9punkt - Die Debattenrundschau

Materialisierte Momentaufnahmen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.01.2022. Es gibt drei Akteure in der im Moment erstickten belarussischen Revolution, den Staat, die Gesellschaft und den Kreml, sagt Artur Klinau bei geschichtedergegenwart.ch. Die NZZ fürchtet eine Demoralisierung Italiens durch Silvio Berlusconi, der sich gerne als Staatspräsident ein letztes Mal recyceln würde. SZ und Zeit online schildern die Radikalisierung der Impfgegner und fordern einen deutlichen Protest der Mehrheit. In der FAZ verteidigt Brigitta Hauser-Schäublin die Institution ethnologisches Museum. Der Standard sieht einen fossilen Faschismus der Europäer heraufziehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.01.2022 finden Sie hier

Europa

Es gibt drei Akteure in der belarussischen Revolution, die jetzt von der Konterrevolution vorerst gestoppt wurde, sagt der belarussische Autor Artur Klinau im Gespräch mit Iryna Herasimovich bei geschichtedergegenwart.ch, nämlich die Macht, die Gesellschaft und den Kreml, der im Moment der lachende Dritte sei. "Die Macht ist in die Hysterie verfallen, ist gar nicht imstande, den Schock von den Protesten zu verarbeiten. Die Gesellschaft ist in einer Depression, ist schwer traumatisiert. Eine Sackgasse: Keine der beiden Seiten hat gesiegt, keine hat genug Kraft, um zu siegen. Die belarussische Gesellschaft zu besiegen, ist unmöglich, weil der Wandel von einer absoluten Mehrheit, mindestens von zwei Dritteln unterstützt wird. Man kann die Stimme dieser Mehrheit unterdrücken, aber sie aus der Welt zu schaffen, das geht nicht. Diese friedliche Mehrheit hat aber auch keine Mittel, wie sie gegen die brutale Macht vorgehen könnte." Klinau hat gerade bei Suhrkamp das Buch "Acht Tage Revolution " veröffentlicht.

In Italien gilt Silvio Berlusconi trotz aller Skandale als ernstzunehmender Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten. In der NZZ hofft Maurizio Ferraris, dass es dazu nicht kommt. Nicht, weil Berlusconi schlimmer wäre als gewisse Politiker in anderen Ländern, wie er ausführlich darlegt. "Das Problem wäre vielmehr die Demoralisierung, die sich unter den verantwortungsbewussten, kultivierten, engagierten und intelligenten Italienern ausbreiten würde, die zwar unter meinen Landsleuten eine Minderheit, jedoch eine wichtige darstellen. Ebenso wie die Amerikaner, Schweizer, Deutschen oder Franzosen mit ähnlichen Eigenschaften in ihren Ländern vermutlich in der Minderheit sind. Aber auf diese bedeutende Minderheit muss man zählen und hoffen (wozu es gute Gründe gibt), sie möge weiter wachsen, bis sie dereinst, vielleicht in einer fernen Zukunft, die aber gewiss kommen wird, weil die Menschheit Fortschritte macht, eine Mehrheit bildet."
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Politik

Der Kasachische Präsident Tokajew hat seine Macht durch die Niederschlagung der Aufstände gesichert, sagt der in Moskau arbeitende Experte Temur Umarow im Gespräch mit Inna Hartwich von der taz. Dabei habe er sein Land "tatsächlich noch abhängiger von Russland gemacht. Er tut gerade viel dafür, um das Narrativ, dass Kasachstan von 'Banden von außen' angegriffen worden sei, in der Gesellschaft zu etablieren. Und gegen internationalen Terrorismus komme Kasachstan allein nicht an, lautet seine Lesart. Tokajew hatte offenbar wirklich Angst, dass die Sicherheitsleute nicht hinter ihm stehen könnten, dass es zu Ende gehen könnte mit ihm. Indem er russische Hilfe angefordert hat, zeigte er auch nach innen, dass er nicht machtlos ist." Die russischen Truppen ziehen unterdessen aus Kasachstan ab, meldet Barbara Oertel in einem zweiten Artikel. Zehntausend Menschen sind in Kasachstan festgenommen worden, es gibt Gerüchte über Folterungen, schreiben Othmara Glas und Friedrich Schmidt in der FAZ.

Der Raum für Interpretationen ist immer noch ungefähr so weit wie die kasachische Steppe. Kerstin Holm liest ebenfalls für die FAZ einige Kommentare russischer und ukrainischer Kollegen. "Der Moskauer Reporter Marat Berjosow sieht Tokajew in der Rolle eines Platzhalters wie einst Medwedjew für Putin, der aber seinen Mentor Nasarbajew real entmachten konnte. Tokajew, der als Reformer angetreten war und den gegen den Gaspreisanstieg Protestierenden zunächst entgegenkam, ist nun aber Putins Schuldner. Er wurde zum unpopulären Diktator, der sich nur durch fremde Bajonette hält, ähnlich wie Lukaschenko in Belarus, erklärt auf Facebook der Publizist Roman Popkow."
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Stichwörter: Kasachstan, Belarus

Ideen

Die Europäer haben nicht nur als Kolonialisten die Erde verwüstet, sondern auch als umweltverschmutzende Kapitalisten, die für den Klimawandel verantwortlich sind, lernt Bert Rebhandl unter anderem aus dem Buch "A Billion Black Anthropocenes or None" von Kathryn Yusoff, "einer Professorin für 'inhumane Geografie' in London", das er für den Standard gelesen hat: "Ihre These lautet zugespitzt: In der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch die reichen Länder waren nicht nur die Rohstoffe 'schwarz' wie das Öl, auch große Teile der Menschheit wurden darin rassistisch zu schwarzer Materie abgewertet, zu einem inhumanen Gut. ... Die europäischen Ideale, mit denen ja auch häufig eine wertegeleitete Außenpolitik begründet wird, stehen nun aber doppelt infrage: durch die Kolonialverbrechen der Neuzeit, die jeden moralischen Anspruch diskreditiert haben, und durch geokoloniale Praktiken, die aus dem Emissionseintrag des Westens eine Art zweiter Versklavung des Südens werden lässt. Kein Wunder, dass es vor diesem Hintergrund inzwischen auch Befürchtungen gibt, die menschliche Zivilisation würde angesichts der klimapolitischen Herausforderungen zu keinem Übereinkommen finden. Stattdessen könnte sich ein 'fossiler Faschismus' entwickeln, eine weiße Reaktion auf den drohenden Verlust von Klimaprivilegien."

In der NZZ überlegt der Jurist Filippo Contarini angesichts der Coronamaßnahmen, ob Freiheit in der Risikogesellschaft, die das Kollektiv nicht mehr erkennt, möglich bleibt. "Vereinfacht gesagt, geht es bei den kollektiven Interessen im Gesundheitssystem heute um die synchrone Sicherheit der Teilnehmenden, als Individuen im Notfall in einem Spital untergebracht und gepflegt zu werden. So unangenehm es tönen kann, gilt daher Freiheit in der Risikogesellschaft nicht mehr als Recht, selbstbestimmt das eigene Leben zu führen, sondern als Sicherheit, im Fall eines Risikoeintritts von einer Rettungsinstitution Hilfe zu empfangen. Die Grundrechte dienen denn auch nicht mehr primär dazu, die Bürger vor übermäßigen staatlichen Angriffen zu schützen, sondern sie sorgen im Gegenteil dafür, dass der Staat weiterhin versprechen kann, dass er versuchen wird, seine Bürger zu retten. Es stellt sich die Frage, ob unser Recht langfristig auch weiterhin in der Lage sein wird, uns vor eventuellen Exzessen staatlicher Eingriffe zu schützen."
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Gesellschaft

Was wollen die Impfgegner überhaupt? Gegen die Wehrpflicht, die im Falle eines Krieges durchaus wieder eingeführt werden könnte, ist die Impfpflicht doch ein Klacks, und auch gegen die Schulpflicht, schreibt Reinhard Müller in der FAZ: "Die Impfpflicht ist ein weithin anerkanntes Instrument, das zum Arsenal auch des Rechtsstaates gehört. Zwar kann schon die Vorstellung, sich etwas spritzen zu lassen, Unwohlsein hervorrufen - ein Unwohlsein, das beim Konsum sonstiger Arzneimittel oder zweifelhafter Nahrung nicht so ausgeprägt ist. Das betroffene Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit steht aber keineswegs per se über anderen Werten von Verfassungsrang; ja, es ist im Prinzip relativ leicht einschränkbar."

Peter Fahrenholz hat mit Emmanuel Macron die Nase voll von Forderungen, Verständnis für durchgeknallte Impfgegner aufzubringen: "Was passiert eigentlich, wenn die Mehrheit den Kurs im Kampf gegen die Pandemie nicht mehr mitträgt, weil sie es satt hat, dass alle Anstrengungen von einer Minderheit immer wieder torpediert werden?", fragt er in der SZ. "Wenn sich Minderheiten immer radikaler gebärden, darf die Mehrheit nicht einfach schweigen, sondern muss auch mal zeigen, dass sie die Mehrheit ist. Wo sind die Parteien, wo sind die Gewerkschaften, wo sind die Kirchen, wo sind die kommunalen Autoritäten aus Politik und Gesellschaft? Als vor 30 Jahren die Flüchtlingsheime brannten und fremdenfeindliche Parolen immer lauter wurden, hat es in München eine Lichterkette mit 400 000 Teilnehmern gegeben, ähnliche Veranstaltungen in anderen Städten folgten. Natürlich lösen solche Symbole die Probleme nicht. Aber sie setzen ein unübersehbares Zeichen."

Wie weit die Radikalisierung und Abspaltung radikaler Impfgegner inzwischen gehen kann, zeigt dieser Artikel von Tom Sundermann auf Zeit online: In Sachsen soll einigen von ihnen mit Hilfe eines amerikanischen Neonazis Mordpläne gegen Landeschef Kretschmer geschmiedet haben. Sie waren Teil einer Telegram-Gruppe namens Dresden Offlinevernetzung. "Demnach half der amerikanische Neonazi John de Nugent, den Kreis der Gleichgesinnten zu vergrößern. Der 67-Jährige, der sich auf seiner Website als 'Aktivist für die weiße Rasse' beschreibt, ist Betreiber des deutschsprachigen Telegram-Kanals MZWNEWS. Dieses Netzwerk war laut den Recherchen dabei behilflich, weitere Gruppen für die Offlinevernetzung von Impfgegnern zu bilden - also für Zusammenschlüsse, die sich auch außerhalb von Telegram treffen."
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Kulturpolitik

Jörg Wimalasena sieht die Idee einer Parlamentspoetin (unsere Resümees) in der taz als notdürftige Kaschierung einer neoliberalen Agenda mit wokem Glitterkram: "Die Grünen mit ihrem Hang zu Kitsch würden die unsäglich überhöhten US-amerikanischen Politikinszenierungen sicher besonders gern nach Deutschland holen. Während man gemeinsam mit der FDP die Aktienrente und den 13-Stunden-Arbeitstag durchwinkt, kann ein wenig Groschenromantik bei der Inszenierung sicher nicht schaden."

In etwas poetischer Sprache forderten die Ethnologen H. Glenn Penny und Philipp Schorch neulich in der SZ, dass Menschen aus den Herkunftsgebieten der Objekte ethnologische Museen kuratieren sollen, um so ihr ganz eigenes Wissen darzustellen (unser Resümee). Gar nicht so unähnlich klingt, was ihre Kollegin Brigitta Hauser-Schäublin, die allerdings eine scharfe Kritikerin vieler Restitutionsforderungen ist, heute in der FAZ schreibt. Das Wissen, schreibt sie, ist in den Kolonien oft aufgrund der ihnen angetanen Gewalt verloren gegangen - konserviert wurde es von den Ethnologen: "Der Wesenskern ethnologischer Museen, kulturelle Wissensarchive darzustellen, drückt sich in der Akribie der Beschreibungen, Zeichnungen und Fotografien aus, die viele Ethnologen zur Kolonialzeit von Objekten erstellten. Es ging nicht um ein bloßes Anhäufen von Objekten um der Masse willen, sondern um kulturelle Dokumentationen, materialisierte Momentaufnahmen in einer Zeit radikalen Wandels." Schon deshalb warnt Hauser-Schäublin vor einem "Zerschlagen der Institution ethnologisches Museum".
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Medien

In Amerika gibt es eine immer größere Tendenz zu teuren paywall-getriebenen Online-Medien, die sich an die Eliten wenden - das jüngste Beispiel ist das geplante neue Medium von Ben und Justin Smith (unser Resümee). Sara Fische stellt bei Axios Studien vor, die eine Spaltung des Publikums befürchten und zitiert den Medienforscher Rodney Benson von der NYU: Das neue Modell verweise "alle anderen auf lokale Fernsehnachrichten (die immer noch zu den meistgesehenen News-Kanälen gehören) und die sensationellsten und oft extrem parteiischen Nachrichten, die weiterhin kostenlos im Internet und in den sozialen Medien kursieren." Als einzige Alternative sieht Benson das europäische Modell mit starken öffentlich-rechtlichen Sendern und einer mehr oder weniger ausgedünnten Online-Sphäre.
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