9punkt - Die Debattenrundschau

Verrühre und empöre

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2021. Freiheit ist nicht Urlaub und Einkaufen, sondern das, wofür die Belarussen seit Monaten kämpfen, lassen sich die Feuilletons von Herta Müller und Swetlana Alexijewitsch ermahnen. In der SZ warnt Gesine Schwan vor dem Umschlag der Identitätspolitik in die zersetzende Ideologie. In der New York Times fragt Nicholas Kristof, warum die USA Mohamed Bin Salman mit einem Mord davon kommen lassen. In der FAZ prangert der frühere Clinton-Berater Ben Scott die kalte Optimierungslogik von Facebook und Google an. Und ZeitOnline erkennt eine Selbstbestätigungsbias bei Jan Böhmermann.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.02.2021 finden Sie hier

Politik

Am Donnerstag haben sich die beiden Literaturnobelpreisträgerinnen Herta Müller und Swetlana Alexijewitsch zum Gespräch über die Repression in Belarus getroffen. Es ging um Diktaturerfahrung, die Kultur des Schmerzes, oder auch eine politische Poetologie des Heimatbegriffs, wie Paul Jandl in der NZZ berichtet: "'Die Welt weiß nicht, welcher Schrecken in unserem Land herrscht', sagt Swetlana Alexijewitsch, die im Koordinierungsrat der oppositionellen Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja ist, der auf friedlichen Protest setzt. Alexijewitsch erzählt von den Erniedrigungen in den Gefängnissen, wo die Oppositionellen mörderischer Willkür ausgesetzt sind. In ganz Weißrussland regieren Denunziation und Misstrauen. Die stalinistische Maschinerie sei wieder da und der KGB ebenso, seitdem Putin mit Präsident Lukaschenko paktiere. 'Die Menschen haben keinen Millimeter Platz, um an so etwas wie Zukunft zu denken. Sie denken nur ans Überleben', sagt Herta Müller. 'Wenn ich dagegen das hier bei uns höre, dass Freiheit Urlaub und Einkaufen ist, dann macht mich das ziemlich nervös.'" Weitere Berichte in SZ, taz, FAZ und DlfKultur.

Das Maxim-Gorki-Theater hat die Diskussion aufgezeichnet:



Die USA machen öffentlich den suadischen Kronprinz Mohamed Bin Salman für die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi verantwortlich, wollen aber gegen MBS keine Sanktionen verhängen. Was setzt das für ein Zeichen?, fragt Nicholas Kristof in der New York Times. Bitte, tut so was nicht, aber wenn es sein muss, werden wir weiter mit Euch arbeiten? "Berichten zufolge fürchtete Biden, dass Sanktionen gegen MBS die Beziehungen zu Saudi-Arabien vergiften würden. Das ist eine legitime Sorge, und bestimmt ist es oft notwendig, auch mit Herrschern in Verbindung zu bleiben, die Blut an ihren Händen haben. Aber in dieser Gratwanderung zwischen Werten und Interessen besteht das überragende Risiko darin, das MBS, der gerade mal 35 Jahre alt ist, nach dem Tod seines Vater König wird und für viele Jahre rücksichtslos regieren wird, Chaos in der Golfregion schaffen und die saudisch-amerikanischen Beziehungen für Jahrzehnte zerreißen wird."
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Ideen

In der SZ stellt sich die SPD-Politikerin und frühere Universitätspräsidentin Gesine Schwan an die Seite ihres Parteigenossen Wolfgang Thierse, der vor wenigen Tagen in der FAZ (unser Resümee) und mit einem Interview im Deutschlandfunk gegen das Gift der Identitätspolitik opponierte und dafür nun erwartbar heftig angegangen wird. Auch Schwan warnt vor einem Zerfall der Gesellschaft in Kollektive und dem Umschlag der Debatte in die Ideologie: "Macht verleitet zu Arroganz, Missachtung oder einfach zu Gedankenlosigkeit. Mehrheitlich herrschende Gedanken oder Einschätzungen stehen so verständlicherweise unter Ideologieverdacht. Das Problem beginnt dort, wo aus dem Ideologieverdacht apodiktische Zuschreibungen ohne empirische Prüfung entstehen - oder ein genereller Anspruch, andere zu kränken. Man prüft nicht mehr, man weiß es ja immer schon. Genau hier entsteht die Unentrinnbarkeit, vor der Wolfgang Thierse zu Recht warnt. Damit wird jede Verständigung aufgegeben. Hier ist unser aller herausfordernde Aufgabe, die Berechtigung von Ideologiekritik, die auch 'harmlose' Gewohnheiten auf Vorurteile hin prüfen können muss, gegen eine dogmatische Herleitung von 'Urteilen' abzugrenzen, die aus sozialen Zugehörigkeiten deduziert werden. Denn exakt das ist ein umgedrehter Rassismus."

Wie die Debatte inzwischen auch die Redaktionen spaltet, zeigen der Kommentar von Anna Seibt zu Thierses Text im Dlf: "Wenn Wolfgang Thierse und ihm gleichgesinnten Menschen wirklich etwas daran liegt, gesellschaftliche Gräben einzuebnen und ein gesamtgesellschaftliches Wir-Gefühl zu etablieren, dann müssen sie erst einmal in den sauren Apfel beißen und ihre Privilegien und Machtpositionen als solche erkennen, sich geschichtlichen Fakten stellen und sich nicht reflexartig mit längst widerlegten Argumenten zu Opfern der Debatte stilisieren." Und Stephan Detjens Erwiderung darauf: "Wenn ein Kommentar wie gestern auch an dieser Stelle in den expliziten Ausdruck höchstpersönlicher Wut mündet, markiert das den Endpunkt argumentativer Auseinandersetzung; Journalismus wird damit zum identitätspolitischen Bekenntnis."

Die Spaltung gefährdet die demokratische Gesellschaft, meint auch Swantje Karich in der Welt und verteidigt vor allem noch mal FAZ-Redakteurin Sandra Kegel. Sie mag in ihrem Kommentar zur #Actout-Initiative (Unsere Resümees) daneben gelegen und "Gegensätze konstruiert" haben, aber eines ist sie sicher nicht: homophob, hält Karich fest und verteidigt sie gegen den Shitstorm, der übrigens nicht von ActOut initiiert wurde: "Im Netz kursieren mittlerweile Videos, in denen sie in vermeintlich satirischer Form vorgeführt wird, alte Texte ausgegraben werden, sie Diffamierungen ausgesetzt ist. Der Verleger Helge Malchow verglich den Ton in der Debatte mit einem 'stalinistischen Schauprozess'. Seit Beginn der Auseinandersetzung wurde Kegel nun schon als neurechts, rassistisch, homophob, antiemanzipatorisch und zuletzt gar antisemitisch gebrandmarkt. Wer sie und ihre journalistischen Texte aus den vergangenen zwanzig Jahren kennt, weiß, dass diese Etikettierungen absurd sind. Auch wenn sie sexuelle Identität mit sexueller Orientierung verwechselt - als könne sich ein Mensch überlegen, ob er schwul oder hetero sei -, sie ist nicht homophob."

In der taz hat Malte Göbel nur noch Hohn für den alten weißen cis-Mann übrig, vom Kaliber: "Du wirst 'Kartoffel' oder 'Hete' genannt, und das trifft Dich. Dabei magst Du gar keine Kartoffeln."
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Medien

Auf Zeitonline adressiert Jochen Bittner einen Brief an Moderator und Twitterkönig Jan Böhmermann und wirft ihm vor, sich vom Selbstironiker in einen Diskurspolizisten gewandelt zu haben, der mit nur noch wenig Skrupeln gegen Störer seines Weltbildes losprügele: "'Verrühre und empöre' - dieses Geschäft betreibt, wie Sie nur zu genau wissen, Recep Tayyip Erdoğan, wenn er Regierungskritiker Terroristen nennt, oder auch die AfD, wenn sie Muslime und Islamisten gleichsetzt. Umso mehr frage ich mich, warum Sie diese Methode, auf links gedreht, kopieren. Vielleicht liegt an einem Selbstbestätigungsbias? Zwei Millionen Follower, von denen Hunderte zuverlässig alles bejubeln, was Sie schreiben, gepaart mit den Tausenden, die Sie geblockt haben, und mit all jenen, die Angst haben, von Ihnen an den Pranger gestellt zu werden, falls sie Ihnen widersprechen, beeinträchtigen womöglich Ihre Fähigkeit zur Selbstprüfung."
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Stichwörter: Böhmermann, Jan, AfD

Internet

Ein bisschen verzweifelt klingt, wie Ben Scott, früher Berater von Hillary Clinton, im Kampf gegen den Datenkapitalismus von Facebook und Google auf Deutschland setzt. Polarisierung und Manipulation, schreibt Scott in der FAZ, seine bei den Tech-Firmen keine Systemfehler, sondern Geschäftsmodell: "Die kalte Optimierungslogik, nach der die Plattformen Inhalte verbreiten und den öffentlichen Raum umgestalten, ist zur Bedrohung für die Vielfalt, für Menschenwürde und die Gesundheit geworden. Dass in Deutschland jetzt Millionen Impfdosen ungenutzt bleiben, liegt teilweise daran, dass Plattformen wie Facebook Verschwörungstheoretikern nicht nur eine Bühne geben, sondern Halbwahrheiten und Pseudowissenschaft systematisch verbreiten und zu Geld machen. Allein im Januar hat das Forscherteam des Institute for Strategic Dialogue über 90.000 deutschsprachige Beiträge auf Facebook, Telegram, Twitter und Instagram gefunden, die Desinformation über die Covid-Impfung enthielten - wegen der automatisierten Verbreitung auf den Plattformen erreichen diese Inhalte jeden Tag Millionen Deutsche."
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Gesellschaft

Etwas selbstgefällig, aber irgendwie "erfrischend" verkehrt findet Sonja Zekri in der SZ, dass die beiden KünstlerInnen Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah auf Instagram den familiären Nazi-Hintergrund von Kulturbetriebsgrößen ins Visier nehmen. Auch wenn es Zekri ein bisschen leid tut, dass dies auch die Inhaberin eines queerfeministischen Buchladens in Neukölln traf. Immerhin zeigt die sich reumütig: Es fallen Worte wie 'Whitewashing' durch queere Themen und die Frage, wie jemand 'mit so einem Namen so einen Laden eröffnen'  könne. Ja, wie? Emilia von Senger sieht ein bisschen mitgenommen aus, aber das kann an der gleißenden Februarsonne liegen. Vor ihrem Laden am Kottbusser Damm hat sich eine kleine Warteschlange gebildet. Senger hat auf die Vorhaltungen mit Selbstkritik reagiert. 'Einen queerfeministischen Buchladen zu eröffnen und gleichzeitig nicht über seine Nazi-Familiengeschichte zu sprechen, geht nicht', schrieb sie auf Instagram."

Betrübt spazieren die FAZ-Autoren Kevin Hanschke und Simon Strauß über die Berliner Kantstraße, deren struppiges Ende besonders hart von den Schließungen betroffen ist: "So leergefegt dieser Straßenblock, so pseudolebendig der nächste. Vor einem neu eröffneten Donut-Stand hat sich eine Schlange aus circa dreißig Menschen gebildet, die sich bis an die Kreuzung hinzieht. Ein älterer Mann mit Hut, der an den stoisch Wartenden vorbeitrottet, bemerkt sarkastisch: 'In der Krise braucht der Mensch Süßigkeiten.' Aber auch die Confiserien an der Kantstraße verschwinden allmählich. Mit 'Madame Chocolat' hat einer der traditionsreichsten Süßwarenhändler schließen müssen.
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Geschichte

In der Welt macht Thomas Schmid Vertretern postkolonialer Theorien wie dem Historiker Michael Rothberg ("Multidirektionale Erinnerung") zum Vorwurf, dass sie die Einzigartigkeit des Holocaust in Frage stellen. Er sieht dabei vor allem Opferneid am Werk und betont die Unterschiede: "Es gab große Kolonialverbrechen mit genozidalem Charakter. Dennoch war der Holocaust einzigartig. Im britischen, französischen, belgischen und deutschen Kolonialismus ging es darum, andere Völker zu unterdrücken, auszubeuten. Darum, Profit aus den Kolonien zu erzielen und deren Bevölkerung gefügig zu machen. Doch war der Kolonialismus nicht immer nur Repression, es kam vor, dass die Kolonisierten - wie im Falle der Briten - als Bürger des Empire anerkannt wurden. Wenn alles nichts half, folgte - wie bei den Herero und Nama, wie beim 'Boxeraufstand' 1900 - als Ultima Ratio der Massenmord. Das war beim Holocaust anders. Die Juden sollten nicht unterdrückt oder ausgebeutet werden, ihre Vernichtung war nicht Ultima Ratio, sondern alleiniger Zweck."
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