9punkt - Die Debattenrundschau

Die Tragweite von Krisen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2020. Es war nicht alles schlecht im Jahr 2020, ruft die taz: Die Revolution in Belarus lebt. Afrikanischen Ärzten gelang es, Ebola  einzudämmen. Argentininen feiert ein liberales Abtreibungsrecht. Die Diskussion um Corona dominiert dennoch: Deutschland hat düstere Sterbezahlen, konstatieren die Ruhrbarone. Corona verändert auch die Gesellschaft tiefgreifend, schreiben Konrad Paul Liessmann in der NZZ, Udo di Fabio in der FAZ, Jakob Simmank bei Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.12.2020 finden Sie hier

Europa

Es ist nicht alles schlecht gelaufen im Jahr 2020, sagt die taz und erinnert an einige Ereignisse, die Hoffnung machen. Einige der Artikel zitieren wir in den unterschiedlichen Rubriken. Barbara Oertel blickt zurück auf die bleibende Revolution in Belarus: "In Belarus ticken die Uhren seit diesem Jahr wirklich anders. Das wird bleiben - egal wie das Kräftemessen mit dem Regime von Alexander Lukaschenko ausgeht. Als Vorgeschmack auf das, was noch kommen könnte, ließen am vergangenen Wochenende Lukaschenko-Gegner*innen vielerorts weiße und rote Luftballons in den Himmel aufsteigen. Ob es genau 99 waren, ist nicht überliefert. Wahrscheinlich waren es eher mehr."

Von einem Demokratisierungsprozess in Belarus würde auch für die EU eine Menge abhängen, macht der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba im Gespräch mit Richard Herzinger in der Zeitschrift Internationale Politik deutlich: "Sollte Russland Belarus gänzlich in den Griff bekommen, wäre das eine eminente Bedrohung für die Ukraine. Unser Land wäre zur Hälfte von Russland militärisch eingekreist. Russische Truppen stünden in Belarus, auf der annektierten Krim und im okkupierten Donbass ebenso wie in Transnistrien, wo Moskau ebenfalls Soldaten stationiert. Ein weiteres Problem ist, was geschieht, sollte sich Russland wichtiger Sektoren der belarussischen Wirtschaft bemächtigen, namentlich der Rüstungsindustrie. Denn die Ukraine unterhält intensive Handelsbeziehungen mit Belarus und kooperiert auch im Sicherheits- und Verteidigungsbereich eng mit dem Nachbarland."

Nach der Unterzeichnung des Brexit-Deals tröstet Boris Johnson die Europäer mit ein bisschen Spott, wie die Zusammenfassung eines BBC-Interviews zeigt: "Kritiker hätten gesagt, 'Du kannst keinen Freihandel mit der EU haben, wenn du dich nicht an EU-Gesetze hältst', sagt der Premier, 'das hieße den Kuchen haben und ihn essen. Nun, es hat sich gezeigt, dass das nicht stimmte', setzt er hinzu, 'Sie müssen einsehen, dass wir einen Kuchen-Vertrag haben.'"

Alexej Nawalny hat durch einen Telefonanruf den russischen Geheimdienst FSB demaskiert, der zum Teil dilettantisch agierte, ganz anders als man es sich in raffinierten Romanen John Le Carrés vorstellte. Aber das ist nicht die eigentliche Meldung, meint Peter Pomerantsev im Blog der LRB, die eigentlich neue Qualität ist das schamlose, offene Agieren Putins: "Indem der Kreml (und Nawalny) das Verborgene öffentlich machen, bedienen sie nur die Anforderungen des Social-Media-Zeitalters. Le Carré arbeitete nicht nur im Kalten Krieg, sondern auch innerhalb der Grenzen des Romans, der verblassenden Welt des Buchdrucks und des privaten Selbst. Soziale Medien reduzieren Privatsphäre und Innerlichkeit: Auf Instagram ist kein Platz für das private, 'versteckte' Ich. Geheimdienste müssen mit der technologischen Zeit gehen: Was zählt, ist, in den Worten einer aktuellen Analyse der RAND Corporation, nicht, wessen Armee gewinnt, sondern 'wessen Geschichte gewinnt'."
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Wissenschaft

Zu den positiven Ereignissen des Jahres, die zu wenig bemerkt wurden, gehören die Erfolge der Ebola-Bekämpfung, schreibt Dominic Johnson in der taz. Das Virus ist wesentlich tödlicher als etwa Corona und hat vor Jahren Tausende getötet: "Obwohl die betroffenen Regionen sämtlich zu den ärmsten der Welt gehören, wo es kaum ein Gesundheitswesen gibt, sind afrikanische Mediziner sich mittlerweile sicher, Ebola im Griff zu haben. In Guinea wurden Impfstoffe entwickelt, die später im Kongo so effektiv waren, dass sie noch vor der formalen Zulassung aus humanitären Gründen zum Einsatz kamen. Aus den vielen Seuchenausbrüchen im Kongo, in Uganda und in Westafrika sind Behandlungsmethoden entwickelt worden, die das Sterberisiko deutlich reduzieren. Trotz vieler Befürchtungen konnten alle Ebola-Epidemien Afrikas eingedämmt werden, bevor sie sich in Millionenstädten einnisten und Zehntausende dahinraffen konnten."
Archiv: Wissenschaft

Gesellschaft

2018 starben in Deutschland im Schnitt 2.600 Menschen täglich. Nun sterben allein an Corona über tausend Menschen täglich. Zeit für ein Innehalten, findet Robert Herr bei den Ruhrbaronen: "Weil in den letzten Monaten doch eine ziemliche Geringschätzung ob des amerikanischen Missmanagements der Pandemie und der damit verbundenen hohen Todeszahlen herrschte, verbunden mit nicht unerheblicher Selbstbeweihräucherung hier in der Bundesrepublik, wie viel besser man doch alles gemacht habe, möchte ich noch auf einen Fakt hinweisen: Deutschland liegt gerade bei den täglichen Todeszahlen auf dem zweiten Platz, direkt hinter den USA." (Herr gibt allerdings nicht an, wie er zu dieser Angabe kommt, ein Vergleich der aktuellen Sterbezahlen ist schwer zu finden.)

Für die aktuell so hohen Sterbezahlen in Deutschland ist durchaus auch die Politik verantwortlich zu machen, bemerkt Gereon Asmuth in der taz: "Schuld daran ist, das muss man so klar und deutlich formulieren, das Kollektiv der MinisterpräsidentInnen, die während des 'Lockdown light' im November wochenlang schärfere Maßnahmen ablehnten (Manuela Schwesig). Lieber erst mal abwarten wollten (Michael Kretschmer). Vor Aktionismus warnten (Armin Laschet). Oder davor, die Infrastruktur unnötig zu belasten (Malu Dreyer). Und dabei stets für ein Recht auf Weihnachten zusammen mit der Familie plädierten (alle)."

Im Interview mit der SZ denkt der Verfassungsrechtler Christoph Möllers über die Coronaregeln nach: Bessere Kommunikation der Bundesregierung hätte er sich gewünscht, eine stärkere Rolle des Parlaments und mehr Verantwortung des Bundes, der sich viel zu spät daran gemacht habe, das Infektionsschutzgesetz zu reformieren. Schließlich habe die Krise aber auch gezeigt, dass wir uns mehr Gedanken darüber machen müssen, was wir in Pandemiezeiten vorrangig schützen wollen: "Auf der rechtsstaatlichen Seite fühlte man sich an die alte linke Kritik erinnert, wonach Grundrechte immer nur die schützen, die bereits etwas haben. Wir schützen Eigentümer - aus guten Gründen, keine Frage. Aber wir schützen nicht Eltern mit schulpflichtigen Kindern. Man federt sie zwar sozial ab. Aber in den vergangenen Monaten ist uns schmerzhaft bewusst geworden, dass es zwar Schulpflicht gibt, aber kein Schulrecht. ... Warum geben wir Müttern und Vätern nicht die Möglichkeit, auf Einschulung zu klagen? Warum hat Bildung nicht diesen Stellenwert? Sehr viele soziale Ungleichheiten werden durch Grundrechte verfestigt und versteinert."
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Ideen

In der SZ wendet sich Gustav Seibt von allen düsteren Prognosen für die kommenden Jahre ab und vertieft sich lieber in Laurent Binets Roman "Eroberung", der eine alternative Geschichte zeichnet: Nicht die Europäer erobern um 1500 Amerika, sondern die Inka Europa. Macht mehr Spaß, versichert er, und es wird beim Lesen "ein Empfinden für die Ungewissheit der Verläufe erzeugt, in denen wir als Zeitgenossen stehen. Die Zukunft sei offen, das sagt sich so leicht. Als das Jahr 2000 gefeiert wurde, dachte niemand an einen Anschlag wie den vom 11. September 2001. Wer konnte sich Facebook und das Smartphone vorstellen, die Lebenswelt und politische Kommunikation derartig veränderten? Im Jahr 2000 hing die Wahl des US-Präsidenten an sehr wenigen Stimmen, an den Kapriolen des Wahlrechts und der Willkür einer einzigen Richterentscheidung. Wie hätte Präsident Al Gore auf den 11. September reagiert? Das ist keine müßige Frage, Struktur hin, Prozess her."

Das Coronavirus ist vor allem eine große Kränkung, meint in der NZZ der Philosoph Konrad Paul Liessmann mit wenig Sympathie für seine Zeitgenossen, die ihm zuwenig Sinn für das haben, was eine Gesellschaft ausmacht: "In der Moderne war Krankheit nur mehr als individuelles Problem präsent, nicht als ein kollektives Ereignis, auf das politisch reagiert werden muss. Darin liegt eine der Ursachen für die Turbulenzen der letzten Monate. Medizinisch gebotene Regeln, die im Einzelfall jeder akzeptieren würde, ohne an Freiheitsberaubung zu denken, werden zu einem Angriff auf die Grundrechte stilisiert, weil sie allen zugemutet werden müssen. Die Krise offenbarte, dass viele ihre individuelle Freiheit ohne jenen politischen und sozialen Rahmen denken wollen, der diese überhaupt erst ermöglicht."

"Es ist eine Realität, dass Politik und Gesellschaft hierzulande nicht fähig sind, die Tragweite von Krisen zu antizipieren", kritisiert auf Zeit online Jakob Simmank, der die deutsche Zögerlichkeit, selbst bei lebensbedrohlichen Krisen wie Corona den Bürokratismus mal abzulegen und schnelle, fantasievolle Lösungen zu suchen, nicht begreift. Realitätserkennung wäre ein Anfang: "Fast scheint es einem, als müssten wir spüren, wie gefährlich ein Virus werden kann. Als müssten erst Kliniken an den Rand des Zusammenbruchs kommen wie nun in Teilen Sachsens, bevor Menschen verstehen, was die Konsequenz halbherzigen Handelns ist und was das Wegmoderieren radikaler Lösungsstrategien bedeutet. Bergamo scheint nicht gereicht zu haben, wir scheinen ein deutsches Bergamo zu brauchen."

Das Corona-Jahr war auch wie ein Testlauf für Verfechter einen neuen Genügsamkeit im Namen der Klimakrise, konstatiert Udo Di Fabio in einem Essay für die FAZ. Aber er wittert hier auch eine neue soziale Spaltung, wie sie sich etwa in der "Gilets jaunes"-Bewegung offenbarte: "Es darf nicht sein, dass das elektrisch betriebene, umweltbelastend produzierte Viertauto der Wohlhabenden mit Steuergeld subventioniert wird, während dem unteren Teil der Gesellschaft 'Billigfleisch' und 'Diesel' als Klimasünde moralisch vorgehalten wird. Das gilt vor allem, wenn feststeht, dass das obere Fünftel der Gesellschaft doppelt so viel klimaschädliche Emissionen verursacht wie das untere Fünftel unseres Landes."
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Politik

In Argentinien haben Feministinnen ein liberales Abtreibungsgesetz erkämpft, das Signalwirkung für ganz Lateinamerika haben könnte, berichtet Jürgen Vogt in der taz: "Noch wenige Stunden vor der Abstimmung versuchte Papst Franziskus in die Debatte einzugreifen. 'Der Sohn Gottes wurde als Ausgeschlossener geboren, um uns zu sagen, dass jeder ausgeschlossene Mensch ein Kind Gottes ist', twitterte er aus Rom. Tage zuvor hatte er provokant gefragt, ob es 'fair sei, ein Leben zu eliminieren, um ein Problem zu lösen' und dafür 'einen Killer anzuheuern'? Für das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche ist das Abstimmungsergebnis eine schwere Niederlage."
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Medien

Welt-Autor Thomas Schmid schreibt in seinem Blog einen schönen Nachruf auf den taz- und Zeit-Journalisten Klaus Hartung, der auch ein  prominenter 68er war: "Er hat sein Leben lang an '68' gehangen, hat es aber weder verklärt noch verdammt. In einem schönen und zuweilen ergreifenden Artikel (man kann ihn auf seiner Homepage nachlesen) hat er dem Höhenflug und der Hybris von '68' nachgeforscht. Es heißt dort: 'Ohne Freude am Paradox ist eine ernsthafte Beschäftigung mit '68' kaum denkbar.' Denn diese 'Bewegung' hat ohne Zweifel zur Demokratisierung der Republik beigetragen, aber nur, 'weil sie in ihren Zielen scheiterte'."
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Stichwörter: Hartung, Klaus