9punkt - Die Debattenrundschau

Hoffentlich nur Fiktion

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2019. Philipp Ruch und sein "Zentrum für politische Schönheit" stellen eine Stele mit (angeblicher?) Asche ermordeter Juden an die Stelle der Kroll-Oper, um einen neuen Faschismus zu verhindern. Berliner Zeitung, Tagesspiegel und SZ finden die Aktion sehr gut. Der Perlentaucher bekennt seinen Würgreflex. FAZ und SZ sehen einen Prozess auf die Hohenzollern zukommen. Netzpolitik erzählt den neuesten Streich der chinesischen Überwachungspolitik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.12.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Philipp Ruch und sein "Zentrum für politische Schönheit" stellen eine Stele mit der Asche ermordeter Juden an jene Stelle in Berlin zwischen Kanzleramt und Bundestag, wo einst die Kroll-Oper stand und die "Machtübernahme" der Nazis stattfand. Ziel der Aktion soll es auch seine, die neuen Faschisten in Gestalt der AfD zu bekämpfen. In ihrem Werbevideo zu der Aktion heißt es: "Direkt gegenüber des Bundestags (sic!) nahm die Vernichtungsaktion von Millionen Menschen ihren Anfang. Hier legte der Konservatismus die deutsche Demokratie in die Hände von Mördern. Bis heute erinnert nichts daran. Und der Konservatismus streckt schon wieder die Hand nach den Faschisten aus. In der Mitte der Republik errichten wir jetzt eine Widerstandssäule mit der Asche der Getöteten."

Arno Widmann verteidigt die Aktion in der Berliner Zeitung: "Die Asche der Vernichteten in der Nähe des Reichstages konfrontiert die Politik und uns mit den Folgen unserer Handlungen oder den Folgen unseres Nichthandelns. Die Krolloper, auf deren ehemaligem Gelände die Installation steht, war der Ort, in den das Parlament nach dem Reichstagsbrand verlegt wurde. Hier wurde der Übergang in die rassistische Diktatur vollzogen. Das Zentrum für Politische Schönheit hilft uns wie schon bei seinen früheren Aktionen mit schmerzhaften Symbolen."

"Doch, die Aktion ist gelungen" meint auch Jan Kedves in der SZ: "Das ZPS kann sich, trotz eventueller Vorwürfe der Pietätlosigkeit, darauf berufen, dass es Opfern des Holocausts und Widerstandskämpfern wie dem 1944 ermordeten Salmen Gradowski, zu Lebzeiten noch gelang, Notizen zu hinterlassen, in denen sie die Nachwelt instruierten, nach ihrer Asche zu suchen und mit ihr das Gedenken an die Millionen Ermordeten wachzuhalten."

Für Tagesspiegel-Kritiker Patrick Wildermann hat Philipp Ruch mit der Ausgrabung der Asche gar "einen über 75 Jahre alten Auftrag verwirklicht". Und überhaupt: Es ist Gefahr in Verzug, ist er sich mit Ruch einig. "Der Sorge, dass es zu einer neuen Handreichung zwischen Konservativen und äußersten Rechten kommen könnte, hat Philipp Ruch unlängst schon in seinem Buch 'Schluss mit der Geduld' Ausdruck verliehen. Da wagt er das Gedankenexperiment einer Haselnuss-Koalition, schwarz-braun also, in der die völkische AfD-Fraktion unter CDU-Führung ein Superministerium aus Innerem und Verteidigung übernimmt. Hoffentlich nur Fiktion. In Thüringen gab es ja bekanntlich erste CDU-Stimmen, die sich ein Zusammenmarschieren gut hätten vorstellen können.

"Wodurch ist Ruch autorisiert, die Asche ermordeter Juden auszugraben, um sie für seine persönliche Kunstaktion zu benutzen", fragt dagegen Perlentaucher Thierry Chervel: "Bei mir lösen Ruchs Aktionen stets eher einen physischen Widerwillen aus. Mich stört die Nekrophilie, das Kapern realer Leichen für ästhetische Zwecke. Man könnte es die Gunther-von-Hagenisierung der allerjüngsten Avantgarde nennen."

Richard Volkmann schreibt zu der Aktion bei den Salonkolumnisten: "Nur wer vom alles überstrahlenden Wunsch nach Richtigkeit so verblendet ist, dass er freudig die gute Sache um ihrer selbst willen über Bord wirft, kann wirklich glauben, es würde der AfD irgendwie schaden, wenn man die Asche ermordeter Juden aus der Erde holt, um sie im Zuge eines billigen Politstunts vor dem Bundestag aufzubauen."

Der Bundestagsabgeodnete der Grünen Volker Beck schreibt bei Twitter: "Falls es sich tatsächlich um die Asche von in der Shoah Ermordeten handeln sollten, wäre dies eine strafbare Verletzung der Totenruhe. (§ 168 StGB). Dies behaupten die Aktivisten vom Zentrum für Politische Schönheit (ZPS). Es könnte freilich auch Fake & Teil der Kunstaktion sein." Um dies herauszufinden, hat Beck Strafanzeige gestellt. In der Jüdischen Allgemeinen gibt es eine gute Zusammenfassung der Diskussion.

Seit es Israel gibt, geht der Antisemitismus die Juden eigentlich nichts mehr an, schreibt der Historiker Michael Wolffsohn in der NZZ. "Es ist ein Problem der Nichtjuden, die sich durch Antisemitismus zunächst und vor allem selbst schaden, ja demontieren. Diese These sowie einige der vielen Dummheiten über Juden und Antisemitismus seien skizziert", so Wolffsohn und nimmt einige besonders beliebte antisemitische Klischees auseinander.
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Politik

In der Welt fragt der FDP-Politiker Frank Müller-Rosentritt, warum die Bundesregierung trotz massiver Kritik westlicher Partner weiterhin so großzügig das Hilfsprogramm der Vereinten Nationen (UNRWA) für die Palästinenser unterstützt. "Wir müssen uns intensiv mit Vorwürfen auseinandersetzen, die leider sehr zu denken geben. Es geht um Korruption, Miss- und Vetternwirtschaft, Schulbücher, die Gewalt gegen Juden, Märtyrertum und den Dschihad verherrlichen, Lehrkräfte, die Hitler als 'großartigen Führer' auf Facebook feiern, und sogar sexuelle Übergriffe. Der täglich geschürte Hass auf Juden und die komplette Leugnung des Staates Israel - die inzwischen zum Lernplan der PA gehören, welcher von UNRWA genutzt wird - sollten für Deutschland mit seiner historischen Verantwortung gegenüber dem jüdischen Staat absolut inakzeptabel sein."
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Geschichte

Es wird immer wahrscheinlicher, dass es zum Prozess um die Rückgabeforderungen der einstigen deutschen Herrscherfamilie Hohenzollern kommt, schreibt Andreas Kilb in der FAZ, der die Chancen für eine gütliche Einigung schwinden sieht. In einem Prozess geht es dann darum, wie nazi die Prinzen waren, denn dies hat Einfluss auf Rückgaben. Kilb zitiert einen Prozess gegen die Erben des rechtsextremenen Medienzars Alfred Hugenberg, die sein Rittergut nicht zurückbekamen, weil sich Hugenberg allzu sehr für die Nazis eingesetzt hatte. Die Richter hatten erklärt, "es komme nicht darauf an, ob der Betreffende zugleich 'eigene andere Ziele verfolgt' habe. Entscheidend sei, dass 'mit einer gewissen Stetigkeit' Handlungen erfolgt seien, die geeignet waren, 'die Bedingungen für die Errichtung, die Entwicklung oder die Ausbreitung' des Nationalsozialismus zu verbessern. Gerade Letzteres scheint auf Wilhelm von Preußen zuzutreffen, dessen Aktivitäten in der Schlussphase der Weimarer Republik im Mittelpunkt der vier Historikergutachten stehen, die derzeit in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert werden."

Der ganze Schlamassel ist nur entstanden, weil die Weimarer Republik vor mehr als hundert Jahren nicht konsequent mit dem monarchistischen Erbe gebrochen hat, kritisiert die Juristin Sophie Schönberger in der SZ. "Zunächst wurden nämlich sämtliche Vermögensgegenstände des ehemaligen Herrscherhauses, die nicht eindeutig dem Privatvermögen zugeordnet werden konnten, durch den preußischen Staat beschlagnahmt. So radikal fortfahren wollte man dann jedoch nicht. Stattdessen suchte man nach einer einvernehmlichen Lösung. Die junge deutsche Republik verzichtete auf ihre politischen Gestaltungsspielräume mit den Mitteln des Rechts und begab sich in Vertragsverhandlungen - und damit auf eine Position der Augenhöhe gegenüber dem ehemaligen Herrscherhaus." Die Bundesrepublik wiederholt diesen Fehler nun mit den laufenden Vergleichsverhandlungen, so Schönberger.
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Überwachung

China schickt zuverlässig Nachrichten aus der Zukunft, etwa diese, die Felix Richter heute bei Netzpolitik weiterreicht: "Seit Sonntag sind Mobilfunkanbieter in China dazu verpflichtet, die Gesichter ihrer Kunden bei Abschluss eines Handyvertrages zu scannen.  Die offizielle Begründung für die Verschärfung lautet, die Cybersicherheit zu erhöhen und Internetbetrug zu reduzieren. Das Gesetz reiht sich in die Bestrebungen der chinesischen Regierung ein, ihre Bürger immer gläserner zu machen."
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Europa

In der SZ zieht Andrea Bachstein die Lehren aus der Ermordung der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia und den Folgen. Wahrheit und Demokratie müssen immer wieder verteidigt werden, auch in der EU, hat sie gelernt. Aber Beharrlichkeit lohnt sich: "Hätten Aktivisten, empörte Bürger und Journalisten aus Malta und vielen anderen Ländern vor allem im Rahmen des investigativen Panama-Papers-Netzwerks nicht so unermüdlich die Aufklärung des Anschlags auf sie gefordert, wären die Ermittlungen vielleicht versandet, korrupte Politiker würden weiter den Inselstaat regieren, Premier Joseph Muscat hätte nicht endlich seinen Rücktritt angekündigt. Tausende verlangten das noch am Abend zuvor in La Valletta, und Tausende sind sehr viele in einem Land mit einer halben Million Einwohner."
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Ideen

In der NZZ überlegt der Politikwissenschaftler Heinz Theisen, wie die Polarisierung zwischen links und rechts in den demokratischen Gesellschaften des Westens aufgehoben oder zumindest gemildert werden könnte: "So könnte etwa eine liberale Mitte die Bejahung multikultureller Vielfalt mit der Ablehnung eines Multikulturalismus verbinden, der die Unterschiede verstärkt und den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Freiheit des Einzelnen gefährdet. ... Individualismus ließe sich durch mehr Konnektivität kompensieren. Die antiimperialistische 'linke' Selbstbegrenzung nach außen ermöglicht mehr 'rechte' Selbstbehauptung nach innen. Der globale Wettbewerb erfordert lokale Schonräume - nicht zuletzt zur Vorbereitung künftiger Wettbewerbsfähigkeit. Der Widerspruch von Schutz und Offenheit löst sich in zeitlicher Reihenfolge auf. Freihandel und soziale Solidarität nach innen können mithilfe des Prinzips Gegenseitigkeit versöhnt werden."
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