9punkt - Die Debattenrundschau

Die innere Sitzblockade

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2022. Michail Gorbatschow ist gestorben. Die Washington Post erinnert an Größe und Tragik des Politikers. Die taz erinnert an das Entschädigungsabkommen, das die Regierung Adenauer vor siebzig Jahren mit Israel schloss und erklärt, warum es keine "Wiedergutmachung" war. Hamburg feiert gerade zehn Jahre Staatsvertrag mit Islamverbänden - aber warum überhaupt Sonderrechte für Religionen, fragen Necla Kelek und Peter Mathews im Perlentaucher. Netzpolitik begutachtet die Digitalstrategie der Bundesregierung und fühlt sich an Angela Merkel erinnert. Aktualisierung: Christian Ströbele ist gestorben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.08.2022 finden Sie hier

Europa

Michail Gorbatschow ist gestorben. David E. Hoffman skizziert in der Washington Post sehr schön die Tragik und Größe dieses Politikers, auch vor der Folie der aktuellen Ereignisse: "Über viele Jahre hatte Gorbatschow die riesige Kluft erkannt, die sich zwischen der Realität des sowjetischen Alltags, der oft schäbig und ärmlich war, und den künstlichen Slogans der Partei und der Führung über eine strahlende Zukunft im Kommunismus auftat. Auch andere sahen diese Kluft und zuckten mit den Schultern, aber Gorbatschow unterschied sich dadurch, dass er darüber schockiert war. Als er sowjetischer Staatschef wurde, hatte er den Abgrund bereits ermessen, aber er wusste nicht, wie er die Probleme beheben konnte. Er hoffte, die Entfesselung der Kräfte der Offenheit und des politischen Pluralismus würde die Übel heilen. Sie konnten es nicht." Einen sehr persönlichen Nachruf schreibt der BBC-Korrespondent Steve Rosenberg. Das exilrussische Onlinemagazin meduza.io veröffentlicht einige zum Teil recht unbekannte Fotos aus dem Leben Gorbatschows.

Die baltischen Staaten haben keine so positive Erinnerung an Gorbatschow, daran erinnert unter anderem der ehemalige schwedische Premierminister Carl Bildt auf Twitter:


Christian Ströbele, RAF-Verteidiger, Ur-Grüner und Mitbegründer der taz ist gestorben. Co-Veteran Michael Sontheimer schreibt bei taz-online einen ersten Nachruf: "Die meisten in der taz waren zu dieser Zeit in der Mitte ihrer Zwanzigerjahre, Christian, wie wir ihn nannten, war rund 15 Jahre älter, eine Vaterfigur, zugleich Primus inter pares."
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Medien

Der RBB sucht einen Übergangsintendanten, aber die Suche gestaltet sich nicht ganz einfach, schreibt Michael Hanfeld in der FAZ: "Widersprüchlich sind bis zuletzt die Anforderungen, die mit der Personalie verbunden werden. Ein Ostdeutscher solle es sein, heißt es. Jemand mit RBB-Erfahrung oder jemand, der für die Vorgängersender ORB und SFB wirkte. Auf gar keinen Fall ein Kandidat mit RBB-Hintergrund, heißt es von anderer Seite, wohl aber aus der ARD."
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Stichwörter: RBB, ARD

Ideen

Die Erinnerungsexpertin Charlotte Wiedemann, Autorin des Buchs "Den Schmerz der Anderen begreifen", warnt in ihrer taz-Kolumne vor der Verwendung des Wortes "Vernichtungskrieg" mit Blick auf den russischen Krieg gegen die Ukraine. Mit solchen Begriffen bagatellisiere man entweder die Gegenwart oder die Vergangenheit: "Im Verhältnis zu Israel vermag Deutschland bisher keine sinnvolle Antwort auf diese Fragen zu geben. Schuldgefühle begründen ein Loyalitätsverhältnis, das wenig geeignet ist, Menschenrechtsvergehen realistisch wahrzunehmen und darauf differenziert zu reagieren. Das Verhältnis zum Ukrainekrieg scheint zunächst von ganz anderer Natur, doch zeigen sich verwandte Muster - wenn etwa Versuche, sich dem Krieg analytisch zu nähern, sogleich als Verharmlosung Putins geschmäht werden."

Klimaaktivisten beschränken sich dieser Tage darauf, Dystopien zu prophezeihen und sich mal hier oder da mit melodramatischem Gesichtsausdruck festzukleben. Das führt in die Sackgasse, diagnostiziert Philipp Bovermann in der SZ. "Wer nur Dystopien, aber keine Utopien anzubieten hat, überlässt anderen die Initiative und beschränkt sich aufs Verhindern. Man geht in die innere Sitzblockade. Die findet in den allermeisten Fällen aber nicht auf den Gleisen einer Kohletransport-Trasse statt, sondern in einem beheizten Wohnzimmer, auf dem eigenen, dicker werdenden Hintern." Man könnte ja auch mal die "Wege in eine bessere Zukunft" feiern, die es schon gibt. "Auch das Gute wächst ja, langsam und mit Rückschlägen, aber stetig. Grüne Technologien werden immer günstiger. Das Versprechen ist einfach zu gut: kostenlose Energie, die buchstäblich vom Himmel fällt."
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Geschichte

Sonja Smolenski erinnert an die Entschädigungszahlungen, die die Adenauer-Regierung vor siebzig Jahren, bloß sieben Jahre nach dem Krieg, mit Vertretern Israels und der Jewish Claims Conference vereinbart hat - 3,5 Milliarden Mark. Das Abkommen war in Israel umstritten: "Auch der Begriff 'Wiedergutmachungsabkommen', mit dem die deutsche Regierung einen Euphemismus für die Entschädigungszahlungen schaffte, wurde von jüdischer Seite abgelehnt und scharf kritisiert. Trotz Protesten von Betroffenenorganisationen bezeichnet die Bundesregierung die Entschädigungszahlungen bis heute als 'Wiedergutmachung'. Der heutige Repräsentant der Jewish Claims Conference, Rüdiger Mahlo, sagt dazu: 'Die Shoah-Überlebenden haben den Begriff immer abgelehnt und akzeptieren ihn bis heute nicht. Die systematische Entrechtung und Verfolgung, das Leid, die barbarische Zerstörung des jüdischen Lebens in Europa, die Ermordung ganzer Familien, der Raub des Eigentums, das Leben von ermordeten Eltern, Großeltern, Kindern kann nicht wieder repariert, kann nicht 'wieder gut' gemacht werden.'"

Immer noch ist die Frage offen, ob Angehörige der Opferfamilien bei den Gedenkfeiern zum Olympia-Attentat 1972 dabei sein werden. Sie sind unzufrieden mit den bisherigen Entschädigungsleistungen, aber vor allem auch mit der Aufarbeitung des Attentats und den Informationenen, die sie erhalten haben. Im Hintergrund laufen intensive Verhandlungen, schreiben Eckart Lohse und Jochen Stahnke in der FAZ. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Die Sprecherin der Opfer, Ankie Spitzer, "ist die Witwe des israelischen Fechters Andre Spitzer. Die gebürtige Holländerin hatte ihn einst beim Training in Den Haag kennengelernt. Immer wieder hat sie betont, es gehe nicht nur um Entschädigungsgeld. Vor den Olympischen Spielen hatte es Warnungen über Terroranschläge aus der deutschen Botschaft in Beirut und auch aus den Landesbehörden gegeben. Doch änderte das am laxen Sicherheitskonzept der bayerischen Sicherheitsbehörden nichts. Die bayerische Polizei war weitgehend unbewaffnet, das olympische Dorf kaum gesichert."
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Religion

Hamburg feierte gerade zehn Jahre Staatsvertrag mit Islamverbänden wie Ditib, eine echte Evaluierung des Vertrags findet nicht statt. Aber Necla Kelek und Peter Mathews berichten im Perlentaucher von einer Wohlfühlveranstaltung, die der Senat mit Vertretern der Verbände, die zum Teil ausländischen Staaten gehorchen, abgehalten hat. Ihr Resümee: "Der Hamburger Weg ist für die Stadt wie für alle säkularen und demokratischen Hamburgerinnen und Hamburger muslimischen Glaubens oder Herkunft, eine Sackgasse, die vor einer Moschee endet. Richtig wäre, die Sinnhaftigkeit von Staatsverträgen mit Religionsgemeinschaften grundsätzlich zu überprüfen. Unsere Gesellschaft ist zunehmend nicht religiös orientiert, warum dann Sonderrechte, die über den reinen Schutz der Religionsübung hinausgehen?"
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Gesellschaft

Die Epoche bürgerlicher Empfindsamkeit erlebt gerade ein Comeback, seufzt Ronald Pohl im Standard mit Blick auf die höchst empfindsamen woken Mitbürger: "Das Comeback der Zimperlichkeit ist auch ein Produkt der identitätspolitischen Neuausrichtung möglichst aller Gedanken, Worte und Werke. Die zahlreichen Härten, die der neoliberale Spätkapitalismus seinen Teilhabern zumutet, werden dadurch zur Privatsache erklärt. Nicht, dass die Ungerechtigkeit der gesellschaftlich wirksam werdenden Zwänge an Unzählige weitergereicht wird, bereitet der schönen Mittelstandsseele Sorge. Schwerer wiegt für sie die Befürchtung, durch die Überbringung schlechter Nachrichten schockiert zu werden."
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Stichwörter: Wokeismus, Wokeness, Woke

Politik

Wir sollten aufhören, die Länder Afrikas mit unseren Entwicklungshilfegeldern zu korrumpieren, fordert in der NZZ Kurt Gerhardt. "Der enorme Ressourcenreichtum Afrikas ist weitgehend versickert, am sichtbarsten in den Taschen der politischen Klasse, die sich seit Jahrzehnten ungeniert an den Erlösen aus den Verkäufen der Bodenschätze bedient. Die Tochter des früheren angolanischen Präsidenten Dos Santos gilt als Dollarmilliardärin. Die ugandischen Parlamentsabgeordneten genehmigten sich vor kurzem dreißig Millionen Dollar für neue Autos. Der Vizepräsident Äquatorialguineas erwarb für sein Privatvergnügen eine Hochseejacht für 120 Millionen Dollar. Solche Schurkenstücke gibt es en masse. In den 'Panama Papers' und 'Pandora Papers' kann man darüber lesen."
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Stichwörter: Afrika, Korruption, Bodenschätze

Internet

Markus Beckedahl blickt für netzpolitik auf die neue Digitalstrategie der Bundesregierung und seufzt: Das hätte doch alles schon vor Jahren fertig sein können. "In jedem Abschnitt stehen Ziele, an denen sich die Regierung messen lassen will. Das liest man durchgängig im Text. Trotzdem erinnern mich alle Ziele immer an das Versprechen von Angela Merkel, dass alle Haushalte 2018 doch 50 Mbit/s haben sollten oder an das Versprechen des früheren Kanzleramtschef Peter Altmaier, dass die Verwaltung bis 2021 komplett digital sei. Klare Ziele, gut überprüfbar. An allen gescheitert. Das war schon früher Science Fiction und ist es leider heute noch. Die üblichen Durchhalteparolen sind natürlich auch dabei. Immerhin kennen viele Bürger:innen eGovernment, allerdings aus dem Weltspiegel im linearen Fernsehen, weil sie nicht mal Breitbandinternet zuhause auf dem Land haben."
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