9punkt - Die Debattenrundschau

Woher sollte ich wissen, dass es diesmal anders läuft?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.11.2022. Radikaler Pazifismus macht erpressbar, ruft Eva Quistorp in der taz, in Erinnerung an die grüne Friedenspolitikerin Petra Kelly. Ein akzeptabler Frieden führt nur über den Sieg der Ukraine, betont auch Timothy Garton Ash im Guardian. Die NZZ erzählt, wie Italiens neue Kulturpolitiker - telegen und aufbrausend - die Kultur aufstören. In der taz spricht Whistleblowerin Chelsea Manning über ihre Haft. Und die FAZ fragt sich, warum all die Wissenschaftler, die so gern gegen Verdinglichung anschreiben, erst jetzt Twitter verlassen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.11.2022 finden Sie hier

Europa

Ob Petra Kelly, die Ikone der grünen Friedenspolitik, sich heute als Pazifistin positionieren würde? In einem liebevollen Brief an die einstige Freundin und Mitstreiterin bezweifelt Eva Quistorp das in der taz: "Du warst für die Abschaffung der Bundeswehr, kamst aus einer Familie, wo nicht ganz klar war, was dein leiblicher Vater im Krieg getan hat. Ich dagegen, die aus einer Widerstandsfamilie kam, war, was einige überraschen mag, gegen die Abschaffung. Ob du, wie ich, beim Bosnienkrieg auch für einen UNO- oder Nato-Einsatz eingetreten wärest, weiß ich nicht, du bist genau zur Zeit der Massenvergewaltigungen dort gestorben, aber ich vermute es. Auf jeden Fall jedoch hättest du die Forderung, die ich 1992 ins EU-Parlament einbrachte, verstanden: dass Vergewaltigung an Frauen im Krieg ein Kriegsverbrechen ist. Heute, wo Putins Mafia und Machtapparat einen brutalen Krieg gegen die Ukraine und gegen Europas Demokratien führt, Menschenrechte, Frauenrechte für ihn nicht zählen, ziviler Ungehorsam kriminalisiert wird, wette ich, du würdest es herausschreien, dass radikaler Pazifismus erpressbar macht."

Bereits vor einigen Tagen mahnte auch Timothy Garton Ash im Guardian, dass der einzig akzeptable Weg zum Frieden ein Sieg der Ukraine sei, mit einem Abkommen zu ihren Bedingungen: "Daher muss der russische Diktator entweder dazu gezwungen werden, dies zu akzeptieren, oder der Friedensvertrag muss mit einem Russland geschlossen werden, das nicht mehr von Putin regiert wird. Niemand weiß, wann und wie sich der Wandel in Moskau vollziehen wird, und dies kann auch mit wachsender Gefahr verbunden sein. Nichtsdestotrotz ist es die beste Chance, die wir haben, um nach einem langen Krieg endlich zu einem dauerhaften Frieden zu gelangen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Westen seine Unterstützung für die Ukraine verstärken, damit sie weiterhin militärisch siegen und einen harten Winter überstehen kann. Da Russland auf dem Schlachtfeld verliert, hat es sich auf feige und kriminelle Angriffe auf die zivile Infrastruktur verlegt."

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In der SZ betont Hubert Wetzel, dass nicht die EU-Kommission darüber entscheidet, ob Ungarn für Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit tatsächlich die Zuschüsse in Milliardenhöhe gestrichen werden, sondern die 26 Regierungschef. Das sollten sich vor allem Viktor Orbans Verbündete in Polen gut überlegen, meint er: "Die quengelnde, provinzielle EU-Feindlichkeit Polens und Ungarns beraubt sie in Brüssel ihres Einflusses. Warschau und Budapest haben zwar eine Blockademacht. Aber sie haben kaum Gestaltungsmacht - weil man ihnen misstraut, sie nicht ernst nimmt oder gar als 'Verräter' und 'Erpresser' abtut." Ob er für seine ständigen Regelbrüche bestraft werden soll, ist eine politische Entscheidung. Sie muss von diesen 26 Politikern getroffen werden, nicht von EU-Bürokraten."
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Kulturpolitik

In linken Künstlerkreisen mag die italienische Regierung unter Giorgia Meloni verhasst sein, aber nicht bei den Fürsten der Kulturinstitutionen, wie Luzi Bernet in der NZZ berichtet. Denn Kulturminister Gennaro Sangiuliano sei zwar kulturell etwas unbedarft aber nicht sein Staatssekretär Vittorio Sgarbi: "In der Schweiz ist Sgarbi kürzlich aufgefallen, weil er während Tagen in den Kanälen seiner sozialen Netzwerke die Tessiner Behörden beschimpfte. Er wurde gebüßt, weil er in seinem Dienstwagen unerlaubterweise mit Blaulicht auf der Autobahn zwischen Locarno und Chiasso unterwegs gewesen war. Solcherart präsentiert sich nun also die Spitze des italienischen Kulturministeriums: telegen und aufbrausend. Muss das schlecht sein für die Kultur? Eike Schmidt, der von Sangiuliano gemaßregelte Direktor der Uffizien, interpretiert die Ernennung so: 'Möglicherweise wollte Meloni erst einmal die Strukturen stören.' Es wäre dies für Schmidt gar nicht unerwünscht. Denn auch er tut sich, wie alle Gesprächspartner unisono, mit den eingefahrenen bürokratischen Strukturen des Kulturbetriebs schwer."
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Politik

Im taz-Interview zeigt sich die Whistleblowerin Chelsea Manning ziemlich aufgeräumt. Sie spricht über ihre Transition, ihren Optimismus und natürlich über ihre Verhaftung, nachdem sie amerikanische Kriegsverbrechen während des Irakkriegs bei Wikileaks offengelegt hatte: "Ich hatte keinen Zugang zu einem Anwalt. Ich wusste nicht, ob meine Familie oder irgendjemand sonst wusste, dass ich eingesperrt war. Damals dachte ich, sie könnten mich in ein Loch werfen, ohne jeden Prozess. Da ging es für mich nur ums Überleben. Die Strategie war: Wie komme ich durch die nächsten sechs Stunden? Wie komme ich bis zum Mittag? Zum Abendbrot? Ich brach das runter in kleine Einheiten... Mir war schon klar, dass ich Ärger bekommen würde. Es gab zwei große Fälle vor mir. Daniel Ellsberg, der die Pentagon-Papiere über den Vietnamkrieg veröffentlichte - er wurde verurteilt, aber er musste nicht ins Gefängnis, konnte Interviews geben und Reden halten. Und Thomas Drake, der das NSA-Überwachungsprogramm offenlegte - auch er musste nicht in Haft. So hatte ich das auch erwartet. Woher sollte ich wissen, dass es diesmal anders läuft?"
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Geschichte

Mit dem russischen Angriff hat in der Ukraine auch ein geschichtspolitisches Umdenken eingesetzt, bemerkt der Historiker Hubertus Knabe in der FAZ. Endlich, seufzt er, werden die sowjetischen Denkmäler abgerissen: "Dabei pflegte das Land lange Zeit einen weitgehend unkritischen Umgang mit der Vergangenheit. Während in anderen ehemaligen Ostblock-Staaten reihenweise kommunistische Straßennamen beseitigt wurden, ehrten in der Ukraine weiterhin Tausende Lenin-Straßen den Mann, der das Land der Sowjetunion einverleibt hatte. Im Unterschied zum Baltikum, wo schon bald nach der Unabhängigkeit nach ehemaligen KGB-Mitarbeitern gefahndet wurde und die ersten Okkupationsmuseen entstanden, spielte die Aufarbeitung der siebzigjährigen Sowjetdiktatur in der Ukraine kaum eine Rolle."
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Gesellschaft

In der aufgeheizten Debatte um den Klimaaktivismus wünschte sich Detlef Esslinger in der SZ, beide Seiten würden in sich gehen: "Wer die Motive der 'Letzten Generation' unbekümmert ignoriert und sie in die Nähe von Kriminellen und Terroristen rückt, soll sich nicht wundern, wenn einige Zaundurchschneider tatsächlich noch aufbrechen in diese Ecke. Aber wenn zugleich die 'Letzte Generation' bei Twitter abstimmen lässt, wo sie als Nächstes mit Farbe unterwegs sein soll, ist das wenigstens naiv: Man glaubt dort offenbar, all ihre Tomatenwerferinnen und Kleber seien gegen Radikalisierung immun; was am Donnerstag in Berlin geschah, war bereits mehr als ein Regelverstoß, eine Straftat nämlich. Der Zweck heiligt sämtliche Mittel - diese Devise hat noch nie zu etwas Gutem geführt."
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Medien

Auch etliche Wissenschaftler wenden sich jetzt von Twitter ab. Ziemlich spät, findet Thomas Thiel in der FAZ: "Twitter behält sich das Recht vor, persönliche Daten seiner Kunden an Dritte zu verkaufen, und macht sich damit attraktiv für Werber und Investoren. Seine Nutzer ruft es dazu auf, sich selbst zur Ware zu machen. Es ist erstaunlich, wie erfolgreich es damit bei Wissenschaftlern ist, die sonst alle möglichen Formen der Verdinglichung kritisieren. Und wer sich heute darüber wundert, dass angesehene Historiker allgemein bekannte Fakten grob ignorieren können, ohne dass es einen Aufschrei in der Wissenschaft gibt, sollte einmal Debattenverläufe auf Twitter verfolgen. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann hat es so resümiert: Die Netzwerke haben das Ad-hominem-Argument in der Wissenschaft salonfähig gemacht. Das galt einmal als Verdikt."
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