9punkt - Die Debattenrundschau

Verdacht von Doppelstrukturen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2018. Donald Trump will von Politik nichts wissen, er will Politik zerstören, meint der amerikanische Osteuropahistoriker Timothy Snyder im Interview mit der SZ. Die Iraner protestieren gegen ein System, in dem die Mullahs inzwischen reicher sind als einst der Schah, erklären die Politologen Ali Fathollah-Nejad und Arash Sarkohi in der NZZ. Bald wird das Humboldt-Forum eröffnet. Noch ist aber die Frage zu klären, wer welche Kompetenzen bekommt, berichtet der Tagesspiegel. In La Règle du Jeu erklärt Bernard-Henri Lévy, was am linken Antisemitismus so gut funktioniert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.01.2018 finden Sie hier

Politik

Die Proteste im Iran haben eine neue Qualität erreicht, meinen die Politologen Ali Fathollah-Nejad und Arash Sarkohi in der NZZ. Nicht mehr die Opposition wird von den Demonstranten unterstützt, das ganze korrupte System wird abgelehnt, das nach offiziellen iranischen Angaben 20 bis 25 Prozent der Iraner in absoluter Armut leben lässt: "Die Elite der Islamischen Republik fungiert wie eine Oligarchie, wo die Reichtümer in den Händen weniger liegen. Da sind einerseits die Wirtschaftsimperien der Revolutionsgarden und der religiösen Stiftungen, die von Konservativen wie Reformern geführt werden. Das Staatsoberhaupt Khamenei allein kontrolliert ein Finanzimperium im Wert von 95 Milliarden US-Dollar - das übertrifft den Reichtum des aus dem Amt gejagten letzten Schahs um ein Vielfaches. Andererseits intensivierte Präsident Rohani die Wirtschaftspolitik, die unter seinem Mentor und Ex-Präsident Rafsanjani eingesetzt hatte: klientelistische Privatisierung, Umverteilung von unten nach oben, Abbau von Subventionen."

In Pakistan werden in letzter Zeit immer wieder säkulare Blogger entführt, gefoltert und zum Schweigen gebracht - ein marxistischer Professor wurde sogar umgebracht. Die britische Regierung aber regt sich mit keinem Wort, empört sich Jon Boone im Guardian: "So traurig es für liberale Blogger, religiöse Minderheiten und andere benachteiligte Gruppen sein mag - die britische Regierung positioniert sich lieber als Pakistans größter Cheerleader. Pakistan, sagt man, ist zu wichtig, um es zu irritieren. Britische Geheimdienstleute preisen die Kooperation mit den pakistanischen Kollegen. Boris Johnson wollte bei seinem jüngsten Pakistan-Besuch nur über eines sprechen, einen Post-Brexit-Handels-Deal."

Donald Trump will von Politik nichts wissen, er will die Politik zerstören, meint der amerikanische Osteuropahistoriker Timothy Snyder im Interview mit der SZ. Und das ist aus Trumps Sicht auch sinnvoll. Wie sonst kann man am besten über die immer größer werdende Ungleichheit hinwegtäuschen: "Mit seiner Steuerreform wird er den Unterschied zwischen Arm und Reich noch vergrößern. Und nicht nur das: Die Reform wird die Krankenversicherung angreifen, und weil das Defizit steigt, werden die Republikaner irgendwann behaupten, auch andere Sozialversicherungen abschaffen zu müssen. Irgendwann werden wir einen Punkt erreichen, wo Demokratie tatsächlich keinen Sinn mehr ergibt. Für niemanden."
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Medien

Die ARD wirbt schon seit einigen Tagen viertelseitig in der FAZ, leider nicht im Perlentaucher, der die gute Nachricht doch auch gern weitertragen will: Die neuen Folgen von "Um Himmels willen" laufen an! Mit der 17. Staffel hebt sich die Serienproduktion des Senders endgültig auf internationales Niveau.

Stefan Winterbauer wirft für Meedia einen Blick in das "weltweit am besten finanzierte Journalismus-Crowdfunding-Projekt", das Magazin Republik.ch des Schweizer Journalisten Constantin Seibt. Mit der Qualität ist er zufrieden, die Leser müssen allerdings tief in die Tasche greifen: "Nunmehr gibt es neben dem doch recht teuren Jahresabo (240 Franken) auch die Möglichkeit, ein jederzeit kündbares Monatsabo (22 Franken) abzuschließen. Auf Wunsch bekommt man zudem eine Auswahl an Texten als Leseprobe gratis zugeschickt. Ansonsten setzt die Republik auf eine harte Paywall. Wer als Abonnent einen Text teilt, macht diesen dann aber öffentlich verfügbar."
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Stichwörter: Republik.ch, ARD, Paywalls

Kulturpolitik

2019 soll das Humboldt-Forum in Berlin schrittweise eröffnet werden. Doch wer wofür zuständig ist, bleibt auch nach der jüngsten Pressekonferenz nebulös, stellt unmutig Nicola Kuhn im Tagesspiegel fest. Auch, ob Ines de Castro  die Humboldt-Sammlungen leiten wird, ist noch nicht geklärt. "Wer macht was beim Humboldt-Forum? Wer hat welche Kompetenzen? ... Während das Personal bei der Stiftung Humboldt Forum enorm anwachsen wird - 350 Stellen sollen für Bildung, Projekte und Programmgestaltung besetzt werden- , fehlt es den Sammlungen an Kuratoren, um die zusätzlichen Aufgaben (Provenienzforschung!) zu leisten. Noch eine Frage: Was wird aus der Gründungsintendanz, wenn Neil McGregor nach der offiziellen Eröffnung gegangen ist? Wer bleibt vom ursprünglichen Trio mit Preußenstiftungs-Chef Hermann Parzinger und dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp? Die Pressekonferenz trägt nicht dazu bei, den Verdacht von Doppelstrukturen und unklarer Aufgabenverteilung beim Humboldt-Forum zu entkräften."

In der Berliner Zeitung wünscht sich auch Nikolaus Bernau, dass diese Fragen endlich geklärt werden, damit man über Inhalte reden kann.
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Wissenschaft

In der NZZ informiert uns die Biopsychologin Kate Jeffery, dass das menschliche Gedächtnis ein höchst unzuverlässiger Erinnerungsspeicher ist. Und nun noch das: Demnächst können Wissenschaftler die Erinnerungen einer Person an ihr Leben selektiv verändern. "Mithilfe der verblüffenden neuen molekulargenetischen Techniken, die in den letzten dreißig Jahren entwickelt worden sind, können wir erkennen, welche neuronale Untergruppe an der Codierung eines Ereignisses beteiligt war. Als Nächstes können wir einige dieser Neuronen in Experimenten reaktivieren, damit das Versuchstier sich (nach unserer Ansicht) an das jeweilige Ereignis erinnert. Wissenschaftlern ist es gelungen, Erinnerungen während dieser Reaktivierung zu beeinflussen, so dass am Ende etwas anderes als die ursprüngliche Erinnerung herauskommt."
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Gesellschaft

Bernard-Henri Lévy liest für seine Kolumne in La Règle du Jeu das Buch mit dem irgendwie bekannten Titel "J'accuse !" von Alexis Lacroix, das die Geschichte des französischen Antisemitismus, besonders auch des linken seit der Dreyfus-Affäre erzählt und berichtet von der Linke immer wieder überraschenden Erfahrung, "dass sich der alte Hass und der kriminelle Impuls, wenn sie sich mit Antikapitalismus, der Anklage der Hochfinanz oder heute dem Antizionismus verbinden, scheinbar in Vernunft auflösen und sogar in so etwas wie Gerechtigkeit... Der Antisemitismus ist niemals ein simpler Wahn. Er ist nie gewalttätiger als in den Momenten, wo er seine Aussagen in eine rationale Argumentationskette einbettet. Und darum - Lacroix' Beweisführung ist hier gnadenlos - ist er am wirksamsten, wenn er die längst dekontaminierten Gelände der christlichen oder rassistischen Judenfeindlichkeit verlässt und im Arsenal der gegenwärtigen wohlmeinenden Gefühle und Viktimologie fischt: das alte, zuerst von Edouard Drumont in 'La France juive' und von der heutigen Islamolinken reaktivierte Lied der Verteidigung der 'Demütigen', der 'Kleinen', der 'Opfer des Systems'. Eine Geschichtsstunde."
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Internet

Charlie Becket sucht in einem mit vielen Links belegten Artikel für ein Blog der London School of Economics nach Gründen für Mark Zuckerbergs Ankündigung, Medieninhalte auf Facebook zu degradieren: "Seine Nutzer 'sagen ihm' (das heißt einige von ihnen verbringen weniger Zeit auf FB), was unzählige Studien und Bücher auch schon gezeigt haben - Facebook kann dazu führen, dass man sich ziemlich mies fühlt. Nachrichteninhalte - meist 'bad news' - sind nicht geeignet, die Leute aufzubauen. Ärgerliche, aggressive, spalterische Kommenare, die Nachrichteninhalte oft begleiten, bringen keine good Vibes. Die Verbreitung von Fake News zeigt zwar, dass FB populär ist, aber sie trägt auch zum Gefühl bei, dass Facebook ein Ort ist, wo man dem Inhalt von Nachrichten nicht trauen kann. Selbst wenn sie glaubhaft sind, sollen sie oft beängstigen und Alarm auslösen. Nicht nett. Und Facebook will es nett."
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