zu versetzen. Er resümiert die weitgehend zustimmenden Äußerungen seiner Anhänger und spricht über Kritiker, die er nicht namhaft macht: "Keiner von ihnen ging auf meine Punkte über die Einschüchterung insbesondere von 'rassifizierten' Minderheiten in Deutschland ein. Wenn sie sich für Afrika oder Palästina einsetzen, wird ihr Status als historisch unterdrückte Minderheiten konsequent mit dem Verweis auf eine Kategorie absoluter reiner Opferschaft geleugnet, die nicht das Produkt der Geschichte ist, sondern der geistigen Akrobatik derselben Männer der Vernunft, deren Rechtschaffenheit von der Existenz des absolut Guten und des absolut Bösen abhängt, die sie allein kraft ihrer 'Vernunft' zu erkennen vermögen." (Die Anführungszeichen beim Wort "rassifiziert" haben wir gesetzt, d. Red.)

A. Dirk Moses spielt auch schon auf die Debatte über einen missverständlichen Satz von Carolin Emcke an, der von der Bild-Zeitung attackiert worden war. Eine Gruppe Autoren, die wohl zum größten Teil jüdisch sind, haben Emcke darauf hin im Merkur-Blog in Schutz genommen und dem Springer-Verlag vorgeworfen, einen falschen Antisemitismusbegriff zu verwenden (unser Resümee).

Die Bild-Zeitung, die wir im Perlentaucher selten zitieren, hatte zu Emckes Satz, dass gegen Klimaforscher einst Ressentiments geschürt werden könnten wie gegen Juden, gesagt: "Der Vergleich zwischen Kritik an Klimaforschern und antisemitischer Hetze und Verfolgung von Juden, ist zutiefst geschmacklos. So verglichen zum Beispiel auch die Corona-Leugner der sogenannten 'Querdenker'-Bewegung sich immer wieder mit 'den Juden', um sich als verfolgte Minderheit zu stilisieren." Ergänzt am 17. Juni: "Auch bei radikalen Palästinenser-Demonstrationen kommt es immer wieder zur Behauptung, dass früher die Juden verfolgt wurden und nun man selbst", so der Bild-Kommentar weiter. Dies sei eine "antisemitische Behauptung, die das Ausmaß der Juden-Verfolgung relativiert und kleinredet".

Und Alan Posener hatte in der Welt am Sonntag geschrieben: "Natürlich wollte Emcke, das sei vorweggesagt, die Verfolgung der Juden im Dritten Reich nicht mit heutiger Kritik an Klimaforschern und Aktivistinnen gleichsetzen." Dennoch ist Emckes "Relativierung des Judenhasses" für ihn "eine unverzeihliche Dummheit und einer Frau, die für die Aufklärung streiten will, unwürdig. Nein, der Judenhass wird nicht ersetzt durch den Hass auf Klimaforscherinnen."

In der FR fragt Aleida Assmann nun mit Blick auf die Kritik an Emcke: "Ist Denken noch erlaubt?" Für sie ist die Kritik in den Springer-Zeitungen ein Antisemitismusvorwurf gegen Emcke, der "ungeheuerlich" sei "und das schlimmste Stigma, das für ernsthafte Deutsche denkbar ist. Gleichwohl wird diese Ächtung reflexhaft ausgesprochen und von der Springer-Presse inzwischen serienmäßig vergeben."

Außerdem: In der NZZ porträtiert Hans Ulrich Gumbrecht Judith Butler.
Archiv: Ideen

Europa

Vor dreißig Jahren schlossen Deutsche und Polen einen Nachbarschaftsvertrag. Zur Feier fährt Bundespräsident Steinmeier nach Polen, wo Journalisten ihm keine Fragen stellen dürfen, weil das von der PiS nicht vorgesehen sei, erklärt Bartosz T. Wieliński, Chefredakteur der Gazeta Wyborcza in der SZ. Deshalb würde er jetzt und hier den Bundespräsidenten gern fragen: "Was er vom Abbau der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie in Polen hält, zum Beispiel. Oder ob er wirklich glaubt, dass es einen Grund gibt, an diesem Donnerstag in Warschau zu feiern. ... Denn obwohl es nicht explizit im Text steht, verpflichteten sich das freie Polen und das vereinigte Deutschland, demokratische Standards zu respektieren. Denn ohne die Achtung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten kann es keine gute Nachbarschaft geben. Diese Prinzipien, die in Artikel 2 des EU-Vertrags verankert wurden, hat das von der PiS-Partei regierte Polen absichtlich verletzt. Der Nachbarschaftsvertrag, dessen Jubiläum Frank-Walter Steinmeier in Warschau feiern will, ist im Grunde tot."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Wenn Verfassungsschutzminister tremolieren, wie jetzt Horst Seehofer beim Bericht über neueste Extremismuszahlen, tun sie das, um sich als Fels in der Brandung darzustellen, schreibt Stefan Reinecke in der taz. "Dass Horst Seehofer von Alarmzustand redet, ist diesmal aber mehr als steile Rhetorik. Es gibt amtlich 33.000 Rechtsextremisten, davon ist ein Drittel möglicherweise gewaltbereit. Dabei zählt der Verfassungsschutz 20.000 Reichsbürger aus Gründen, die nicht recht einleuchten, gar nicht zum Phänomen Rechtsextremismus. Diese Zahlen lassen nach Halle und Hanau eine Rhetorik des Alarms nicht ganz abseitig erscheinen." Reinecke ist aber zufrieden, dass Seehofer "das Offenkundige begriffen hat - die größte Bedrohung geht von Rechtsextremen aus".

"Bisher werden auch Taten mit unklarem Motiv als rechts eingeordnet", ergänzt in der taz Konrad Litschko, der den Jahresberichts des Verfassungsschutzes gelesen hat. Die SPD-Länder lehnten eine Neukategorisierung von Taten mit unbekanntem Hintergrund, die bisher den Rechtsextremismus zugeordnet werden, aber ab.

Beim Thema Linksextremismus möchte die taz aber auf keinen Fall falsche Zuordnungen stehen lassen. Volkan Ağar recherchiert zur Frage, wie ein Satz aus einer Definition der Bundeszentrale für politische Bildung verschwunden ist. Der Satz lautete: "Im Unterschied zum Rechtsextremismus teilen sozialistische und kommunistische Bewegungen die liberalen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - interpretieren sie aber auf ihre Weise um." Dies sei von einem renommierten Wissenschaftler formuliert, beteuert Ağar, und Millionen Opfer des Stalinismus wären ihm sicher dankbar für diese Information. Trotzdem sei der Satz auf Druck der Bild-Zeitung durch unwissenschaftliche Behauptungen ersetzt worden!
Archiv: Gesellschaft