9punkt - Die Debattenrundschau

Gut gesteuerte Aktion

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.11.2021. An der Grenze zwischen Belarus und Polen spitzt sich die  Lage zu. Polen macht laut SZ Moskau für diese Zuspitzung verantwortlich. Die Dirk-Moses-Anhänger fragen nicht, ob der Holocaust singulär ist oder nicht, sondern ob es zeitgemäß ist, darüber zu reden, kritisiert der Historiker Martin Schulze Wessel in der FAZ. Um Wahrheit geht es auch der neuen Universität in Austin, verspricht der Anglist Pano Kanelos im Substack-Blog von Bari Weiss. Bei heise.de fürchtet Julia Reda, dass der "Digital Services Act" der EU zu vorauseilender Zensur führt. Und warum impfen die Spanier so gut, fragt Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.11.2021 finden Sie hier

Europa

In Belarus haben sich an der Grenze zu Polen gut 3000 Menschen versammelt, die in den Westen flüchten wollen. Unterstützt werden sie dabei von belarussischem Militär, berichtet Florian Hassel in der SZ. "Journalist Giczan zeigte, wie bewaffnete belarussische Uniformierte in einem Waldgebiet Migranten an den Zaun zu Polen bringen. Belarussische Einheiten sind auch auf einem Video des polnischen Verteidigungsministeriums bei Kuźnica zu sehen. ... Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki beschuldigte Minsk und Moskau bereits Ende September, gemeinsam zu handeln. 'Wir haben es mit einer massenhaft organisierten, gut gesteuerten Aktion Minsks und Moskaus zu tun', sagte Morawiecki. Niemand glaube, dass der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko allein handele: Er arbeite mit 'großer Entschlossenheit' mit Moskau, um 'Zehntausende' aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa zu transportieren." Die EU hat zur Unterstützung Polens die Entsendung von Einheiten der EU-Grenzschutzeinheit Frontex angeboten, die polnische Regierung lehnte das jedoch ab, sie möchte lieber eine Mauer bauen, was wiederum die EU ablehnt.

In Spanien gibt es kaum Impfgegner. Die Folge: Das Land ist auf dem besten Weg zur Herdenimmunität, berichtet Julia Macher auf Zeit online: "88,7 Prozent der über 12-Jährigen sind vollständig geimpft, 90,4 Prozent haben zumindest eine Dosis erhalten (Stand 5. November). Laut dem medizinischen Fachjournal The Lancet könnte das Land als eines der ersten die Herdenimmunität erreicht haben und die Pandemie hinter sich lassen. Was macht Spanien besser als der Rest der Welt? Diese Frage bekommen die Epidemiologinnen und Epidemologen des Landes in den vergangenen Wochen immer wieder gestellt. Amós García, Präsident der spanischen Gesellschaft für Immunologie, hat darauf eine einfache Antwort: "Wir haben nicht nur ein exzellentes staatliches Gesundheitssystem, das trotz der Kürzungen gut funktioniert, sondern auch eine vorbildliche Impfkultur - ganz ohne Impfpflicht." Ganz anders sieht es in Deutschland aus, hier kommen derzeit täglich 200 Corona-Patienten mehr auf die Intensivstationen, berichtet Hanno Charisius in der SZ.

Eine dreißigjährige Frau in Polen ist an einer Blutvergiftung gestorben, weil Ärzte sich weigerten, ihr nicht lebensfähiges Kind abzutreiben. Die Ärzte haben sich damit an das polnische Abtreibungsgesetz gehalten. Zehntausende demonstrierten laut Tagesspiegel in den letzten Tagen. Bei hpd.de kommentiert Hella Camargo: "Dass unter solchen Bedingungen auch die Angst vor einer Schwangerschaft wächst, ist nur ein weiterer Effekt dieser menschenverachtenden Gesetzgebung. Wer möchte schon schwanger werden, wenn eine heutzutage medizinisch erfolgreich zu behandelnde Komplikation den qualvollen Tod bedeuten kann, weil vermeintlich Lebensschützende in Wahrheit nur ihre absurde Ideologie schützen?"
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Internet

Glaubt man der ehemaligen Europapolitikerin und heutigen Aktivistin und heise.de-Kolumnistin Julia Reda, dann droht beim Digital Services Act, dem Gesetzesvorhaben der EU zur Regulierung von Online-Plattformen, vorauseilende Zensur: "Die Berichterstatterin des Europaparlaments für den Digital Services Act, die Dänin Christel Schaldemose, verlangt von Plattformen eine Sperrung illegaler Inhalte binnen 24 Stunden, sofern die Inhalte eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen. Ab wann genau ein Upload auf sozialen Netzwerken die öffentliche Ordnung bedroht, ist dabei so unklar, dass Plattformen kaum etwas anderes übrig bleiben wird, als Inhalte auf Zuruf nach 24 Stunden zu sperren."
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Ideen

Der Historiker Martin Schulze Wessel bringt in der FAZ eine späte Replik auf Dirk Moses' Verhöhnung des angeblichen "Deutschen Katechismus". Die These von der Singularität des Holocaust, schreibt Schulze Wessel, "ist kein Glaubens- und kein Verfassungssatz, sondern eine historische Einsicht von hoher Komplexität und als solche fragil. Sie einzubüßen würde eine Verarmung unseres historischen Gedächtnisses bedeuten." Schulze Wessel setzt sich dann aber weniger mit Dirk Moses auseinander als mit dem Historiker Sebastian Conrad, der im Merkur geschrieben hat. Ihm wie anderen in der Debatte wirft er vor, die Sache eigentlich wie eine Modefrage zu behandeln  und nicht zu fragen, "ob die These von der Singularität des Holocausts im Lichte unseres wissenschaftlichen Wissens zutreffend ist oder nicht. Zeitgemäß oder nicht zeitgemäß lautet das einzige Kriterium."

In Deutschland glauben viele Menschen immer noch, dass nur eine Gruppe von Bösewichtern für den Holocaust verantwortlich sei, ist die Schriftstellerin Mirna Funk in der NZZ überzeugt. Auch darum, und weil er ständig seine Gestalt verändert, sei der Antisemitismus hierzulande nie verschwunden: "Die Entwicklung des Judenhasses sieht eigentlich so aus: Erst hassten sie die Juden wegen ihrer Religion, dann hassten sie die Juden wegen ihrer Rasse, und jetzt hassen sie alle Juden, die Zionisten sind. ... Als Jude und Jüdin ist das Leben jetzt wie Roulette. Entweder setzt man auf Rot oder auf Schwarz. Guter Jude sein heißt gegen Israel sein. Schlechter Jude sein heißt für Israel sein. Aber anders als beim Glücksspiel kann man beim Woke-Game nur verlieren. Genauso wie die assimilierten Juden in Deutschland 1933."

Die woke Blase bei Twitter blubbert vor Wut (aber man muss sich sicher keine Sorgen machen, dass sie platzt): Bari Weiss und andere gründen eine neue Universität in Austin (hier die Website), die allein der Wahrheit verpflichtet sein soll. Mit dabei sind prominente Autoren und Historiker wie Steven Pinker, Ayaan Hirsi Ali und viele andere. Einen Gründungstext schreibt auf dem Substack-Blog von Weiss der Anglist Pano Kanelos, einst Präsident des  St. John's College. Die Atmosphäre an geisteswissenschaftlichen Instituten in den USA schilder er als erdrückend. Das ganze hat aber auch mit der Lage der Unis in den USA insgesamt zu tun, wo es längst nicht mehr um Wahrheit geht:  "Tatsächlich haben viele Universitäten gar keinen Anreiz mehr, ein Umfeld zu schaffen, in dem intellektueller Dissens geschützt ist und modische Meinungen hinterfragt werden. Die Funktion unserer prestigeträchtigsten Schulen besteht darin, als Polieranstalt für die nationale und globale Elite zu dienen. Hinter den efeubewachsenen Mauern beschäftigen sich diese Studenten mit immer unzugänglicheren Theorien, während die Leute ein paar Straßen weiter mühsem ihren Lebenunterhalt bestreiten müssen. Bei den meisten anderen Einrichtungen geht es schlicht darum, den finanziellen Zusammenbruch zu vermeiden. Sie befinden sich in einem verzweifelten Wettbewerb um eine schwindende Zahl von Studenten, die immer weniger in der Lage sind, die explodierenden Studiengebühren zu bezahlen." Anna Schneider berichtet in der Welt.

Wann darf der Staat die Freiheiten seiner Bürger einschränken? Wenn er nur so die Grundlagen dieser Freiheit sichern kann zum Beispiel, meint in der NZZ der Philosoph Martin Rhonheimer: "Staatlicher Zwang ist immer rechtfertigungsbedürftig, die individuelle Freiheit ist es nicht. Natürlich ist nicht alles, was aus Freiheit getan wird, gut. Deshalb ist auch alles freie Handeln ethisch hinterfragbar und normierbar. Politisch-rechtlich jedoch ist individuelle Freiheit weder begründungsbedürftig noch ethisch zu normieren. Politisch wird sie nur dann (auch ethisch) illegitim, wenn sie die gleiche Freiheit anderer zu beschränken oder gar aufzuheben beginnt. Insofern ist ein liberaler Staat eine rechtlich geordnete Koexistenz gleicher Freiheiten."
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Gesellschaft

Einer der größten Faktoren sozialer Ungerechtigkeit in Deutschland ist das Erben, schreibt der Berliner SPD-Politiker Yannick Haan in der taz und macht einen Vorschlag für die kommende Ampel: "Beim Thema Erben trifft die soziale auf die liberale Idee: Erben ist ein Prinzip, das dem Grundgedanken der SPD - soziale Gerechtigkeit -, aber auch der FDP - individuelle Leistung soll sich lohnen - widerspricht." Und darum, so Haan, "könnten die Parteien ein Gesellschaftserbe einführen. Junge Menschen im Alter von 21 Jahren bekommen 20.000 Euro vom Staat vererbt. Dieses Geld dürfen diese für Ausgaben in Ausbildung, Wohneigentum oder die Gründung eines Unternehmens verwenden. Zur Finanzierung der Maßnahme wird die Steuer auf große Erbschaften und Schenkungen erhöht."

Die Pendlerpauschale muss abgeschafft werden, fordert Gerhard Matzig in der SZ, vorzugsweise, nachdem man den öffentlichen Wohnungsbau wieder in Schwung gebracht und das öffentliche Verkehrssystem verbessert hat. Aber dann gibt's keine Entschuldigung: "Der Verkehrssektor ist der einzige Bereich, der seine Treibhausgas-Emissionen gegenüber 1990 nicht gemindert hat. Das liegt auch daran, dass die räumliche Differenz zwischen Wohnen und Arbeiten seit Jahrzehnten mit den falschen steuerlichen Anreizen ausgestattet wird. Die Eigenheimzulage, die theoretisch auch für die Stadtwohnung gedacht ist (war), aber in der Praxis ein Landphänomen darstellt, gibt sich hier die Hand mit der Pendlerpauschale, die theoretisch auch für den ÖPNV gilt, aber praktisch das Auto bedient."
Archiv: Gesellschaft