Efeu - Die Kulturrundschau

Wie da zwei Lager aufeinandertrafen

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31.08.2022. Morgen beginnen die Filmfestspiele in Venedig, mit starker Präsenz von Netflix. Das bedeutet nicht den Untergang des Kinos, versichert der Freitag. Es verweist eher auf eine Krise des Streamers, vermuten FR und Standard. Auf ZeitOnline untersucht Georg Seeßlen  das Genre der manieristischen Fantasy. In der FAZ konstatieren Julia Alfandari und Meron Mendel ein Scheitern der Debatte um die Documenta. Die Welt geht im Musée de Cluny vor der Dame mit dem Einhorn auf die Knie. Die SZ bedauert den nicht ganz freiwilligen Abschied von Virve Sutinen als Leiterin des Festivals Tanz im August.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.08.2022 finden Sie hier

Film

"Weißes Rauschen" in Venedig


Morgen beginnen die Filmfestspiele in Venedig. Anders als Cannes umarmt das Festival die Streamer regelrecht: Der Eröffnungsfilm, Noah Baumbachs Don-DeLillo-Verfilmung "Weißes Rauschen" mit Adam Driver und Greta Gerwig, ist eine Netflix-Produktion - der Anbieter hat gleich vier Filme im Rennen, schreibt Thomas Abeltshauser im Freitag: "So stark wie nun aber waren die Onliner noch auf keinem großen Festival vertreten und bedenklich ist es immer, wenn ein Anbieter derart dominant auftritt, egal ob klassisches Studio, Streamingdienst oder Weltvertrieb. Auch darauf wird zu achten sein. Aber der Untergang des Kinos ist es nicht." Die Festival- und Arthouse-Offensive des Streamers könnte auch mit der handfesten Krise zu tun haben, in der sich Netflix derzeit befindet, mutmaßt Dominik Kamalzadeh im Standard: "Dass man nun den Lido engagiert als Startrampe nutzt, zeigt, wie sehr man die PR im Qualitätssektor brauchen kann. ... Je energischer der Kampf im Streamingbereich geführt wird, desto stärker scheint die Rückbesinnung auf große Titel. Nicht nur die Kinos leiden darunter, dass immer mehr Anbieter um die Aufmerksamkeit des Publikums kämpfen. Auch bei den Studios scheint wieder stärker Fokussierung gefragt." Dass der Streamer um Renommee kämpft, ist auch Daniel Kothenschultes Fazit in der FR. Tim Caspar Boehme informiert uns in der taz derweil vor allem über die Tücken des Ticketbuchungssystem des Festivals.

Außerdem: Für die Welt sichtet Elmar Krekeler Sitcoms, die sich mit der Generation um die 30 beschäftigen und gelangt dabei zu dem Fazit: "Alles nicht so schlimm. Die Dreißiger werden durchkommen". In der taz plaudern Patrick Lohmeier und Daniel Gramsch über ihren Bahnhofskino-Podcast, in dem die beiden seit nunmehr zehn Jahren Randständiges, Blutiges und moralisch Verkommenes aus der Filmgeschichte besprechen.

Besprochen werden Laurent Larivières "Die Zeit, die wir teilen" mit Isabelle Huppert und Lars Eidinger (Tsp), George Millers "Three Years of Longing" mit Idris Elba und Tilda Swinton (Tsp, ZeitOnline), Doris Dörries "Freibad" (SZ, FAS, Welt) und die Serie "Uncoupled" mit Neil Patrick Harris (NZZ).
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Literatur

Zwei Bewohner des "House of the Dragon"


Georg Seeßlen nimmt in einem ZeitOnline-Essay die Fantasy-Blockbuster-TV-Serien "Ringe der Macht" (aus dem Tolkien-Universum) und "House of the Dragon" (aus dem "Game of Thrones"-Universum) zum Anlass, um über die Geschichte der (vor allem literarischen) Fantasy nachzudenken. Einst stilbildend war die traditionalistische Fantasy, in der es vor lauter Moderneflucht "wagnert" und am Ende immer eine große Schlacht steht. "Psychosozial ist das natürlich völlig in Ordnung, wäre da nur nicht die Gefahr, mittendrin stecken zu bleiben. Die Dämonen müssen immer wieder bezwungen werden, wenn es nicht gelingt, sie zu demaskieren. Das ist der Punkt, an dem die manieristische Fantasy einsetzt. Das Übernatürliche in ihr ist nichts als technisch-soziale Ausstaffierung: die Drachen, zuerst in 'Game of Thrones' und nun noch mehr in 'House of the Dragon', sind Statussymbol, Verkehrsmittel und Waffe. Natürlich haben sie ihre Tücken, aber die spiegeln vor allem die Tücken der Menschen, die sie benutzen. In der manieristischen Fantasy werden nicht so sehr Menschen in einer Vormoderne gezeigt, die ihr Paradies gegen Eindringlinge oder Versuchungen schützen müssen, sondern Geburtswehen der Moderne" und ihrer Intrigen. "Die Figuren in 'House of Cards' oder 'Mad Men' sind auch nicht weniger verrückt, skrupellos, besessen und mörderisch. Andererseits gibt es keine Alternative zum Weltenbau: Weder das heroische Opfer noch die spirituelle Sublimation können Erlösung bringen. An die Stelle einer Hoffnung auf den letzten, reinigenden Sieg der Guten über die Bösen tritt die Gegenwärtigkeit einer unabwendbaren Katastrophe."

Außerdem: In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem Hertha Paulis "Der Riss der Zeit geht durch mein Herz" (NZZ), Rachel Cusks Essayband "Coventry" (SZ), Jens Liljestrands "Der Anfang von morgen" (taz), Roya Sorayas feministische Comicinterpretation von Goethes "Faust" (Tsp), Helena Adlers "Fretten" (ZeitOnline), Dorothy B. Hughes' Krimi "Ein einsamer Ort" (FR), Helmut Kraussers "Wann das mit Jeanne begann" (Standard), eine Neuausgabe von R.B. Bardiś "Der Kaiser / die Weisen und der Tod" (SZ), Sarah M. Brooms "Das gelbe Haus. Leben und Überleben einer Familie in New Orleans" (Tsp), Goliarda Sapienzas "Die Kunst der Freude" (SZ) und die das Werk abschließende Ausgabe von Uwe Dicks "Sauwaldprosa" (FAZ).
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Kunst

In der SZ porträtiert Martina Scherf die kubanische Künstlerin Tania Bruguera, die auf der Documenta mit dem Kollektiv Instar vertreten ist: "Sie will die 100 Tage in Kassel nutzen, so viele kubanische Kollegen wie möglich nach Deutschland zu bringen. Sie will, dass sie gehört, gesehen werden. Bevor die Welt Kuba wieder vergisst. Vier Räume bespielt Instar in der Halle. Instar steht für Instituto de Artivismo Hannah Arendt. Bruguera hat es 2015 in Havanna gegründet, da stand sie wieder einmal unter Hausarrest. Artivismo ist eine Wortschöpfung aus Kunst und Aktivismus. 'In einer Diktatur kann es keine unpolitische Kunst geben', sagt Bruguera. Die Isolation im Hausarrest nutzte sie damals, um 100 Stunden lang aus ihrem Wohnzimmer in Havanna Hannah Arendts Buch 'Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft' vorzulesen. Mit Lautsprecher nach draußen übertragen. Die Behörden reagierten mit einer Baubrigade und Presslufthämmern vor ihrem Haus."

Im Interview mit der FAZ berichten Julia Alfandari und Meron Mendel von Befragungen unter Documenta-Besuchern und müssen feststellen, dass etliche Besucher hanebüchenen Theorien anhingen, als wäre alles eine Inszenierung des Mossad gewesen. Da kann Mendel nur Scheitern festellen: "Wir halten diese Documenta für exemplarisch, gerade auch im Scheitern der Diskussion. Das wollen wir untersuchen. Wie da zwei Lager aufeinandertrafen und sich gegenseitig hochschaukelten. Das erste meldete sich bereits im Vorfeld zu Wort und warnte - wie man heute weiß, berechtigterweise - vor möglichem Antisemitismus in Kassel. Zugleich war da auch viel Pauschalisierung im Spiel, denn es war die Prämisse, dass bei Künstlern aus dem globalen Süden davon auszugehen sei, sie seien Antisemiten. Das andere Lager arbeitete ebenso mit Pauschalisierung insofern, als der Antisemitismus für sie nur einen Vorwand darstellte, um gegen die Documenta 15 vorzugehen. Während also die eine Seite jegliches Anzeichen von Antisemitismus in Kassel pauschal leugnete, sah die andere die ganze Zeit überall nur Antisemitismus."

Grazie, Sanftheit, Zugewandtheit: Die Dame mit dem Einhorn.

Welt
-Kritiker Tilman Krause versinkt in der Schönheit des sanierten Pariser Musée de Cluny, dem prächtigen Pariser "Schatzhaus des Mittelalters", in dem er bewundern kann, wie Frankreich um 1500 Italien als "ästhetische Supermacht" in Europa ablöste. Über den Wandteppich "Die Dame mit dem Einhorn" schwärmt er hingebungsvoll, wenn etwas aus der Zeit gefallen: "Über das spätere Leben seiner weiblichen Protagonistin legt der nach wie vor unbekannte Schöpfer dieser Tapisserien aus der Zeit um 1500 einen diskreten Schleier. Nur eines überlässt er keinem Zweifel: Grazie, Sanftheit, Zugewandtheit seiner so liebevoll gestalteten Dame mit dem Einhorn stellen eine einzige Apotheose der Feminität dar - gemäß den damaligen Vorstellungen von Weiblichkeit, wie sich versteht. Das war wohl dergestalt nur um 1500 möglich: als sich Frauenverehrung von Marien und Märtyrinnen löste, um ins Weltliche hinüberzuwechseln. Und das Weltliche in einem zum Humanismus erwachenden neuen Zeitalter: dies ist es, was den unendlichen Charme des Musée de Cluny ausmacht."

Weiteres: In der NZZ berichtet Thomas Ribi, dass die Stadt Zürich die Provenienz der Sammlung Bührle jetzt unabhängig überprüfen lassen wird. Besprochen werden die Ausstellung "Dissonance. Platform Germany" im Berliner Bethanien (die FR-Kritikerin Ingeborg Ruthe einen großartigen Überblick über aktuelle Positionen in der Malerei gibt) und eine Ausstellung zur Kunst des Flechtens im Berliner Museum Europäischer Kulturen (Tsp).
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Bühne

Bruno Beltrão / Grupo de Rua: "New Creation". Foto: Tanz im August

In der SZ bedauert Dorion Weickmann den offenbar nicht ganz freiwilligen Abgang von Kuratorin Virve Sutinen, die bei ihrer letzten Ausgabe vom Tanz im August noch einmal in ihrer ganzen Lässigkeit brillierte: "Annemie Vanackere, Leiterin des Theaterkombinats Hebbel am Ufer, das als Gastgeber und Produzent des Festivals firmiert, hat ihren hauseigenen Tanzkurator Ricardo Carmona zum Nachfolger bestellt. Er tritt kein leichtes Erbe an. Seine Vorgängerin hat ein paar Pflöcke eingeschlagen, die dem Festival zwar nicht den Glanz seiner Anfangsjahre in den Achtzigern zurückbrachten, aber Alleinstellungsmerkmale bescherten. Zum Beispiel die ausschließlich mit Tanzmacherinnen bestückten Retrospektiven: Ob Rosemary Butcher, La Ribot oder zuletzt Cristina Caprioli - immer gab es Originäres und Originelles zu entdecken. Zudem kannte Sutinens Tanzverständnis keine Scheuklappen: Sie stellte Formate aus aller Welt und allen Genres zur Diskussion und riskierte durchaus auch Reinfälle."

Besprochen wird Dušan David Pařízeks Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" am Theater Bremen (taz).
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Musik

Die mittlerweile in einen Hausarrest umgewandelte Verhaftung des türkischen Popstars Gülşen wegen eines harmlosen Witzes (mehr dazu hier) missbraucht den Artikel 216, der ursprünglich einmal zum Schutz von Minderheiten vorgesehen war, erklärt Gürsoy Doğtaş im Freitag. Dass es in der Sache um schlichte Repressalien in einem Kulturkampf geht, daran hegt auch er keinen Zweifel. "Mit ihrer Verhaftung reiht sich Gülşen in eine Musikgeschichte der Türkei ein, die sich vornehmlich über Gefängnisse erzählen lässt. Zahlreiche berühmte Sänger*innen des Landes von Bülent Ersoy bis Ahmet Kaya saßen schon mal ein. Die Regierungspartei AKP und ihre rechtsextreme, ultranationalistische Koalitionspartnerin, die 'Partei der Nationalistischen Bewegung' (MHP), machen aus Sänger*innen Feinde der Nation, die weder während ihrer Haft noch nach der Haft geschont werden."

Außerdem: Patrick Erb schreibt in der NMZ einen Nachruf auf den Komponisten Alfred Koerppen. Wolfgang Sandner gratuliert in der FAZ der Viola-Spielerin Kim Kashkashian zum 70. Geburtstag.

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