9punkt - Die Debattenrundschau

Und sich dann flach machen wie im Rugby

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2015. Ganz Italien verlangt eine europäische Intervention in der Flüchtlingsfrage, schreibt Libération. Politico.eu analysiert die europäischen Divergenzen in der Frage: Britannien hat nur 200 syrische Flüchtlinge aufgenommen, Deutschland und Schweden Tausende, Ungarn schließt die Grenzen ganz. In der FAZ prangert Navid Kermani die westliche Mitschuld an. In The Walrus erklärt Atom Egoyan, warum die Traumatisierung durch den Völkermord an den Armeniern bis heute nicht überwunden ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.04.2015 finden Sie hier

Europa

Da unten im Bauch des Schiffes "saßen die Parias", schreibt die Journalistin Giorgia Mosaca von La Repubblica in Libération, "die Rechtlosen, die eine weniger hohe Summe für die Schiffsüberfahrt bezahlt hatten, weil sie arm waren... Vielleicht ist das Schweigen die einzig würdige Antwort, um der Opfer einer solchen Tragösdie zu gedenken: Es gibt keine treffenden Worte oder Argumente angesichts eines solchen Horrors. Die Gleichgültigkeit hat zu lange gedauert. Die italienische Politik, ganz Italien verlangt eine entscheidende Intervention von Seiten Europas, denn Italien kann diese schwere Verantwortung nicht alleine tragen. In der Tat sind in letzter Zeit kaum Schiffe mit Flüchtlingen ausgelaufen, auf denen es keine Toten gab."

Die italienische Autorin somalischer Herkunft Igiaba Scego erzählt in Libération, dass ihr Vater und seine Familie, als sie 1970 flohen, noch das Flugzeug nach Europa nehmen konnten, um Asyl zu beantragen: "Heute beschränkt sich die Reise für einen, der aus dem Süden der Welt kommt, auf eine gerade Linie. Eine Linie, die dich zwingt, immer vorwärts zu gehen. Man muss das Ziel erreichen, die Linie überschreiten und sich dann flach machen wie im Rugby. Es gibt keine Visa, keinen humanitären Korridor. Wenn es in deinem Land eine Diktatur oder Krieg gibt, ist es dein Problem."

Die beiden Europa-Politikerinnnen Sylvie Guillaume und Pervenche Berès rufen in der Huffpo.fr nach einer koordinierten und würdigen europäischen Flüchtlingspolitk. Und sie schreiben: "In manchen Hauptstädten bekennt man flüsternd, dass man die Diktaturen und die Gaddafis vermisst. Aber das Gegenteil ist richtig. Durch mangelnde Aufmerksamkeit konnte sich das Chaos hier und dort breitmachen, besonders durch den Vormarsch des Islamischen Staats, gegen den wir einen gnadenlosen Kampf führen müssen."

Navid Kermani prangert in der FAZ die westliche Mitschuld an der Flüchtlingskatastrophe an (er kritisiert, dass man Saddam Hussein gestützt habe, aber auch, dass man gegen Baschar al-Assad nicht eingeschritten sei). Aber er erkennt auch hoffnungsvolle Zeichen: "Wo immer ein Flüchtlingsheim errichtet wird, bildet sich sofort eine Bürgerinitiative nicht etwa gegen, sondern für die Flüchtlinge! (...) Richtig, die Ausländerfeinde haben an Zulauf und vor allem an Aufmerksamkeit gewonnen. Aber noch viel mehr sind diejenigen geworden, die nicht mehr ertragen, dass Tag für Tag Flüchtlinge ertrinken, verdursten oder verbluten, interniert, geschlagen oder beleidigt werden, nur weil sie von ihrem Menschenrecht auf ein würdiges Leben Gebrauch gemacht haben."

Bei Politico.eu analysiert Tara Palmeri die europäischen Divergenzen in der Flüchtlingspolitik, von Großbritannien, das für die die Abschaffung von "Mare nostrum" maßgeblich war, über indifferente Osteuropäer bis hin zu den südeuropäischen Ländern, die Hilfe einfordern. "Während einige nördliche Länder wie Deutschland und Schweden Tausende von Flüchtlingen aufgenommen haben, sind andere weniger erpicht darauf ihren Anteil zu tragen - wenn überhaupt. Britannien hat 200 syrische Flüchtlinge aufgenommen, und der ungarische Premier Viktor Orbán hat klargemacht, dass seine Grenzen geschlossen bleiben."

Öffnet die Grenzen, ruft Brendan O"Neil in Spiked Online: "Wir sollten diese Migranten weder dämonisieren noch bemitleiden. Wir sollen sie feiern dafür, dass sie in sehr schwierigen Umständen ihre Autonomie ausüben und sich bewusst für eine sehr riskante Reise nach Europa entscheiden. Sie wollen so verzweifelt auf diesen Kontinent kommen, dass sie bereit sind, Wüsten zu durchqueren und über Ozeane zu segeln, und wie zahlen wir ihnen ihren brennenden Wunsch, sich uns anzuschließen, heim? Indem wir sie kriminalisieren oder patronisieren, ihren Wunsch nach Mitbürgerschaft in einer neuen Welt ablehnen. Das reicht. Wir sollten sie nicht bemitleiden, sondern bewundern. Sie sind genau die Leute, die das träge Europa braucht... Öffnet die Grenzen und lasst sie ihr Glück in unseren Ländern suchen."
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Überwachung

Nach den Sonyleaks will die EU-Kommission investigativen Journalismus erschweren, schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt: "Diverse Staaten wollen nämlich dafür sorgen, dass ähnliche Enthüllungen kein zweites Mal geschehen können. So plant die EU-Kommission ein Anti-Whistleblower-Gesetz; im Europäischen Parlament wird es bereits diskutiert. Sämtliche "internen Dokumente" eines Unternehmens sollen in Zukunft unter speziellem Schutz stehen, denn sie seien "Firmeneigentum". Artikel drei der geplanten EU-Richtlinie besagt: "Die Veröffentlichung eines Unternehmensgeheimnisses ist dann ungesetzlich, wenn sie ohne Erlaubnis des Unternehmens und durch eine Person, die das Geheimnis illegal erwirbt oder durch eine Vertrauensvereinbarung gebunden ist, erfolgt.""

Schon Ende März hatte Otmar Lahodynsky in Profil zum Thema geschrieben: "Wie intensiv sich europäische Unternehmen für eine einheitliche Regelung einsetzten, belegt die Intensität der Lobby-Arbeit. Koordiniert von der PR-Agentur Hill & Knowlton, forderten multinationale Konzerne wie Alston, DuPont, General Electric, Michelin, Intel und Nestlé Beistand von Brüssel ein. Ziel: "Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung"." Mehr zum Thema auch bei Telepolis.
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Medien

In ihrer taz-Kolumne fragt Silke Burmester unter anderem, was Gruner und Jahr mit seinem Slogan "Große Kampagnen stehen im Stern" meint: "Möchte mir das jemand aus der Tatsachen-dreh-Abteilung bei Gruner erklären?"

In der NZZ huldigt Lennart Laberenz den Satire-Sendungen des ZDFs, die inzwischen mehr Informationen lieferten als die Nachrichtensendungen aller Öffentlich-Rechtlichen zusammen.
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Kulturmarkt

Arno Widmann war für die FR auf einer Tagung der Bahnhofsbuchhandlungen, die - abgesehen vom Bahnstreik - wieder etwas optimistischer in die Zukunft blicken: "Allerdings darf man nicht vergessen: Die Tagung war ein Treffen der Überlebenden. Der Konzentrationsprozess ist im Bahnhofsbuchhandel noch stärker als sonst in der Branche."
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Kulturpolitik

In der Berliner Zeitung erklärt Nikolaus Bernau die Hintergründe zum geplanten Neubau für die Kunst der Moderne in Berlin. Joachim Güntner rechnet angesichts der stockenden Planungen zum Humboldt-Forum durchaus am Ende mit einer gewissen Disparatheit, kann das aber gar nicht so schlimm finden. Thomas Steinfeld setzt sich in der SZ ausführlich mit Michael J. Gordins Geschichte des Englischen als Wissenschaftssprache auseinander.
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Geschichte

Der kanadische Filmemacher Atom Egoyan schreibt in The Walrus über den Völkermord an den Armeniern: "Man sagt, die Zeit heile alle Wunden. Aber ein Armenier weiß hundert Jahre nach dem ersten Genozid in der modernen Welt, dass eine solche Heilung unmöglich ist, wenn die Nachfahren der Täter deren Rolle bei der Verfolgung meiner Vorfahren leugnen."

Im Guardian fordert der armenisch-amerikanische Schriftsteller Peter Balakian von der Türkei, dem Leugnen des Völkermords ein Ende zu machen und die wahren Zusammenhänge anzuerkennen: "Die Anfänge des Mordens liegen im späten 19. Jahrhundert, als armenische Reformer begannen, gleiche Rechte für Christen und Juden im Osmanischen Reich einzufordern, in dem Nicht-Muslime auf den rechtlichen Status von Ungläubigen gestuft wurden. Meist friedliche Proteste führten zu horrenden Massakern an mehr als 100.000 armenischen Zivilsiten unter Sultan Abdul Hamid II. in den 1890er Jahren. Als die Türkei während der Balkan-Kriege von 1912 bis 1913 immer mehr Territorium verlor, geriet sie in Panik." In Tablet hatte Balakian bereits über Israels Rolle in der Diskussion geschrieben.

Die türkische Gesellschaft sei längst weiter als die Regierung von Tayyip Erdogan, meint Christiane Schötzer in der SZ und rät daher zu mäßigem Druck: "Deutsche haben damals im Osmanen-Reich, das vor einem Jahrhundert ein enger Bündnispartner war, zugeschaut, als Armenier in die syrische Wüste getrieben wurden. Deshalb sollten die Politiker in Berlin auch jetzt nicht schulmeisterlich auftreten. Die Wende des Bundestags ist richtig, sie hilft den Versöhnern in der Türkei."

Die Los Angeles Times meldet: "Das Weiße Haus hat entschieden, dass Präsident Obama nicht das Wort "Genozid" benutzen wird, um die Morde an über einer Million Armeniern zu beschreiben."

In der FR schreibt der Historiker Jürgen Müller zum ersten Einsatz moderner Chemiewaffen bei Ypern vor hundert Jahren im Ersten Weltkrieg: "Um 18.00 Uhr ließ die deutsche Armee aus mehreren tausend Stahlbehältern 150 Tonnen Chlorgas abblasen. Es entstand eine sechs Kilometer breite und 600 bis 900 Meter tiefe Gaswolke, die durch den nordöstlichen Wind auf die feindlichen Stellungen getrieben wurde. Das Chlorgas, das schwerer als Luft war, sank in die französischen Schützengräben, wo die ungeschützten Soldaten völlig überrascht waren."

In der taz erinnern Überlebende der Giftgaseinsätze in Irak und Syrien die Einsätze jüngeren Datums in Halabja und Damaskus.
Archiv: Geschichte