9punkt - Die Debattenrundschau

Angstmache und Unterstellung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2018. Die SZ erzählt, wie Google, Facebook, Youtube, Twitter und Co. der ägyptischen Regierung bei der Internetzensur helfen. In der taz nimmt Nora Bossong ihren Kollegen Simon Strauß in Schutz: Wer mit Rechten redet, ist nicht gleich selber einer. Strauß selbst hat zuvor auf Facebook in die Debatte eingegriffen. Deniz Yücel hat gegenüber dpa klargestellt, dass er seine Freilassung nicht irgendwelchen Waffendeals verdanken will. Kenan Malik erklärt in der Basler Zeitung, warum er den Begriff der "Islamophobie" ablehnt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.01.2018 finden Sie hier

Gesellschaft

Nach offizieller ägyptischer Lesart leitete der Aufstand am Tahrir Platz in Kairo eine Zeit des Chaos und der Anarchie ein, die zum Wahlsieg der Muslimbrüder führte. "Revolution" gab es erst mit der Machtübernahme des putschenden damaligen Verteidigungsministers Abdel Fattah al-Sisi. Um dieser Lesart entgegen zu treten hat das ägyptische Medienkollektiv "Mosireen" mit "858.ma", ein Video-Archiv des Aufstandes auf dem Tahrir-Platz ins Netz gestellt, berichtet Paul-Anton Krüger in der SZ: "Videos der Sprechchöre zu sehen, mag für viele schmerzhaft gewesen sein, wirkte aber vielleicht auch wie ein Antidot gegen die Angst. Und gegen die Tendenz von Google, Facebook, Youtube, Twitter und Co. - den einstigen Verbündeten der Aufständischen - , Zugänge von Aktivisten zu sperren oder gar zu löschen. So hatte Twitter das Konto des ägyptischen Bloggers Wael Abbas ohne Begründung und Zeitangabe gesperrt. Abbas hat Preise dafür bekommen, dass er Menschenrechtsverletzungen dokumentierte, etwa Folter-Videos aus einer Polizeistation ins Netz stellte: 250.000 Tweets, Zeugnisse von Polizeigewalt, Demonstrationen, sind nicht mehr zugänglich. Der Protest vieler seiner 350.000 Abonnenten nutzt nichts; das Regime ist höchst erfreut."
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Ideen

Ein Gutes hat der Streit um Simon Strauß, dem die taz vorwarf, eine "rechte" Agenda zu bedienen (unsere Resümees hier und hier) - nun wurde daraus ein Streit mit Simon Strauß, ausgetragen im Organ der Romantiker des 21. Jahrhunderts, Facebook. Eine literarische Gruppe um den Korbinian Verlag, dessen Autor Leonhard Hieronymi Strauß schätzt, nahm vor einigen Tagen die Vorwürfe des taz-Artikels auf und versuchte eine Trennlinie zwischen dem Romantizismus Hieronymis und Strauß' zu definieren, der eine Ästhetisierung der Politik betreibe: "Tatsächlich erscheint fast jede Woche ein neuer Text von Strauß, in dem dieser es sich nicht verkneifen kann, wieder und wieder von heldenhaften Männern und von einer Literatur zu träumen, die sich nur der Ästhetik verpflichtet fühlt. Dieses Gefasel und sein Rückgriff auf den ohnehin problematischen und sehr deutschen Geniekult-Begriff scheint vor allem notdürftig verschleiern zu wollen, dass Strauß in beinahe jedem dieser Texte eine nach allen Seiten offene Gesellschaft kritisiert."

Strauß antwortet auf Facebook: "Liberalismus und Romantik sind genauso wenig Gegensätze wie man einfach sagen kann, dass die postmoderne Erkenntnistheorie nichts von der romantischen Wahrnehmungsweise gelernt hätte. Und übrigens wird auch Maren Ade als romantisch beschrieben, die kennt ihr doch wenigstens, oder? Ernst Jünger - ich kann da nur lachen. Wer allen Ernstes glaubt, diesen Autor allein durch Verweis auf sein 'Männlichkeitsbild' denunzieren zu können, der muss in der gesamten Literatur kräftig aufräumen."

In der taz nimmt Nora Bossong Strauß, mit dem sie befreundet ist, in Schutz: "Ob man mit Rechten reden soll oder nicht, darüber wurde in den letzten Monaten viel debattiert. Es gibt gute und weniger gute Argumente dafür und dagegen. Dass allerdings, wer einmal mit einem Neurechten redet, gleich selbst einer ist, ist kein Argument, sondern reine Angstmache und Unterstellung."

Kenan Malik
spricht im Interview mit Hansjörg Müller von der Basler Zeitung über seine Kritik an der Ideologie des Multikulturalismus und am Begriff der "Islamophobie": "Von diesem Begriff halte ich überhaupt nichts. Wer von Islamophobie redet, verwechselt zwei Dinge: Kritik am Islam und Hass auf Muslime. Die Kritik am Islam sollte keine Grenzen kennen, er sollte hinterfragt werden dürfen wie jede andere Religion oder jede politische Bewegung. Diskriminierung und Hass gegen Muslime gibt es natürlich, aber im Zuge von deren Bekämpfung sollten wir nicht Religionskritik unmöglich machen. Wer da nicht sauber unterscheidet, erlaubt es Rassisten, sich zu verstecken."
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Medien

Auch in Dänemark ist das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem (das den dänischen Gebührenzahler 340 Euro pro Jahr kostet) sturmumtost, berichtet Reinhard Wolff in der taz: "Die rechtsliberale Regierungspartei Venstre will das DR-Budget um 12,5 Prozent kürzen. Ihr Koalitionspartner, die rechtspopulistische Dänische Volkspartei, will dem Sender sogar ein Viertel seiner Einnahmen streichen und stellt den Rundfunkbeitrag gleich komplett in Frage."

"Für schmutzige Deals stehe ich nicht zur Verfügung", hat Deniz Yücel laut FAZ zur dpa gesagt: "Er wolle seine Freiheit nicht 'mit Panzergeschäften von Rheinmetall oder dem Treiben irgendwelcher anderen Waffenbrüder befleckt wissen'." Hintergrund ist eine Äußerung Sigmar Gabriels, der angedeutet hat, dass es bis zur Lösung des Falls Yücel eine restriktive Haltung bei Waffenlieferungen an die Türkei gibt.

Unter anderem meldet der Deutschlandfunk, dass der bekannte Medienjournalist und Mitbegründer des Netzwerks Recherche Thomas Leif im Alter von nur 58 Jahren gestorben ist.

Der Schlaf des Korrektors gebiert Ungeheuer. Sabine am Orde berichtet in der taz, dass der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, den AfD-Politiker Wolfgang Gedeon weiter als "Holocaustleugner" bezeichnen darf. Dies sei von der Meinungsfreiheit gedeckt, entschied am Dienstag das Berliner Landgericht. Und was macht die taz für eine Überschrift? "Ehemaliger AfDler darf Holocaustgegner genannt werden." (Online ist der Fehler übrigens inzwischen korrigiert.)
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Geschichte

Es ist 2018, fünfzig Jahre nach 1968. Anlass für FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube, recht lustlos auf den Forderungskatalog von damals zu blicken: "Auf die Frage, was sie gern ändern würden, hätten die Studentensprecher damals sagen können: das Ganze. Überall wurde Unterdrückung beobachtet, überall der Befreiung bedürftige Menschen. Weit über Wohngemeinschaften und die Lockerung sexueller Verhaltensnormen hinaus gab es die Erwartung, schlechterdings alles müsse und könne 'ausdiskutiert', anschließend demokratisiert und neu verteilt werden."

Vielleicht hätten sie mehr Marx lesen sollen. Marx-Biograf Jürgen Neffe sagt im Gespräch mit Michael Hesse in der Berliner Zeitung: "Was in seinen berühmten Hexenmeister-Zitaten zum Ausdruck kommt, dass die Menschheit etwas geschaffen hat, dass sie nicht beherrscht, sondern das über sie herrscht. Das ist heute für uns auch noch wahr. Daraus leite ich den Auftrag ab, das System besser verstehen zu wollen, um darüber die Kontrolle wieder erlangen zu können. Marx hat einen Anfang gemacht. Ihm schwebt vor, dass nur ein bewusstes Kollektiv das leisten kann."

Auch Dietmar Dath rät in der FAZ, Marx zu lesen, dessen großartige Einsichten noch der heutigen SPD zu denken geben sollten. Warum genau die FAZ, die mit Daths Text eine Serie startet, Marx auf dem Titel mit Donald-Schnabel darstellt, können wohl nur die dort angestellten Donaldisten erklären.
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