9punkt - Die Debattenrundschau

Sehr spezifische Hässlichkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2018. Saudi Arabien bestätigt in einer komplett fabriziert wirkenden Mitteilung den Tod des Journalisten Jamal Khashoggi im Istanbuler Konsulat. Manchmal ist es der Tod eines einzelnen, der ein Schlaglicht auf ein verbrecherisches Regime wirft, schreibt Guardian-Autor Jonathan Freedland zum Fall Khashoggi.  In der NZZ plädiert Martin Amis dafür, die Zwiespältigkeit in den Äußerungen eines Autors zuzulassen. In Deutschland zerbrechen sich Soziologen den Kopf über die Genese des Populismus. Die taz inspiziert die Mauern von Belfast.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.10.2018 finden Sie hier

Politik

Mit einer komplett fabriziert wirkenden Mitteilung bestätigt die saudi-arabische Nachrichtenagentur Spa laut Spiegel online die Tötung des Journalisten Jamal Khashoggi im Istanbuler Konsulat des Landes: "Die 'Diskussionen' zwischen Khashoggi und 'denjenigen, die er im Konsulat des Königreichs in Istanbul getroffen' habe, 'entwickelten sich zu einem Faustkampf, der zu seinem Tod führte'... Es seien bereits 18 Personen festgenommen worden." Führte der Faustkampf auch zur Zerstückelung Khashoggis?

Neue Informationen über die Umstände der Ermordung Khashoggis bringt Ben Hubbard in der New York Times.

Ist die Aufmerksamkeit für den Tod eines Einzelnen ungerecht, während ein Regime gleichzeitig Zehntausende elend sterben lässt, fragt Guardian-Redakteur Jonathan Freedland mit Blick auf Khashoggi und den gleichzeitigen grausamen Krieg Saudi-Arabiens im Jemen: "Ich verstehe die Frustration der Aktivisten für den Jemen… Aber manchmal ist es die Geschichte eines einzelnen - sein Leben und sein Tod -, die einer Wahrheit zum Durchbruch verhilft. So geschah es mit Khashoggi. Sein Tod beleuchtet nicht nur eine generelle Wahrheit über Saudi-Arabien, sondern über die sehr spezifische Hässlichkeit seines aktuellen Herrschers, Kronprinz  Mohammed bin Salman."

In der SZ zeichnet Boris Hermann ein Schreckensbild von der Zukunft, die brasilianische Künstler unter einem Präsidenten Jair Bolsonaro erwartet: Letzte Woche war der Musiker und Capoeira-Meister Moa do Katendê "in einer Bar in Salvador von einem Bolsonaro-Anhänger mit zwölf Messerstichen getötet worden, weil er sich für die Wahl des linken Gegenkandidaten Fernando Haddad ausgesprochen hatte. Bolsonaro sagte dazu: 'Ein Typ, der ein T-Shirt von mir trägt, begeht einen Exzess, was habe ich damit zu tun?' Für den brasilianischen Performance-Künstler Wagner Schwartz, 45, ist die Antwort offensichtlich. Das politische Programm Bolsonaros sei eine 'Apologie der Gewalt', seine vergiftete Sprache habe bereits Fakten geschaffen."
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Gesellschaft

Auf das Haus des Krimi-Autors Matthias P. Gibert wurde bereits im September ein Brandanschlag verübt. Da der Autor in dem Krimi den türkischen Geheimdienst thematisiert und am Anschlagsort Erdogan-Flugblätter gefunden wurden, ist ein politischer Hintergrund anzunehmen, berichtet das Börsenblatt. Giberts Verlag Gmeiner geht erst jetzt an die Öffentlichkeit, weil man den Autor habe schützen wollen, so Marketingleiter Jochen Große Entrup:  Aber "weder Verlag noch Autor wollen diesen Anschlag auf die Meinungsfreiheit akzeptieren, so Große Entrup. Deswegen habe man gemeinsam entschieden, das Buch weiterhin aktiv zu bewerben sowie vereinbarte Lesungen durchzuführen."
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Ideen

In einem taz-Artikel beschreiben die Soziologen Stephan Lessenich und Martin Kronauer den alten "stillschweigenden Gesellschaftsvertrag" der Bundesrepublik - die Arbeitnehmer akzeptieren den Kapitalismus, dafür lässt man sie wirtschaftlich partizipieren und schützt den eigenen Wirtschaftsraum -, der sich durch Globalisierung und Versagen der Eliten aufgelöst habe, ohne dass ein neuer an seine Stelle getreten sei. Folge: "Das Wahlvolk ist im Binnenverhältnis auf Protest gebürstet. Zugleich verhält es sich im Außenverhältnis zunehmend aggressiv, weil nennenswerte Teile der Bevölkerung den effektiven Schutz des nationalen Sozialraums vor dem Elend der Welt nicht mehr gewährleistet sehen. Die politischen Eliten wiederum reagieren mit einer erratischen Mischung aus Wirtschaftshörigkeit und Publikumsbeschimpfung, fiskalischer Austerität und selektivem Protektionismus, geschwollener Weltoffenheitsrhetorik in Sonntagsreden und knallharter Festungsmentalität im Tagesgeschäft." Es brauche aber einen neuen Gesellschaftsvertrag, einen, einen, "der so realistisch ist, die Unhaltbarkeit des alten Gesellschaftsvertrags als soziale Tatsache anzuerkennen".

Gefürchteter oder tatsächlicher Statusverlust führt die Leute ins Ressentiment, sagt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer in einem Gespräch mit Christian Schröder vom Tagesspiegel. Das gelte etwa für Alexander Gauland, der sich als konservativer Christdemokrat marginalisiert gefühlt habe: "Man kann sich in die Resignation oder in die Depression verabschieden. Gauland entschied sich für die Radikalisierung und für die Anerkennung in einer neuen Bezugsgruppe. Das funktioniert auch in Gruppen, etwa wenn Ostdeutsche sich mit Flüchtlingen vergleichen und glauben, dass ihre Lebensleistung nicht anerkannt wird, wo doch die Flüchtlinge noch keine Lebensleistung erbracht hätten und dann auch noch Geld oder Wohnungen bekämen. Eine Folge: Man wertet sich selbst auf, indem man andere abwertet oder diskriminiert."

Andrea Heinz nimmt im Standard die Postmoderne in Schutz gegen den unter anderem von Albrecht Koschorke vorgebrachten Vorwurf, sie habe mit ihrem "anything goes" auch den Fake News der Rechten Tür und Tor geöffnet (unser Resümee): Die Relativierungen der Postmoderne kann man nicht einfach rückgängig machen, meint Heinz. "Postmodern heißt eben auch das: Eine Gesellschaft muss ihre Gewissheiten immer wieder neu aushandeln. Sie muss aushalten, dass sich nichts für alle Zeiten festschreiben lässt. Und sie muss die Geschichten dazu immer wieder neu erzählen. Das ist etwas, was derzeit weder die Wissenschaft noch die (linke) Politik besonders gut kann."

In einem NZZ-Gespräch über den Terrorismus macht der in den USA lebende britische Autor Martin Amis Religion verantwortlich für die größten Übel unserer Zeit. Aber er wünscht sich auch eine Diskussion, die an diesem Punkt - etwas ist von übel - nicht stehen bleibt. "Ich saß einmal in einem Radiointerview über Saul Bellow. Die Fragestellerin war Feministin. Sie sagte: 'Es gibt Frauenfeindlichkeit in Bellows Werken.' Anstatt dass ich ihn verteidigt und mich darauf hinausgeredet hätte, dass es eine große Bandbreite von Frauenfiguren bei Bellow gebe, gestand ich es zu und fragte: 'Und jetzt? Wenn ich auf ihre Prämisse eingehe, was folgt daraus?' Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Es gibt zerstörerische, impulsive Anwandlungen von Frauenfeindlichkeit in jedem Mann. In Bellows Fall hat das viel mit dem Judentum, dem Patriarchat und Tausenden kleiner anderer Verbote zu tun. Aber die Diskussion hört nicht an diesem Punkt auf, sie sollte weitergeführt werden: Was hat das Ganze ausgelöst? Diese Schwächen einfach nur zu verurteilen, bringt einen nicht weiter, sondern füttert die eigene Selbstgerechtigkeit."
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Europa

Ralf Sotschek besucht die Grenzlinie zwischen katholischen und protestantischen Vierteln in Belfast - seit dem Karfreitagsabkommen sind noch mehr Mauern errichtet worden als zuvor. Auf protestantisch-unionistischer Seite wachsen Angst und Frust, erklärt ihm der Soziologe Bill Rolston: "'Die Unionisten fühlen sich als Verlierer des Friedensschlusses', sagt Rolston, 'Sie mussten seit 1998 einige ihrer Privilegien aufgeben.' Außerdem ticke eine demografische Zeitbombe für sie: '2022 werden die Katholiken in Nordirland in der Mehrheit sein.' Und das erhöht die Chancen bei einer Volksabstimmung über die Vereinigung der Republik Irland mit Nordirland, die schon lange zu den Plänen von Sinn Féin gehört. 'Es gibt aber keine Garantie, dass alle Katholiken für ein vereinigtes Irland stimmen', schränkt Rolston ein. 'Ein Fünftel von ihnen beschreibt sich nicht als irisch oder britisch, sondern als nordirisch.'" Zugleich aber, so Rolston, würden neuerdings einige gemäßigte Unionisten vor dem Hintergrund des Brexit für eine Vereinigung stimmen.

Die Wohltaten der linksrechtspopulistischen italienischen Regierung für ihr Volk gehen auf Kosten der Europäer, schreibt Klaus Georg Koch im FAZ-Feuilleton. Aber auch der Italiener selbst - denn eines der Probleme werden die Kredite sein: "Vor allem derjenige wird Italien das Geld leihen, der die Geschichte vom Aufschwung glaubt. Das tun aber nicht einmal die Italiener selbst, so sehr sie vielleicht einen Salvini für seine Dreistigkeit bewundern. Seit Jahren, seit der Griechenlandkrise, halten sie sich mit dem Kauf der eigenen Staatsanleihen zurück, noch weniger Leute haben bisher auf die neue Regierung eingezahlt."
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